„Viele der Fragen, wo angeblich so wenig läuft, werden sich auflösen“

„Viele der Fragen, wo angeblich so wenig läuft, werden sich auflösen“
  • VeröffentlichtJanuar 21, 2025
Nils Schmid au Bundestag, 27.09.2024
Nils Schmid im Bundestag, 27.09.2024 (Copyright: Imago)

Zum Deutsch-Französischen Tag haben wir mit Nils Schmid über die Bilanz der Ampelkoalition in der Europapolitik, den Führungsanspruch des Bundeskanzlers und die Kooperation mit Frankreich gesprochen.

 

dokdoc: Herr Schmid, Sie sind Mitglied der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung und seit Februar 2022 deren Co-Vorsitzender. Was verbindet Sie persönlich mit Frankreich?

 

Nils Schmid: Eine lange Liebesgeschichte. Ich bin seit meiner Jugend sehr eng mit Frankreich verbunden. Französisch war meine erste Fremdsprache, mit Frankreich hatte ich meinen ersten Schüleraustausch, meine ersten internationalen Freundschaften. Ich habe mich immer für die französische Kultur, das Land und seine Leute interessiert.

 

dokdoc: Die Ampel ist Geschichte, Zeit, Bilanz zu ziehen. Wie blicken Sie auf die Europapolitik der Ampelkoalition bzw. von Bundeskanzler Scholz?

 

Schmid: Ich bin sehr zufrieden. Wir haben in der Migrationsfrage mit dem gemeinsamen europäischen Asylsystem einen Durchbruch erzielt, sind in der Industriepolitik und bei den deutsch-französischen Rüstungsvorhaben weiter vorangeschritten. Wir haben aber auch eine gemeinsame Reaktion auf der Ebene der Sanktionspolitik gegen Russland organisiert, und die EU-Budgetregeln vorsichtig reformiert und flexibilisiert. In der Außenpolitik haben wir gesehen, dass Deutschland und Frankreich abgestimmt eine gute Rolle spielen können, z.B. in Bezug auf Äthiopien oder Syrien. Der Ampel ist es schließlich gelungen, den Prozess der EU-Erweiterung auf dem westlichen Balkan wieder in Gang bringen, durch die persönliche Initiative von Olaf Scholz.

 

Bundeskanzler Scholz im europäischen Parlament, 9. Mai 2023
Bundeskanzler Scholz im europäischen Parlament, 9. Mai 2023 (Copyright: European Union 2023 – Source : EP)

 

dokdoc: Führen bedeutet „zusammen mit anderen Lösungen erarbeiten und auf Alleingänge verzichten“, schrieb Olaf Scholz 2022 in einem Beitrag für die FAZ. Doch wer heute mit Journalisten in Brüssel spricht, dem wird erzählt; Olaf Scholz habe von seinem ersten Gipfeltreffen an, wenn ihm etwas nicht gefiel, einfach die Arme verschränkt und abgeblockt. Kann man mit verschränkten Armen einem solchen Anspruch gerecht werden bzw. gute Politik machen?

 

Schmid: Führung ist nicht eine gute Rede oder mit der Faust auf den Tisch hauen. Im politischen Mehrebenensystem der Bundesrepublik oder im komplexen Geflecht der EU muss man überzeugen und, wenn nötig, Vetospieler zur Neutralität bringen. Das hat Olaf Scholz im Falle von Orban geschafft. Deutsche Kanzler haben an der Stelle einen großen Erfahrungs- und Kompetenzvorsprung, weil sie es gewohnt sind, in Koalitionen zu regieren. Der Europäische Rat, der Ministerrat und die europäischen Institutionen sind, wenn man so will, ähnlich wie in Deutschland, eine Art Große Koalition, wo man viele Parteien oder Gruppen einbinden muss, um überhaupt zu Mehrheiten zu kommen. Und da braucht man Verhandlungsgeschick – genau das hat Olaf Scholz in den letzten Jahren einbringen können.

 

dokdoc: Die Beziehungen zu zentralen Partnern in Europa sind auf dem Tiefpunkt, heißt in einem vor kurzem erschienen Beitrag von Christian Mölling und Claudia Major: Mit Frankreich herrscht ungekannte Sprachlosigkeit, zumindest auf höchster politischer Ebene. Die Chance eines Neuanfangs mit Polen wurde vergeben. In vielen kleineren Formaten, wie den nordisch-baltischen Treffen, wurde Deutschland gar nicht mehr eingeladen. Ist Deutschland isoliert?

 

Schmid: Nein. Man sollte auch nicht irgendwie abzählen, wer wo mit wem redet. Man könnte sich auch fragen, warum Polen bei der Einweihung von Notre-Dame nicht vertreten war. Die Verbindung zu Warschau ist deutlich besser geworden. Tatsache ist aber auch, dass wir eine Mitte-Rechts-Regierung in Polen haben, die auf nationale Befindlichkeiten Rücksicht nehmen muss, insbesondere bei der Reparationsfrage. Tatsache ist auch, dass die polnische Regierung eine schwierige Präsidentschaftswahl vor sich hat und dass zu viel Nähe zu Deutschland nicht unbedingt hilfreich wäre, jedenfalls in der Einschätzung mancher dort. Wir werden noch ein paar Fragen, die auch mit der Geschichte zusammenhängen, besser angehen müssen. Da gibt es Vorstellungen von Polen, die unter der Tusk-Regierung deutlich realistischer als vorher sind. Wir müssen jetzt eben mit der neuen Bundesregierung das aufgreifen.

 

dokdoc: Und was Frankreich angeht?

 

Schmid: Wir haben in Frankreich einen stark geschwächten Präsidenten, der auf absehbare Zeit keine Mehrheit im Parlament haben wird. Hinzu kommen große wirtschaftliche und Haushaltsprobleme. Das schränkt die Spielräume ein. Es gibt ein weiteres Element, welches aus meiner Sicht bei der aktuellen Zustandsbeschreibung völlig ausgeblendet wird: Wir hatten seit den Wahlen zum Europaparlament totalen Stillstand auf EU-Ebene. Man wird jetzt sehen: Wenn die EU wieder anfängt zu arbeiten, werden viele der Fragen, wo angeblich so wenig läuft, sich auflösen.

 

dokdoc: Im Wahlprogramm der SPD steht: „Wir werden unsere traditionellen Allianzen und Kooperationen vertiefen. Für uns bleiben die Beziehungen zu Frankreich zentral. Sie bilden den Kern des europäischen Einigungsprozesses.“ Was würde eine Wiederwahl Scholz für die deutsch-französischen Beziehungen bedeuten?

 

Schmid: Stabilität. Scholz und Macron kommen beide aus der Finanz- und Wirtschaftspolitik und beide machen sich Sorgen um die Leistungsfähigkeit der deutschen oder französischen Volkswirtschaft. Das Thema wird sie weiterhin beschäftigen. Dass Macron und Scholz an der Stelle die jeweiligen nationalen Interessen manchmal stark vertreten, das ist ein ganz natürlicher Interessengegensatz, der nicht als Problem der Zusammenarbeit verstanden werden sollte. Ein weiterer Punkt scheint mir von großer Bedeutung: Der Bundeskanzler wird das Thema der Handelsabkommen der EU weiter voranbringen wollen und darauf drängen, dass wir die Kompetenzen der EU bei Handelsfragen entschieden nutzen. Ein Bundeskanzler Scholz wird sich zudem für eine Ausweitung der diplomatischen und politischen Kontakte in den globalen Süden einsetzen. Wir werden nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa lernen müssen, dass internationale Beziehungen eben nicht auf den Austausch zwischen Amerikanern und Europäern beschränkt werden dürfen. Die Welt hat sich verändert.

 

dokdoc: Stichwort MERCOSUR. Auf der Botschafterkonferenz in Paris hat Emmanuel Macron deutlich gemacht, dass das Thema noch nicht abgehackt sei. Könnte MERCOSUR zum Zankapfel zwischen Deutschland und Frankreich werden?

 

Schmid: Ich bin verwundert, wie die französische Regierung sich da festgelegt hat. Es gab Bemühungen der EU-Kommission über Kompensationszahlungen und Nachverhandlungen. Aber da hat sich Frankreich völlig gesträubt und somit ein Stück weit isoliert. Und das ist nicht gut und ein totaler Widerspruch zu dem Diskurs, der aus Paris zu Europas Rolle in der Welt kommt.

 

Ursula von der Leyen beim Abschluss des MERCOSUR-Abkommens, Montevideo, 5. Dezember 2024
Ursula von der Leyen beim Abschluss des MERCOSUR-Abkommens, Montevideo, 5. Dezember 2024 (Copyright: Wikimedia Commons)

 

dokdoc: Im Krieg gegen die Ukraine verfolgt Bundeskanzler Scholz einen Kurs, der bei vielen, nicht zuletzt in Ost- und Nordeuropa, auf großes Unverständnis stößt. Werden Waffenlieferungen alleine ausreichen, um Putin an den Verhandlungstisch zu bringen?

 

Schmid: Bevor Scholz die Regierung übernommen hat, gab es im NATO-Kreis einen Konsens: Die NATO beteiligt sich nicht direkt am Krieg, unterstützt aber die Ukraine mit Waffenlieferungen. So wolle man die Ukraine in die Lage versetzen, militärisch so stark zu sein, dass Putin zu Verhandlungen gezwungen wird. Wir haben aufgeregte Debatten in den letzten drei Jahren über einzelne Waffentypen gehabt. Das wurde auch hochgespielt. Tatsache ist aber, dass von Amerika bis zu den Balten und den Polen wir uns einig sind, dass die Ukraine diesen Konflikt nicht rein militärisch gewinnen wird. Sie wird nicht jeden Quadratkilometer besetzten Territoriums mit militärischen Mitteln allein zurückgewinnen können, sondern es wird darum gehen, mit einer Mischung aus militärischem Druck bzw. Gegendruck und diplomatischen Mitteln ihre territoriale Souveränität wiederherzustellen. Deutschland ist zusammen mit Großbritannien sowie den ost- und mitteleuropäischen Staaten das Land, in welchem die Unterstützung für die Ukraine am stabilsten ist. In Frankreich wissen wir nicht, wie die nächste Regierung entscheiden wird. Bei uns ist egal, welche Regierung an die Macht kommt: Die Ukraine-Politik wird im Kern die gleiche bleiben.

 

Besuch von Olaf Scholz in der Ukraine, Kyjiw, 2. Dezember 2024
Besuch von Olaf Scholz in der Ukraine, Kyjiw, 2. Dezember 2024 (Copyright: Wikimedia Commons)

 

dokdoc: Und wenn Donald Trump der Ukraine die US-Waffenhilfe entzieht und sie zum Waffenstillstand mit Russland zwingt?

 

Schmid: Es muss der Grundsatz gelten: Nichts über die Ukraine ohne die Ukraine und nichts über europäische Sicherheit ohne Beteiligung der Europäer. Dazu gehört, dass wir mit Trump reden. Wichtig ist aber auch, dass wir eigenständig mit Putin im Gespräch bleiben. Da müssen wir eine eigenständige Rolle einnehmen. Man wird sehen, ob es in diesem Jahr zu Gesprächen kommt oder nicht. Im Moment sieht es nicht danach aus, weil Putin immer noch glaubt, dass er militärisch gewinnen kann. Solange er das glaubt, wird der Krieg weitergehen. Dass alle irgendwie Frieden wollen, ist ja auch klar. Aber Frieden wird nicht durch große Worte oder irgendwelche Beschwörungen erreicht, sondern nur dadurch, dass die Ukraine unterstützt wird.

 

dokdoc: Sie haben neulich Macron für seine Entscheidung kritisiert, die Assemblée nationale aufzulösen: Sie habe die französische Politik in eine Sackgasse geführt. Wie blicken Sie nun auf Frankreich und was wünschen Sie sich?

 

Schmid: Die französische Innenpolitik ist in der Sackgasse. Wir haben eine kaum handlungsfähige Regierung und ich mache mir keine große Hoffnung, dass das sich vor den nächsten Präsidentschaftswahlen ändert. Für uns ist das eine schwierige Situation. Dass wir in Frankreich faktisch eine Mitte-Rechts-Regierung haben, die von den Rechtsextremen toleriert wird, das ist im europäischen Kontext ein schwieriges Signal.

 

dokdoc: …und für die deutsch-französischen Beziehungen?

 

Schmid: In Deutschland haben wir zwar auch eine ungewöhnliche Situation, aber unsere Partner können sich darauf verlassen, dass nach der Wahl Klarheit herrscht und wir eine stabile Regierung haben, mit der man dann auch rechnen und arbeiten kann. In Frankreich wird auf absehbarer Zeit, wahrscheinlich bis zur Präsidentschaftswahl, die Situation wackelig bleiben. Das wird die Abstimmung nicht unbedingt einfacher machen.

 

dokdoc: Herr Schmid, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

 

Die Fragen stellte Landry Charrier

 

Unser Gast

Nils Schmid ist seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 2018 außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Zudem ist er seit 2019 Mitglied der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung – seit 2020 als Mitglied des Vorstands und seit 2022 als deutscher Co-Vorsitzende des Vorstands.
Bereits 1997 wurde Nils Schmid erstmals Abgeordneter im Landtag von Baden-Württemberg, 2009 bis 2016 war er Landesvorsitzender der SPD Baden-Württemberg. 2011 bis 2016 war er Minister für Finanzen und Wirtschaft des Landes Baden-Württemberg sowie stellvertretender Ministerpräsident.

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