Vichy: Wie entrinnt die Stadt dem Dilemma der Erinnerung?

Vichy: Wie entrinnt die Stadt dem Dilemma der Erinnerung?
  • VeröffentlichtMärz 12, 2025
Einweihung des Denkmals zu Ehren der Widerstandskämpfer des Zweiten Weltkriegs, Vichy, 26. August 2024 (Copyright: Ville de Vichy) / Inauguration du nouveau monument à la Résistance.
Einweihung des Denkmals zu Ehren der Widerstandskämpfer des Zweiten Weltkriegs, Vichy, 26. August 2024 (Copyright: Ville de Vichy)

Vichy benannte 2024 sechs Straßen nach örtlichen Widerstandskämpfern um. Diese Geste steht stellvertretend für eine wichtige Entwicklung in der Strategie der Stadtverwaltung von Vichy im Umgang mit der lokalen Erinnerung an die Jahre 1940-1944.

 

Seit 1944 sah sich Vichy mit der belastenden Erinnerung an die vierjährige Regierungszeit des mit den Nazis kollaborierenden Marschalls Pétain konfrontiert, setzte sich indes nicht aktiv damit auseinander. Nach der Befreiung haftete der Stadt das Odium eines autoritären Regimes mit seiner Politik der Ausgrenzung und Unterdrückung an. Der Name Vichy wurde zu einer Metonymie für die „dunklen Jahre“. Und so begegneten sowohl die Einwohner als auch die Stadtverordneten dieser Reputation mit zwei aufeinanderfolgenden Strategien. Von 1944 bis 1949versuchte man, die Stadt von jeglicher Mitschuld freizusprechen. Dazu wurden die Heldentaten der örtlichen Widerstandskämpfer hervorgehoben, die mit Gedenktafeln und patriotischen Zeremonien geehrt wurden. Dieses Bemühen koinzidierte mit der seinerzeitigen nationalen Erinnerungskultur, die vor allem den Heldenmut der Widerstandskämpfer verherrlichte. Der aus der Befreiung hervorgegangene Stadtrat ging sogar so weit, im November 1944 eine offizielle Proklamation mit dem Titel „Vichy ist keine Stadt der Verräter; Vichy ist die Königin der Wasserstädte“ zu verbreiten.

 

Diese Strategie trat in den 1950er Jahren in den Hintergrund; ab da war man entschlossen, die Schande der „dunklen Jahre“ unter dem Mantel Noahs dem Vergessen preiszugeben. Eine nach der anderen bemühten sich die Stadtverwaltungen, der Stadt neuen Schwung zu verleihen. Die fast schon vergessenen Thermalbäder wurden wieder in Betrieb genommen, und mit neuen Sport- und Gesundheitsangeboten sollte Vichy wieder ein jugendliches Image erlangen. Damit, so hofften sie, ließe sich ein Schlussstrich unter die jüngere und noch immer schmerzhafte Vergangenheit ziehen. Infolgedessen gab es jahrzehntelang keine Erinnerungskultur in Bezug auf die Jahre der Besatzung und der Regierung Pétains. Die Gedenkveranstaltungen wurden immer seltener, und Museumsprojekte, die sich mit jener Zeit befassen wollten, wurden abgelehnt. Gegen jegliche Verwendung des Adjektivs „vichyistisch“ wurde Sturm gelaufen; Vichy sollte nicht länger als pars pro toto für die 1940er Jahre in Frankreich stehen.

Das erste Kabinett der Regierung Pétain in Vichy, 1940 (Copyright: Wikimedia Commons) / Le premier gouvernement du Régime de Vichy, 1940
Das erste Kabinett der Regierung Pétain in Vichy, 1940 (Copyright: Wikimedia Commons)

Schnell entwickelte sich eine deutliche Diskrepanz zwischen dem Verschweigen der örtlichen Erinnerungskultur und der Entwicklung des nationalen Gedenkens. Denn ab den 1970er und 1980er Jahren entstanden dank der neueren Geschichtsschreibung mit, unter anderem, den 1973 veröffentlichten Arbeiten von Robert Paxton viele neue Gedenkstätten und Museen. Dieses neue Bewusstsein gipfelte in der Rede Jacques Chiracs, der 1995 im Vel d’Hiv die Verantwortung der Franzosen für das von ihnen begangene „irreparable Unheil“ anerkannte. Vichy galt dann bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts als die Stadt des „Nicht-Gedenkens“, als das „Atlantis der Erinnerung“, wie Marc Lambron es ausdrückte.

 

Eine aktivere Erinnerungskultur

 

 Seit den 2010er Jahren zeichnen sich immer deutlichere Veränderungen ab. Die zeitliche Distanz, der Generationenwechsel, demographische Veränderungen und die zunehmende Diskrepanz mit der Entwicklung in ganz Frankreich lassen eine wachsende Nachfrage nach Aufklärung entstehen. Dies gilt sowohl für die Bewohner der Stadt Vichy als auch für Besucher von außerhalb, die sich über die eklatante Abwesenheit jedweglicher Spuren des vier Jahre währenden Pétain-Regimes nur wundern können. Diese wachsende soziale Nachfrage findet mehrfach Ausdruck: Das städtische Fremdenverkehrsamt richtet einen Parcours des Gedenkens ein, das Buch der Lokalhistorikerin Audrey Mallet Vichy contre Vichy (Belin, 2019) wird ein großer Erfolg, und 2016 wird das Zentrum für internationale Studien und Forschungen von Vichy (CIERV : Centre International d’Etudes et de Recherches de Vichy) gegründet. Es soll Konferenzen und Zusammenkünfte von Historikern organisieren. Schon bei seiner ersten Veranstaltung gelang es, mehr als 300 Zuhörer zusammenzubringen; bisher fanden mehr als siebzig Veranstaltungen statt, die ein großes Publikum erreichten.

 

Folge oder Begleiterscheinung? 2017 bringt den Wandel im Rathaus von Vichy: Der neue Bürgermeister, Frédéric Aguilera, Vertreter der jüngeren Generation, ermöglicht seither deutliche Veränderungen. Ab 2019 wird im Rahmen der UNESCO-Bewerbung eine Ausstellung über die Geschichte der Stadt organisiert, die zum ersten Mal einen Abschnitt über die 1940er Jahre enthält. Plätze, Esplanaden und Straßen werden umbenannt und tragen nun die Namen von Widerstandskämpfern oder Opfern des Holocaust. An einigen Regierungsgebäuden des Regimes von 1940 bis 1944 werden (allerdings recht diskrete) Gedenktafeln angebracht.

Straßenschild in Erinnerung an Hélène und Gaston Regnier (Copyright: Wikimedia Commons) / Plaque de l'allée Hélène et Gaston Regnier à Vichy (Copyright: Wikimedia Commons)
Straßenschild in Erinnerung an Hélène und Gaston Regnier (Copyright: Wikimedia Commons) 

Sie sind mit einem QR-Code versehen, der den Besuchern Hintergrundinformationen liefert. Ab 2022 wird in Verbindung mit der Gedenkstätte Mémorial de la Shoah jedes Jahr eine Woche der Erinnerung an den Holocaust und die Völkermorde veranstaltet. Schließlich soll ein Museum für Stadtgeschichte speziell für die 1940er gebaut werden. Ursprünglich war dessen Fertigstellung für 2026 geplant. Nun wurde sie aber auf 2030 verschoben.

 

Eine gewisse Entspannung

 

Das lange Zeit unter bleiernem Schweigen gehaltene Thema wird nun von der Stadtverwaltung und örtlichen Initiativen angegangen und friedlich in die lokale Erinnerung gehoben. Das heißt aber nun keinesfalls, dass das Gedenken unstrittig wäre. Zwar ist die Erinnerung an Pétain mittlerweile nur noch schwach ausgeprägt (der Verein zur Verteidigung seines Andenkens, dem die Wohnung im Hôtel du Parc gehört, ist nur noch eingeschränkt aktiv), doch viele Einwohner hegen noch Vorbehalte gegen die Erinnerung an diese Zeit. Das Museumsprojekt kommt nur langsam voran. Sein übergreifendes Thema ist die gesamte Geschichte der Stadt seit ihren Anfängen; dennoch fehlt ihm noch die intellektuelle Klammer, mit der man sich auf die Einordnung der 1940er Jahre einigen könnte. Und auch terminologische Fragen sind noch ungeklärt: Die Verwendung des Begriffs „Vichy-Regime“ durch Presse, Politiker und Historiker wird von den Stadtverordneten und vielen Einwohnern immer noch als stigmatisierend empfunden. Obschon sich die Stadtverwaltung schon sehr stark bewegt hat, reagiert sie doch dünnhäutig auf solche aus ihrer Sicht missbräuchlichen Konnotationen; denn sie dienten ihrer Ansicht nach dazu, die ganze historische Schuld auf die Stadt Vichy abzuwälzen, wo die Verantwortung doch der ganzen Nation obliege. Diese Haltung verwundert allerdings angesichts der zahlreichen öffentlichen Erklärungen, Reuebekundungen, Museen und Ausstellungen der französischen Nation, zu denen auch die Veranstaltungen mit dem Mémorial de la Shoah gehören, mit dem Vichy eine Partnerschaft unterhält Viele der nun anstehenden Themen sind noch nicht ausreichend bekannt; die gründliche Aufarbeitung zum Beispiel des Widerstands in Vichy, der Rolle der Stadtverwaltung in den Jahren von 1940 bis 1944 sowie der Haltung der Bevölkerung und der sozialen Gruppen gegenüber dem Regime Pétains könnte einen Reflexionsprozess befördern, der schon zwar begonnen hat, nun aber vertieft werden muss. Das sollte möglichst unverkrampft geschehen, ohne immer wieder in die Opferrolle zurückzufallen oder auf bestimmten politischen An- und Absichten zu bestehen; denn nur so kann Vichy zuversichtlich in die eigene Zukunft schauen und sich zugleich seiner Vergangenheit stellen.

 

Übersetzung: Norbert Heikamp

 

Der Autor

 

Michel Promérat (Copyright: privat)
Michel Promérat (Copyright: privat)

Michel Promérat ist ehemaliger Geschichtslehrer (agrégé). Er unterrichtete an Collèges, Lycées und Vorbereitungsklassen, bevor er als Inspecteur Pédagogique Régional tätig war. Er ist derzeit Vorsitzender des Centre International d’Études et de Recherches de Vichy (CIERV), einer 2016 gegründeten Vereinigung, die sich auf lokaler Ebene für eine bessere Berücksichtigung der Besatzungsjahre in der Stadt einsetzt.

 

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