Erinnerung an den Holocaust:
Überliefern


Nachdem sie im vergangenen Januar in der Assemblée nationale gezeigt wurde, macht die Ausstellung von Karine Sicard Bouvatier „Deportiert, ich war in Deinem Alter: eine europäische Geschichte“ nun Station in München. Die Fotografin erläutert, was sie antreibt.
2025 wird der Befreiung der Konzentrationslager vor 80 Jahren gedacht. Die letzten Zeugen der Deportation verlassen uns. Die Dringlichkeit der Überlieferung ist größer denn je. Wenn ich auch persönlich nicht betroffen bin, war es mir stets ein Herzensanliegen, dieses dunkle Kapitel der Menschheitsgeschichte zu dokumentieren.
Jeder in der eigenen Sprache
Ich habe in einem Buch, das im Juni 2025 erscheinen wird, und in der Wanderausstellung „Deportiert, ich war in Deinem Alter: eine europäische Geschichte“, die derzeit in München zu sehen ist, 33 Porträts von Überlebenden mit Jugendlichen zusammengestellt, die heute so alt sind wie die Überlebenden zum Zeitpunkt ihrer Verschleppung. Nach meinem ersten Projekt „Deportés, leur ultime transmission“, das 25 Porträts von französischen Überlebenden neben Jugendlichen zeigte, wollte ich dieses neue Projekt auf die europäische Ebene heben.

Die Überlebenden und Jugendlichen stammen aus 15 europäischen Ländern (Frankreich, Deutschland, Österreich, Ungarn, Belgien, Rumänien, Italien, Griechenland, Slowenien, Kroatien, Slowakei, Tschechische Republik, Polen, Ukraine und den Niederlanden). Sie sind nicht miteinander verwandt. Die Jugendlichen haben unterschiedliche Religionen oder Hautfarben, und doch wirken sie manchmal wie eine Familie. Sind wir nicht im Grunde genommen eine einzige große Familie? Trotz unserer unterschiedlichen Kulturen, unserer vielen Sprachen, der durch den Krieg veränderten Grenzen oder der unterschiedlichen Geschichte unserer Länder nach dem Zweiten Weltkrieg hat mich jeder Überlebende, jedes Gesicht, jeder Blick, jede Geste, jedes Wort erschüttert; denn trotz der Einzigartigkeit ihrer jeweiligen Geschichte haben sie viel gemeinsam: das Leid der Deportation, den Schmerz über den Tod eines Bruders oder einer Schwester, eines Elternteils.
Sie waren zwischen 6 und 21 Jahre alt, als sie deportiert wurden. Jeder erzählt in seiner Sprache von denselben Ängsten, der Selektion, der Angst, der Kälte, dem Hunger, den Schlägen. Sie wurden aus der Blüte ihrer Jugend gerissen, sie hatten eine Familie und ihr Leben noch vor sich. Sie begegneten sich in denselben Lagern, legten viele Kilometer gemeinsam zurück und sind heute noch so alt wie ihr Trauma. Bei der Rückkehr blieben ihre Erzählungen unsäglich: ein Leiden, das niemand hören wollte, das gleiche Schweigen, das fehlende Zuhören. So schwiegen sie lange Zeit, bevor sie es wagten, das Wort zu ergreifen. Wie mein Freund, der Pastor James Woody, über seinen deportierten Urgroßvater sagen würde: „Er hatte die Erfahrung gemacht, was wesentlich ist. Sein Leben war nun frei von Oberflächlichkeiten. Erst spät verstand ich, woher diese sanfte Kraft kam, die von seinem ganzen Wesen ausging“. Genauso fühlte ich mich, als ich sie traf. Keiner der Überlebenden trug und trägt Hass in sich, stattdessen sind sie Träger von Friedensbotschaften.
Sie waren so alt wie wir
Überliefern bedeutet über-liefern, heißt über etwas hinausgehen. Deshalb wollte ich Jugendliche mit einbeziehen, damit sie sich als „Akteure“ bei der Überlieferung dieser Erinnerungen fühlen und sie später mit anderen teilen. Sie sollten sich sagen: „Er war in meinem Alter, ich hätte einer von ihnen sein können, das könnte ich heute sein.“ Und vielleicht werden sie eines Tages, genau wie ich, zu Mittlern dieses Gedenkens. Vielleicht ist das die wahre Überlieferung? Die Fotos mit ihren jeweiligen Paaren halten einen Moment fest, den sie verewigen: dieses aufmerksame Zuhören der Jugendlichen, die ihrerseits werden sagen können: Ich bin Zeuge dessen, der gesehen, der gelebt hat.

Das Projekt erzählt von der Verantwortung der Nationalsozialisten, aber auch anderer Nationalisten in Ungarn, Rumänien oder Italien und nicht zuletzt der französischen Kollaboration. Es erzählt von der Verschleppung nach Auschwitz, Bergen-Belsen, Dachau, Buchenwald, Mauthausen-Gusen und zu vielen anderen Orten. Es geht hauptsächlich um die Deportation der europäischen Juden, aber auch um verschleppte Widerstandskämpfer oder Gegner des Dritten Reichs; dabei darf nicht vergessen werden, dass die Juden eo ipso als schuldig galten, letztere indes aufgrund ihres politischen Engagements. Und wir dürfen die anderen Opfer nicht vergessen, wie Sinti und Roma, Homosexuelle und Behinderte, von denen ich leider weder Porträts noch Zeugenaussagen sammeln konnte.
Die Jugendlichen sind für künftige Generationen Zeugen des Unsagbaren, aber auch Zeugen einer Selbstverpflichtung gleich einem Versprechen, das sie den Überlebenden geben. Das Versprechen, sich selbst und ihre Kinder an diejenigen zu erinnern, die nicht zurückgekehrt sind, das Versprechen, als engagierte Bürger zu handeln, das Versprechen, immer für Freiheit, gegenseitigen Respekt und Menschenwürde zu kämpfen.
Botschafter der Erinnerung
Wir haben heute eine kollektive Verantwortung für die Trauer um diejenigen, die nach der Deportation nicht zurückgekehrt sind, so wie auch für die Trauer um andere Völkermorde wie in Ruanda und Armenien. Heute sind wir es, die all diese Erinnerungen in Taten umzuwandeln haben, um jede Form von Extremismus gegenüber denjenigen zu bekämpfen, die aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Hautfarbe anders sind. Es obliegt uns, jetzt zu handeln, den Widerstand zu wagen und uns zu trauen, das Wort zu ergreifen. Mit anderen Worten: Botschafter des Gedenkens zu sein.

Europa wurde im Schmerz der Nachkriegszeit wiederaufgebaut. Und Europa steht heute für unsere Einheit. In diesem Europa gilt es, weiter für die Freiheit zu kämpfen – wir sehen, wie aktuell das heute wieder ist. Unsere Erinnerungskultur und unser Kampf für die Freiheit stehen unter dem Zeichen der Hoffnung und des Engagements. Über die Überlieferung des Gedenkens hinaus geht es darum, die Brüderlichkeit unseres Europas in dem von uns allen geteilten Leid zu verkörpern – mit all unseren Unterschieden, die unseren größten Reichtum ausmachen, eins zu werden. Die Zeitzeugen geben das Erlebte weiter, während unsere Gegenwart uns Fragen stellt. Ihre Botschaft war oft die der Hoffnung und des Friedens. Die Zeitzeugen und die Jugendlichen sind wie Aufklärer. Ihre gemeinsame Reise gewinnt in einer Zeit, in der längst ausgestorben geglaubte Extremismen wieder stärker in Erscheinung treten, noch mehr an Bedeutung.
Die Menschlichkeit als Kompass

Was geschehen ist, betrifft uns alle, jeden in seiner eigenen Menschlichkeit. Die junge Generation erhält von ihren Vorfahren als Erbe die Pflicht, sich gegen jede Form der Unterwerfung zu wehren und unserem Humanismus und Engagement einen neuen Sinn zu verleihen. Lassen wir sie leben, geben wir die Worte der letzten Zeugen an die jungen Menschen weiter, als würden sie uns sagen: Erinnere Dich und vergiss nicht zu leben, das Beste aus Dir herauszuholen, um es zu teilen, um zu empfangen, zu geben, zu lieben, Dich anzupassen, in jeder Umgebung leben zu können, Dich nicht in den Kommunitarismus zu flüchten, Dich würdig zu erweisen, in Gleichheit mit Deinem Nächsten. Gehe wählen, höre auf, jemanden für das zu hassen, was er ist, akzeptiert Euch gegenseitig. Geht auf den anderen zu, den Ihr nicht kennt, versetzt Euch in seine Lage, wenn auch nur für einen Moment.
80 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager lasst uns nicht vergessen und im täglichen Widerstand nicht nachlassen. Und wie der irische Philosoph Edmund Burke seinerzeit sagte: „Das Böse triumphiert allein dadurch, dass gute Menschen nichts unternehmen“. Wir haben die Pflicht, angesichts jeder Form von Diskriminierung zu handeln, wir alle mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln, ein jeder so wie er kann. Eine der Zeitzeuginnen, mit welchen wir uns ausgetauscht haben, sagte uns: „Der Holocaust begann nicht mit Auschwitz, er begann mit Worten, er begann mit Schweigen und der Gesellschaft, die wegschaute. Wir haben die Verantwortung, dem Hass entgegenzutreten, wo immer er sich manifestiert“.
Fotografie, aber auch Filme, Bücher, Musik und Poesie sind für die Überlieferung der Geschehnisse unerlässlich, da sie unsere Emotionen ansprechen. In diesem Zusammenhang zitiere ich gern den ehemaligen französischen Kulturminister André Malraux: „Kunst ist der kürzeste Weg von Mensch zu Mensch“. Zum Schluss möchte ich „Wenn es genügte“, ein Gedicht von Edith Bruck vorstellen, die mit Primo Levi befreundet war und die ich fotografieren und interviewen durfte:
Wenn es genügte, zu beten
um gehört zu werden
sich mit dem Notwendigen zu begnügen
für jedes Wesen auf der Welt
unabhängig von seiner Hautfarbe oder seinem Glauben
Wenn es nur des Glaubens bedürfte,
um das Wahre und Schöne,
das Richtige in der Welt zu finden.
Wenn man verstünde, dass Hass
ein krankes Gefühl ist, das nur
giftige Früchte hervorbringt
Es würde genügen, den Kindern
Brot statt Waffen zu geben
um sie nicht zu neuen Mördern und zukünftigen Opfern zu machen.
Übersetzung: Norbert Heikamp
„Deportiert, ich war in Deinem Alter : eine europäische Geschichte“ / „Déporté, j’avais ton âge: une histoire européenne“ ist vom 19. März bis 6. Mai 2025 im Institut français München, Kaulbachstraße 13, 80469 München, zu sehen.
Die Autorin

Karine Sicard Bouvatier ist Fotografin. Parallel zu ihrer Arbeit über die Deportierten erstellte sie Porträts der Männer und Frauen des Eiffelturms (130 Jahre Eiffelturm, Ausstellung auf dem Vorplatz und ein Buch, das bei La Martinière veröffentlicht wurde). Im Juni 2022 führte sie einen Bericht für die Organisation „Les Voix de la Paix“ in Israel und den palästinensischen Gebieten durch. Für Karine Sicard Bouvatier hat die Fotografie zwei wesentliche Aufgaben: die eines universellen menschlichen Ausdrucks und die der Erinnerung an die Menschen.
In Kooperation mit der CIVS