Die Linke:
„Das ‚Modell Mélenchon‘ funktioniert in Deutschland nicht“


Johannes Kuhn hat den Wahlkampf der Linken bei den letzten Bundestagswahlen verfolgt. Mit ihm haben wir über den unerwarteten Erfolg der Partei sowie ihre Gemeinsamkeiten mit La France Insoumise gesprochen.
dokdoc: In Deutschland hat Die Linke ihre Stimmenzahlen bei der Bundestagswahl 2025 verdoppelt. Was war Ihrer Meinung nach der Hauptfaktor für diesen Erfolg? Was genau hat die Wählerschaft angesprochen?
Johannes Kuhn: Der eigentliche Katalysator war das gemeinsame Votum von Union und AfD für den Antrag zur Verschärfung der Migrationspolitik. Wenn man auf die Umfragen davor zurückblickt, lag die Linke bei etwa 4,5 %. Danach war die deutlich darüber. Die Linke war die einzige Partei im Bundestag, die sich klar gegen Verschärfungen in der Migrationspolitik gestellt hat. Zynisch formuliert könnte man sagen: Friedrich Merz hat die Linke wiederbelebt. Und wenn man den gesamten Wahlkampf betrachtet, zeigt sich: Was der Linken wirklich geholfen hat, war der klare Fokus auf ihre Kernthemen – Inflation, Lebensmittelpreise, die hohen Mieten.
dokdoc: Inzwischen spielt das Thema Migration eine etwas geringere Rolle. Dennoch liegt die Partei in den jüngsten Umfragen bei rund 11 % – das entspricht einem Zugewinn von etwa zwei Prozentpunkten seit der Bundestagswahl. Welche sind aus Ihrer Sicht die Gründe dafür?
Kuhn: Der Linken ist es gelungen, einen Imagewandel herbeizuführen. Sie wirkt nun stärker, frischer und präsentiert sich als klare Oppositionskraft im Bundestag. Man hat jetzt, auch weil das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und die FDP nicht vertreten sind, viel bessere Möglichkeiten, Kritik öffentlichkeitswirksam zu artikulieren.
dokdoc: Soziale Medien spielen in der Kommunikations- und Mobilisierungsstrategie von La France Insoumise (LFI) eine zentrale Rolle. Die Partei hat ein ausgeklügeltes Online-Organizing-Modell, das die Basisbeteiligung und die Interaktion mit Unterstützern fördert. Besonders junge Menschen und Klimaaktivistinnen fühlen sich dabei angesprochen. Welche Rolle spielen soziale Medien in der Strategie der deutschen Linken?
Kuhn: Interessanterweise galt die Linke im Zusammenhang mit sozialen Medien lange als altmodisch. Das hat sich jedoch geändert – vor allem durch Heidi Reichinnek und ihre verstärkte Präsenz auf TikTok und Instagram. Auch die Parteizentrale hat mittlerweile Personen eingestellt, die sich mit Social Media gut auskennen. Alle ziehen mit – sogar der 77jährige Gregor Gysi.
dokdoc: In Frankreich ist LFI stark auf eine charismatische, 73jährige Führungsfigur – Jean-Luc Mélenchon – zugeschnitten. Die deutsche Linke ist anders organisiert und setzt vor allem auf junge dynamische Politikerinnen – wenn auch die Rolle von Jan van Aken nicht zu unterschätzen ist. Wie blicken Sie auf diese Unterschiede?
Kuhn: Das „Modell Mélenchon“ ist für das BSW deutlich relevanter als für die Linke. Das BSW setzt auf eine ähnliche Struktur: eine charismatische Führungsfigur, die die Botschaft kontrolliert, medial präsent ist und über die eigene Anhängerschaft hinaus Strahlkraft entfalten soll. Im Fall von Sahra Wagenknecht aber ist dieses Konzept bisher nicht aufgegangen. Noch vor einem Jahr schien es, als könne eine solche personalisierte Parteigründung zum Erfolgsmodell in Deutschland werden. Heute zeichnet sich ab: Dem ist nicht so.

dokdoc: Wie wird LFI in linken Kreisen wahrgenommen?
Kuhn: Als ein natürlicher Verbündeter. In Deutschland blickt man mit Interesse – und teils mit Bewunderung – auf die Fähigkeit von LFI, parlamentarische Stärke mit außerparlamentarischer Mobilisierung zu verbinden. Besonders die ausgeprägte Streit- und Protestkultur in Frankreich wirkt auf viele inspirierend. Gerade in der Bewegungslinken gibt es hierzulande innerhalb der Linken eine Strömung, die versucht, näher an soziale Bewegungen und Proteste auf der Straße heranzurücken. Die Erfolge dabei sind jedoch durchwachsen. Die Idee, institutionelle und außerinstitutionelle Kräfte zu vereinen, ist parteiintern auch nicht unumstritten: Für manche ist das Parlament der zentrale Ort politischer Veränderung, für andere – wie etwa Jan van Aken – liegt die eigentliche Kraft eher in der Verbindung zur Straße.
dokdoc: Etwas, was Frankreich tatsächlich gut kann. Welche Rolle spielt Frankreich in der politischen Rhetorik der Linken? Im Wahlkampfprogramm für die Bundestagswahl kommt Frankreich kein einziges Mal vor.
Kuhn: Die Linke ist zwar durchaus paneuropäisch aufgestellt, aber Frankreich ist dabei nur ein Land von vielen. Man wünscht sich eine deutsch-französische Zusammenarbeit, aber hin zu einem „sozialen Europa“. Die geben allerdings die Mehrheitsverhältnisse nicht her.
dokdoc: Wie positioniert sich die Linke zur aktuellen sicherheitspolitischen Wende in Europa?
Kuhn: Für die Linke führt jede Form von Militarisierung zu nichts Gutem. Die Partei hat durchaus erkannt, dass sich gerade geopolitisch etwas verschiebt, sie betont aber: Europa gibt schon jetzt genug Geld fürs Militär aus. Statt pauschal mehr Mittel zu fordern, sollte man eher darauf achten, wie das vorhandene Geld effizient eingesetzt wird, so das Argument – etwa für eine verteidigungsfähige Armee, bei der die Mittel tatsächlich dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Es gibt durchaus ein Verständnis dafür, dass europäische Verteidigung gemeinsam gedacht werden muss. Was man jedoch ablehnt, ist ein Denken in klassischen Aufrüstungslogiken.
dokdoc: Vor wenigen Tagen hat Emmanuel Macron in einer Fernsehansprache angekündigt, „als Antwort auf den historischen Aufruf des zukünftigen deutschen Kanzlers“, „die strategische Debatte über den Schutz unserer Verbündeten auf dem europäischen Kontinent durch unsere Abschreckung“ eröffnen zu wollen. Wie beurteilt die Linke diesen Vorschlag? Jean-Luc Mélenchon hat in diesem Zusammenhang vor einer gefährlichen Eskalation gewarnt.
Kuhn: Da ist man de facto auf der Linie von Mélenchon. Man sagt: Nukleare Abschreckung führt zwangsläufig in die nächste Eskalation. Für die Linke ist Diplomatie, sind die Vereinten Nationen und auch im Zweifel unilaterale Abrüstungsinitiativen, wichtige Mittel zur Friedenssicherung. Wie realistisch diese Position allerdings ist, steht auf einem anderen Blatt. Genau deshalb ist eine Figur wie Jan van Aken so wichtig. Van Aken kann die Linke in den Medien repräsentieren, mit einer Haltung, die sich zwar in vielen Punkten von Sahra Wagenknecht unterscheidet – insbesondere in der kritischeren Haltung gegenüber Russland und der klareren Positionierung auf der Seite der Ukraine –, aber gleichzeitig betont er: Die Logik von Aufrüstung und Waffenlieferungen ist der falsche Weg. Stattdessen fordert er eine stärkere Betonung auf Vermittlung und Verhandlungen. Es war daher eine geschickte Entscheidung, ihn zum Co-Parteivorsitzenden zu wählen, da er nun in den Medien eine Rolle übernimmt, die zuvor vor allem von Sahra Wagenknecht besetzt wurde.

dokdoc: Wie stellt sich die Linke die zukünftige europäische Sicherheitsordnung vor, und welchen Platz soll Russland darin einnehmen? Am 13. März bekräftigte Jean-Luc Mélenchon noch einmal seine Vision eines Europas vom Atlantik bis zum Ural.
Kuhn: Die Linke verfolgt im Kern eine ähnliche Vision wie Mélenchon, nämlich ein Sicherheitsbündnis, das langfristig die NATO ersetzt und auch Russland einbezieht. Aktuell hält man diese Idee jedoch für nicht realistisch. Dennoch bleibt für die Linke die zentrale Lehre aus der Geschichte, dass stabile Sicherheit in Europa nur durch Spannungsabbau und nicht gegen Russland erreicht werden kann. Gleichzeitig ist man sich innerhalb der Partei durchaus bewusst, dass ein solches Bündnis unter Putin – und womöglich auch unter seinen Nachfolgern – nicht vorstellbar ist. Dass Russland von einem autoritären Regime geführt wird, wird erkannt. Doch ob man bereit ist, hier eine klare Position zu finden, bleibt offen. In der Außenpolitik herrscht bei der Linken tatsächlich der größte Klärungsbedarf.
dokdoc: Herr Kuhn, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Der Autor

Johannes Kuhn arbeitet als Korrespondent im Hauptstadtstudio des Deutschlandfunks. Dort berichtet er seit 2019 über die Linke und später auch das Bündnis Sahra Wagenknecht. Zuvor war er für die Süddeutsche Zeitung tätig, unter anderem fünf Jahre als Korrespondent in den USA.