Franz Stock:
„Sie nannten ihn den Erzengel in der Hölle“


Franz Stock war Priester und Brückenbauer: Als Rektor der deutschen katholischen Gemeinde in Paris begleitete er während der Besatzung französische Widerstandskämpfer bis zu ihrer Hinrichtung. Seine Geschichte ist eine eindrucksvolle Botschaft der Menschlichkeit und des Friedens.
dokdoc: Was fasziniert Sie persönlich an Franz Stock?
Margreth Dennemark: Im Jahr 1987 habe ich den Kindergarten „Franz Stock“ in Arnsberg als Leiterin übernommen. Der Name war mir unbekannt. Schnell fand ich heraus, dass wir beide Frankreich liebten. Franz Stock, geprägt vom Ersten Weltkrieg, engagierte sich bei den Quickbornern, einer katholischen Jugendbewegung, die ein Ziel hatte: „Nie wieder Krieg! Die Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich.“ Er lernte bei einem Friedenskongress in Frankreich Joseph Folliet kennen, der ihm ab 1928 ein Studium der Theologie für drei Semester in Paris ermöglichte. Für einen Deutschen damals eigentlich undenkbar. Stock lernte Französisch, unternahm Friedenswanderungen und lud seine Freunde aus Frankreich nach Deutschland ein. 1932 wurde er zum Priester geweiht. Zwei Jahre später wurde er auf Wunsch des Pariser Erzbischofs Jean Verdier Rektor der deutschen, katholischen Gemeinde in Paris. 1939, kurz vor dem Überfall Deutschlands auf Polen, musste er in seine Heimatdiözese zurückkehren.
dokdoc: Wie kam es dazu, dass Franz Stock als deutscher Priester die Pariser Wehrmachtsgefängnisse aufsuchte?
Dennemark: Im September 1940 wurde Franz Stock erneut in seine Gemeinde im Quartier Latin entsandt. Aber Paris hatte sich verändert. Überall Hakenkreuzfahnen, deutsche Befehlstöne. Plötzlich waren die drei Pariser Gefängnisse überfüllt mit Widerstandskämpfern. Viele von ihnen wurden zum Tode verurteilt, wie Eugène Cas, ein Drucker, der zusammen mit seiner Frau Flugblätter gegen die Besatzung verteilt hatte. Am Morgen vor seiner Erschießung hinterließ Cas auf der Rückseite der Fotos von Frau und Baby eine Botschaft: „Ich bin für Frankreich gestorben und ich bin für dich gestorben, damit du ein friedvolles Leben in deinem Heimatland hast.“ Er vertraute die Fotos Stock an. Seine Frau war jedoch bereits nach Deutschland deportiert worden. Was Stock mit den Fotos tat, ist unklar, aber Jahre später bekam das Komitee Les Amis de Franz Stock diese Fotos ohne weiteren Kommentar zugeschickt. Sie fanden die Tochter von Eugène Cas, mittlerweile 72 Jahre alt und überreichten ihr die Fotos mit dem letzten Gruß ihres Vaters.
dokdoc: Auf welcher Basis konnte Franz Stock diese Seelsorge betreiben?

Dennemark: Die Genfer Konvention garantiert das Recht auf seelsorgerischen Beistand. Dennoch verweigerte die Wehrmacht französischen Priestern den Zugang. Auch deutsche Militärgeistliche durften nur deutsche Soldaten betreuen. Franz Stock war aber nicht dem Militär, sondern der deutschen Botschaft unterstellt. So wurde er zum Seelsorger im Nebenamt ernannt. Er trug stets die Soutane eines französischen Priesters und eine Armbinde mit einem roten Kreuz. Als die Hinrichtungen zunahmen, unterstützten ihn der evangelische Pfarrer Dammrath und der katholische Kriegspfarrer Loevenich. Loevenich hat ab 1941 ein Tagebuch geschrieben: Name der Hingerichteten, Alter, Herkunft, Ort der Beerdigung. Darin ist notiert, dass er bei Franz Stock gesessen habe und einen Telefonanruf bekam. „Morgen Sportfest“, das war das Signal: 100 Menschen sollten erschossen werden. Gemeinsam konnten sie mit Pariser Erzbischof erreichen, dass 20 zum Tode Verurteilte begnadigt wurden. Pfarrer Loevenich wurde nach kurzer Zeit an die Ostfront geschickt, wegen zu großer Nähe zu den Widerstandskämpfern.
dokdoc: Verspürten die französischen Gefangenen Franz Stock gegenüber nicht großes Misstrauen?
Dennemark: Zunächst begegneten die Inhaftierten ihm mit großem Misstrauen. Stock war Deutscher und Priester – zwei Gründe, um skeptisch zu sein. Edmond Michelet, ein Widerstandskämpfer und späterer Minister, erzählte, wie Stock von Zelle zu Zelle ging und präzise Botschaften von den Familien überbrachte, oft ihre Kinder beim Namen nennend. Stock überbrachte Michelet Nachrichten, während er das Ave Maria gebetet hat. Viele Berichte zeigen, wie das anfängliche Misstrauen der Gefangenen in tiefes Vertrauen zu Franz Stock umschlug.
dokdoc: Wie gestaltete sich der Umgang mit Inhaftierten, die anderen Glaubens waren oder keine religiöse Bindung hatten?
Dennemark: Franz Stock akzeptierte den Wunsch jedes Einzelnen, wenn dieser nicht über Gott sprechen wollte. Er brachte Wäsche und Lebensmittel. Er schaffte Informationen zu den Gefangenen und zurück zu ihren wartenden Angehörigen. Unter Lebensgefahr schmuggelte er kleine Zettel, Bücher, die er in seiner Soutane versteckte, in Taschen, die ihm seine Schwester eingenäht hatte. Ein prominenter Widerstandskämpfer, Gabriel Péri, hatte sich vom Glauben abgewandt. Dennoch bemühte sich Franz Stock mehrfach um seine Begnadigung. Sie haben viel miteinander geredet und am Vortag seiner Hinrichtung bat Péri ihn, seinen Ehering seiner Frau zurückzugeben. So groß war das Vertrauen.

dokdoc: Franz Stock war freiwillig in Kriegsgefangenschaft gegangen. Im April 1945 erhielt er dann die Aufgabe, ein „Seminar hinter Stacheldraht“ zu leiten. Welche Hintergründe hatte dieses besondere Projekt?
Dennemark: Es gab bereits Vorläufer in Algerien und Montpellier, initiiert von General Boisseau. Boisseau organisierte auch das große Projekt „Priesterseminar hinter Stacheldraht“ in Orléans. Für die Leitung wurde Abbé Stock angefragt. Stock war damals freiwillig in einem Kriegsgefangenenlager in Cherbourg. Auf Wunsch der französischen Kirche und mit Genehmigung der französischen Regierung wurde er Regens des Séminaire des Barbelés. Da sich immer mehr deutsche Kriegsgefangene meldeten, die das Abitur machen bzw. Theologie und Philosophie studieren wollten, wurde das Lager nach Chartres verlegt. Die Albert-Ludwigs- Universität Freiburg übernahm die Schirmherrschaft, ebenso Msgr. Nuntius Roncalli, der spätere Papst Johannes XXIII. Universitätsprofessoren aus ganz Deutschland, und auch Franz Stock hielten Vorlesungen. Stock achtete darauf, dass alle Seminaristen Französisch lernten, um ihre Wahrnehmung von Frankreich, das sie als Erzfeind betrachteten, zu ändern. Das Ziel der französischen Regierung war es, den jungen Deutschen Werte wie Demokratie und Brüderlichkeit zu vermitteln, die sie später in Deutschland verbreiten sollten.
dokdoc: Franz Stock wurde in der Friedenskirche von Chartres beigesetzt. Wie kam es zu dieser Ehrung?
Dennemark: Franz Stock ist plötzlich und unerwartet gestorben. Im Februar 1948 wurde er in einem Armengrab in Paris beigesetzt, aber seine Familie durfte nicht zur Beerdigung kommen. Er war immer noch Kriegsgefangener. Die Überlebenden und die Angehörigen der Erschossenen erwirkten, dass Franz Stock im Juli 1949 im Invalidendom in einer Gedenkfeier geehrt wurde. Einige Monate später wurde beschlossen, alle Deutschen von Paris in einem Massengrab auf dem Friedhof von Thiais zu bestatten, doch es erhoben sich Stimmen des Widerstands. Franz Stock wurde daraufhin in ein Grab umgebettet. Den Grabstein stifteten die französischen Widerstandskämpfer und die Familien der zum Tode Verurteilten, die er im Krieg auf ihrem Weg begleitet hatte. An dieser Umbettung durfte die Familie Stock teilnehmen. Die Kosten für die Reise übernahm das Büro von Bundeskanzler Konrad Adenauer. Eine endgültige Lösung wurde erst Jahre später gefunden: 1963 wurde Franz Stock in der Friedenskirche in Rechèvres/Chartres beigesetzt.
dokdoc: Wie wird heute das Andenken an Franz Stock gewürdigt?

Dennemark: In Frankreich gab es mehrere Ehrungen, u.a. fand 1998 in der Kathedrale von Chartres ein Pontifikalamt mit dem Erzbischof von Paris, Kardinal Lustiger, und mehreren Bischöfen aus Deutschland und Frankreich statt, an dem Bundeskanzler Kohl, René Monory, der Präsident des Senats, und Joseph Rovan teilnahmen. 2008 gedachten Nicolas Sarkozy und Jürgen Rüttgers, Ministerpräsident von NRW sowie Angehörige der Resistance an der Gedenkstätte am Mont Valérien Abbé Stock. Es gibt zwei Komitees: das französische Komitee, das sich 1963 als Les Amis de Franz Stock in Paris gründete, und unser Komitee, das 1964 folgte. Beide Komitees verleihen kostenfrei die Wanderausstellungen „Frieden als Auftrag“ und „Versöhnung durch Menschlichkeit“. Das ehemalige Stacheldrahtseminar in Le Coudray/Chartres ist heute eine Begegnungsstätte, in der Führungen, Konzerte, Theateraufführungen und Vorträge stattfinden. Franz Stocks Elternhaus in Arnsberg-Neheim dient nun als kleines Museum. Straßen, Plätze, Kindergärten, Schulen und eine Kirchenglocke in Bayeux tragen heute seinen Namen. Der Platz auf dem Mont Valérien wurde zu Ehren von Franz Stock umbenannt: L’Esplanade de l’Abbé Stock. Auf diesem Platz ehrte jedes Jahr der französische Staatspräsident die gefallenen Widerstandskämpfer.
Die Fragen stellte Tanja Herrmann
Unser Gast

Eva Margarethe (Margreth) Dennemark, Dipl.-Sozialpädagogin, geboren 1948 in Dillingen/Saar, zog 1971 nach Arnsberg. Sie leitete 18 Jahre einen Kindergarten, darunter 8 Jahre den katholischen Kindergarten „Franz Stock“. Seit 2006 engagiert sie sich im Franz-Stock-Komitee, davon zehn Jahre als stellvertretende Vorsitzende, und ist heute Vorsitzende des Kuratoriums Elternhaus Stock.
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