Aus Schweizer Sicht:
Ist das die „deutsch-französische Freundschaft“?


In der Schweiz geht es zwischen Deutschland und Frankreich nicht selten um Rivalität. Bern seinerseits hält sich auf Distanz und bewahrt sein Eigenbewusstsein zwischen den beiden Nachbarn – oft zulasten einer engagierten Europapolitik.
Neben Belgien und Luxemburg ist die Schweiz das einzige Land, das sowohl an die Bundesrepublik Deutschland als auch an Frankreich grenzt und in dem Deutsch und Französisch Amtssprachen sind. Doch damit endet der Vergleich: Das Großherzogtum ist viel kleiner als die Eidgenossenschaft, und die deutschsprachige belgische Minderheit macht nur 1 % der Bevölkerung aus. Zwischen dem Bodensee und dem Genfersee sprechen über 60 % bzw. fast 23 % der Schweizer Deutsch bzw. Französisch. Diese Zahlen verschleiern jedoch die Realität: Das Schweizerdeutsch weicht oft vom Hochdeutsch ab, was die Verständigung selbst zwischen Schweizer Regionen erschwert. Dass ein Hamburger den Dialekt eines Oberwallisers nicht versteht, überrascht niemanden, und selbst ein Basler wird Mühe haben, einen weiter entfernten Dialekt zu entziffern. Die französischsprachigen Schweizer, die Romands, halten an ihren Bräuchen fest und ziehen es vor, mittags zu dinieren und abends eine Suppe zu kosten. Diese Realität verweist auf einen in der Schweiz noch immer sehr lebendigen nationalen und kantonalen Stolz. Obschon sie als kulturelle Brücke zwischen Französisch- und Deutschsprachigen fungieren könnte, zieht es die Eidgenossenschaft vor, ihre Eigenheiten zu bewahren – im Guten wie im Schlechten.
Eine ambivalente Haltung
Man muss es klar sagen: Die Schweiz mag das Deutsch-Französische nicht, eine „Sprache“, die sie an eine schlecht akzeptierte Doppelherrschaft erinnert. Als Lehre aus dem Ersten Weltkrieg, in dem ihre Einheit zum einzigen Mal bedroht war, hielt sie sorgfältig Abstand zu ihren beiden großen Nachbarn. Zwischen 1914 und 1918 tendierte die Deutschschweiz zum II. Reich, während die französische Schweiz auf den französischen Sieg hoffte. Dies trifft seit Jahrzehnten nicht mehr zu, da die Deutschschweiz keine besonderen Sympathien an die Adresse Deutschlands schenkt. Dennoch respektiert die Schweiz Frankreich und Deutschland gleichermaßen, ohne sich jemals mit einem von beiden zu identifizieren. Da sie der europäischen Integration kritisch gegenübersteht, fühlt sie sich traditionell Großbritannien näher. Seit Churchills berühmter Rede in Zürich 1946 gibt sie London den Vorzug vor Paris, Bonn oder Berlin. Dabei setzt sie auf ihre Mentalität des „Réduit“, benannt nach dem gleichnamigen schweizerischen Schutzwall während des Zweiten Weltkriegs, der das Land vor den „benachbarten Groβmächten“ schützen sollte. Denn die verdächtigt sie – oft zu Unrecht –, ihre Souveränität, ihre Neutralität und ihren Komfort zu gefährden.

Spannungen in Politik, Bildung und Sprache
Die Schweiz ist der einzige Staat in Europa, der nach 1848 dauerhaft eine liberale Demokratie eingeführt hat. Sie hat ein originelles parlamentarisches System, das sich stark von dem ihrer Nachbarn unterscheidet, und ist übrigens sehr stolz darauf. Sie wehrt sich dagegen, mit jenen verwechselt zu werden. Dies zeigt sich in der Deutschschweiz, wo die Einheimischen trotz der Hochdeutsch sprechenden Deutschen an ihrem Dialekt festhalten. Dieses wieder aufflammende Phänomen zeigt, dass sich die heftigsten Spannungen an den sprachlichen Unterschieden entzünden. Das Deutsche tut sich schwer, sich in den französischsprachigen Kantonen durchzusetzen, während das Französische in den deutschsprachigen Kantonen zurückgedrängt wird. Jüngstes Beispiel: die Schließung zweisprachiger Klassen im Kanton Bern auf Betreiben einer für das Bildungswesen zuständigen grünen Politikerin.
Europapolitik und deutsch-französische Beziehungen
Die Europapolitik ist ein weiteres großes Reibungsfeld zwischen Bern, Berlin und Paris. Die Unstimmigkeiten gehen auf die Abstimmung vom 6. Dezember 1992 zurück, als die Schweizer den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) als Vorbedingung für einen möglichen Beitritt zur EU ablehnten. Damals vermieden es die Befürworter einer Annäherung an Brüssel, die deutsch-französische Freundschaft allzu sehr zu betonen, die in Bern übrigens nie wirklich populär war. In ihrer Masterarbeit zum Thema Die Schweiz und der Élysée-Vertrag (2014) berichtet Cécile Blaser von einer spannungsgeladenen Episode zwischen der Eidgenossenschaft und ihren beiden großen Nachbarn: Für die Bundesbehörden war der Vertrag nur ein Text ohne Zukunft, der für einen Drittstaat nicht von Interesse war. Der Außenminister wischte den Vertrag mit einem Federstrich beiseite und favorisierte den Beitritt zum Europarat, einer britisch inspirierten Institution. Die Schweiz konzentrierte sich in der Folge auf die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA), deren Mitglied sie bis heute ist.
Diese irrige Lesart des Vertrags hatte jedoch keine nennenswerten Auswirkungen. Der Bundesrat ist davon überzeugt, dass er die alleinige Kontrolle über seine Europapolitik hat, und beharrt auf einem isolationistischen Kurs, der dem „bilateralen Weg“ treu bleibt. Er weiß, dass die Mehrheit der Schweizer damit einverstanden ist: Weniger als ein Fünftel will den Beitritt zur EU. Die EU arrangiert sich damit, während Paris und Berlin die guten nachbarschaftlichen Beziehungen begrüßen. Für die Schweiz bleiben die deutsch-französischen Beziehungen ein externer Aspekt, der auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Dreiländereck, in der Regio Basiliensis, beschränkt bleibt.

Herausforderungen in der deutsch-französischen Zusammenarbeit
Doch ist die Schweiz hierfür nicht allein verantwortlich. Auch Deutsche und Franzosen tragen ihren Teil der Verantwortung. In der Schweiz existiert das Deutsch-Französische nicht wirklich und hat sich nie durchsetzen können; es ist und bleibt eine Marginalie. Initiativen sind selten und anekdotisch. Die Regierungen Deutschlands und Frankreichs sind sich der oft stillschweigenden, aber sehr realen Vorbehalte der Schweiz bewusst und halten Distanz. Zuweilen verhalten sie sich sogar diplomatisch ungeschickt, indem sie die Schweiz umgehen, wenn Verhandlungen mit anderen Partnern anstehen. Die österreichisch-französischen Europadialoge, die in der Bundeshauptstadt Bern unter Beteiligung eines „Schweizer Gastgebers“ stattfanden, waren nur spärlich besucht. Das lokale Publikum, das weder den Sinn noch die Bedeutung dieser Begegnungen erfasste, schenkte ihnen nur sehr begrenztes Interesse – selbst in den politischen und kulturellen Kreisen Berns.
Frankreich und Deutschland haben zudem einen sehr unterschiedlichen Blick auf die Schweizer Innenpolitik. Die Debatten um den Kauf von französischen und deutschen Rüstungsgütern waren heftig, wie auch die Debatten über das deutsche Modell der Schuldenbremse und und der französische Begriff des service public, der in allen Sprachregionen der Schweiz übernommen wurde. Weitere Differenzen traten bei der Kontroverse um die Beteiligung der Schweiz an europäischen Forschungsprogrammen zutage. Paris verlangte, dass ein vorheriges und umfassendes Abkommen zwischen Bern und Brüssel unterzeichnet werden müsse, bevor die Schweiz an den Programmen teilnehmen könne. Umgekehrt stellte sich Berlin offen auf die Seite des Schweizer Bundesrates. Die deutsche Regierung war der Ansicht, dass die Schweizer Universitäten sofort in den Genuss der Gelder kommen sollten.
Abseits von Unternehmen, Infrastruktur, Verkehr oder Medizin äußern sich die deutsch-französischen Gegensätze vor allem in Sprach-, Kultur- und Hochschulkonflikten. Hier geht es nicht mehr um Partnerschaft, sondern um Rivalität. Infolge der Personenfreizügigkeit in Europa haben die Deutschen massiv in die Schweizer Universitäten investiert und dabei einen maßgeblichen Einfluss auf einige von ihnen ausgeübt – auch in der Romandie. Einige Episoden veranschaulichen diese Spannungen besonders gut: Eine aus dem Rheinland stammende Rektorin soll Jean-Pierre Chevènement das Recht verweigert haben, Fragen von Studenten zu beantworten; sie soll auch einen französischen Verteidigungsminister verärgert haben, der mit dem Empfang bei einer offiziellen Zeremonie unzufrieden war. Schließlich soll sie sich aus Termingründen geweigert haben, Jean-Marc Ayrault zu begrüßen, der als Ehrengast an einem Kolloquium in ihrer Einrichtung teilnahm.
Was vielleicht zum Schmunzeln anregt, sollte nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Die Schweizer Universitäten werden von einer nicht unerheblichen Anzahl deutscher Professoren als ihr ureigenes Reservat betrachtet, wo sie sich wie auf erobertem Terrain bewegen. Abgesehen von den zahlreichen Funktionen, die sie als Rektoren, Vizerektoren oder Dekane innehaben, setzen sie ihre beruflichen Vorstellungen, ihre bibliografischen Referenzen und vor allem ihre akademischen Methoden durch. Sie nutzen ihre mittlerweile vorherrschende Präsenz und berufen Landsleute in verschiedene Lehrämter – auch für Kurse, die auf Französisch abgehalten werden –, sehr zum Leidwesen vieler frankophoner Schweizer, von denen einige in Paris studiert haben. Die französische Sprache wird dadurch geschwächt und vom Deutschen und zunehmend vom Englischen in den Schatten gestellt. Ist das die „deutsch-französische Freundschaft“? In der Schweiz nährt diese Unausgewogenheit einen kritischen Rückzug gegenüber den beiden wichtigsten europäischen Partnern und liefert den Befürwortern einer Distanz zu Europa ein starkes Argument.
Übersetzung: Norbert Heikamp
Dieser Beitrag ist Teil einer Diskussion, die im März 2024 von Gérard Araud und Ulrike Franke eröffnet und von Jean-Marie Magro sowie Klaus Hofmann fortgeführt wurde.
Der Autor

Gilbert Casasus ist emeritierter Professor für Europastudien an der zweisprachigen Universität Freiburg in der Schweiz. Der französisch-schweizerische Politikwissenschaftler, Absolvent des IEP Lyon und Doktor der Politikwissenschaft an der Universität München, begann seine berufliche Laufbahn in deutsch-französischen Institutionen, darunter das DFJW (Deutsch-Französisches Jugendwerk), bevor er eine akademische Laufbahn an den Universitäten Jena, Genf, Weimar und Grenoble sowie im deutsch-französischen Studiengang von Sciences Po Paris in Nancy einschlug. Als anerkannter und kritischer Spezialist der europäischen Politik ist er Autor mehrerer Werke, darunter sein jüngstes, das 2024 bei den Genfer Verlag Slatkine erschienen ist und den Titel „Suisse – Europe, Je t’aime, moi non plus!“ trägt.