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Deutsch-französische Beziehungen

Hören wir auf mit der Niveaulosigkeit der deutsch-französischen Debatte!

Jean-Marie Magro

© Imago

14. Mai 2024

Wer sich mehr oder weniger intensiv mit den deutsch-französischen Beziehungen auseinandersetzt, musste in den vergangenen Monaten regelmäßig den Kopf schütteln. Wie auf oberster politischer Ebene, aber auch in öffentlichen Diskussionen über das jeweilige Nachbarland gesprochen wurde, wird der europäischen Sache nicht gerecht. Häufig zeichnen Deutsche und Franzosen nur noch Karikaturen voneinander.

Täglich höre ich mir Sendungen des französischen Öffentlich-Rechtlichen an. Als Journalist, der selbst für die öffentlich-rechtlichen Hörfunkprogramme der ARD arbeitet, beneide ich die Qualität von Sendungen wie „C dans l’air“, „C ce soir“, „Affaires Étrangères“ oder „L’Esprit Public“. Häufig habe ich den Eindruck, dass in der französischen Öffentlichkeit auf einem höheren Niveau über komplexe Fragen diskutiert wird – das beschränkt sich allerdings auf den von mir ausgewählten Teil der französischen Medienlandschaft.

Doch selbst diese von mir so geschätzten Sendungen sind leider keine Ausnahme, geht es um die Einschätzungen deutscher Positionen. Besonders deutlich wurde das nach der Aussage Emmanuel Macrons im Hinblick auf den russischen Großangriff auf die Ukraine Ende Februar: In Zukunft wolle er nichts mehr ausschließen, im Zweifel auch nicht das Entsenden von Bodentruppen. Äußerungen, die in Frankreich selbst stark kritisiert wurden. Der Geopolitik-Experte Pascal Boniface sagte etwa, er wolle nicht für den Donbass sterben. Gleichzeitig vertraten einige französische Intellektuelle, etwa der Theologe und Verleger Jean-François Colosimo, prominent in Fernsehen und Hörfunk die Meinung, dass das eigentliche Problem Deutschland sei, weil es zum Beispiel keine Taurus-Marschflugkörper liefern wolle.

Stichwort Ukraine

In Berlin hingegen verwiesen Politikerinnen und Journalisten darauf, dass Deutschland mit rund 14,5 Milliarden Euro der größte Helfer nach den USA sei. Frankreich dagegen stehe nur auf Platz sechs mit 3,8 Milliarden Euro. Das sind zumindest die Zahlen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Daraufhin entgegneten französische Vertreter, dass man diesen nicht vertraue: Deutschland verspreche außerdem viel, halte jedoch seine Lieferungen nicht immer ein, im Gegensatz zu Paris.

General Trinquand auf der Pariser Buchmesse, 13. April 2024 © Imago

Zuletzt hatte ich Gelegenheit, ein langes und erkenntnisbringendes Gespräch mit General Dominique Trinquand in Paris zu führen – ein hochdekorierter Militär, der für Frankreich bei den Vereinten Nationen, der Nato und der Europäischen Union arbeitete. General Trinquand ist ein sehr besonnener, ruhiger Analyst, der die heute so seltene Fähigkeit innehat, sich in die Schuhe von anderen hineinversetzen zu können. Doch selbst er sagte mir, für die derzeit schwierige Lage im deutsch-französischen Verhältnis trage das Kieler Institut „große Verantwortung“ („Il y est pour beaucoup“).

Manche gingen noch weiter, echauffierten sich förmlich: Frankreich habe der Ukraine einen großen Teil seiner Artillerie und auch weitreichende Marschflugkörper zur Verfügung gestellt. Außerdem benötigten die französischen Truppen im Gegensatz zur Bundeswehr Material, da sich die Armee auch in richtigen Einsätzen befände. Hier bekommt die Auseinandersetzung eine fiese Note.

Sylvie Kauffmann © Wikimedia Commons

Nur damit nicht der Verdacht entsteht, dass ein in Deutschland geborener Deutschfranzose sich zum Verteidiger der Bundesregierung aufschwingen möchte: Keine Sorge, auch die deutsche Seite bekommt ihr Fett weg. Wie Angela Merkel jahrelang eine Antwort auf die erste Sorbonne-Rede des französischen Präsidenten vermissen und diesen damit auflaufen ließ, wurde hinlänglich besprochen. Mit dem aktuellen Kabinett sind die deutsch-französischen Beziehungen nicht aufgetaut. Auf deutscher Seite scheint häufig Unverständnis, teils auch Desinteresse gegenüber Frankreich zu herrschen. Ganz im Gegensatz zu den französischen Eliten, wie mir immer wieder bei Gesprächen in Paris auffiel. Als ich dort mit der Sozialwissenschaftlerin Monique Dagnaud ein Interview über den Bildungselitismus Frankreichs führte, gestand sie mir nach unserem Gespräch: „Deutschland ist ein Rätsel für uns.“ Die Le Monde-Journalistin Sylvie Kauffmann sagte mir gar, in Paris herrsche förmlich eine Obsession, die Deutschen verstehen zu wollen.

Reden Bundesregierung und Élysée noch miteinander?

Immer wieder scheinen beide Seiten aneinander vorbei oder gar nicht miteinander zu reden. Im April des vergangenen Jahres erklärte Macron in einem Interview während des Rückflugs von seinem Staatsbesuch in China, Europa müsse ein dritter Pol neben den USA und China sein, kein amerikanischer Vasall. Daraufhin bekamen in Berlin einige Schnappatmung. Wie sie jedoch Taiwan bei einer möglichen Seeblockade zur Seite stehen wollen, führten sie nicht weiter aus. Nur so viel: Die Zusammensetzung der Delegation des Bundeskanzlers bei dessen Besuch in Peking im April verrät, wie bedeutend China für Deutschlands Industrie ist.

Auch der Gazakrieg erzählt eine Geschichte des deutsch-französischen Unverständnisses: Nach dem 7. Oktober wollte Macron eine Anti-Hamas-Allianz gründen und scheiterte dabei kläglich. Mitte November sprach sich der französische Präsident für eine Waffenruhe aus, die deutsche Außenministerin Baerbock prompt dagegen. Anfang Dezember forderte Macron die israelischen Behörden dazu auf, ihre militärischen Ziele in Gaza zu definieren. Kurz darauf antwortete Bundeswirtschaftsminister Habeck bei Anne Will: „Ich weiß nicht, worauf Macron genau hinauswollte. Wenn er sagen wollte, Israel muss die Bombardements der Hamas hinnehmen, dann teile ich das nicht.“ Eine solche Unterstellung kann nur jemand machen, der seinem Gegenüber schaden will oder es nicht kennt.

Später folgten die angesprochenen Äußerungen Macrons Ende Februar, Stichwort Bodentruppen. Aussagen, die in bedeutenden Teilen der deutschen Öffentlichkeit interpretiert wurden, als würde der französische Präsident Europa in den Krieg stürzen wollen. Nur wenige machten sich die Mühe, die französische Sichtweise nachzuvollziehen. Die Politikwissenschaftlerin Lova Rinel (Fondation pour la Recherche Stratégique) verglich das Vorgehen Macrons mit einer Szene aus dem zweiten Teil der Harry-Potter-Reihe „Die Kammer des Schreckens“. Darin spricht Harry mit einer Schlange auf Parsel, einer Sprache, die nur er und der böse Lord Voldemort verstehen. Harry versucht, die Schlange von einem Angriff auf einen Schüler abzuhalten. Doch das Publikum versteht nicht, was vor sich geht. Stattdessen glauben Harrys Mitschüler, er würde die Schlange aufhetzen. Rinels Bild ist äußerst treffend: Mächte mit einem Atomwaffenarsenal sprechen eine Sprache, die viele in Deutschland und im Rest Europas nicht verstehen. Was Macron versucht habe, sei gewesen, Putin klarzumachen, dass er zwar nicht zum Äußersten greifen möchte, aber die Mittel dazu hätte. Diese Botschaft zu transportieren, ist in Deutschland nicht geglückt, vielleicht aus Bequemlichkeit, möglicherweise aber auch aus Angst vor den Konsequenzen. In Frankreich fragen sich jedoch ebenfalls viele Bürgerinnen und Bürger, welche Strategie ihr Präsident verfolgt.

Beim Thema Energie wurde der Streit auf die Spitze getrieben

Blick auf Nogent-sur-Seine © Wikimedia Commons

Leider scheint es, als würden die gegenseitigen Anschuldigungen, Missverständnisse und Unterstellungen nicht abnehmen. Seit Jahren schaffen die beiden Freunde es nicht, den Zwist über die Einstufung der Kernenergie aus dem Weg zu räumen. Die Deutschen wollten die so wichtige französische Atomindustrie schwächen und lieber die Atmosphäre mit weiterem CO2 aus Kohle- und Gaskraftwerken verschmutzen, beklagen einige Franzosen. Ein Narrativ, das verfängt. Vor kurzem besuchte ich die 6.000-Einwohner-Stadt Nogent-sur-Seine im Südosten von Paris. Ein Ort, der von den Arbeitern im an der Seine stehenden Kraftwerk seit den Achtzigern profitiert. Als ich dort mit dem Inhaber eines Werkzeugladens über die Kernkraft sprach, sagte er mir: „Dank der Atomkraft habe ich früher 50 Euro im Monat für Strom bezahlt, wegen Deutschland bald 200. Es lebe Europa!“ Ein Anknüpfungspunkt für die politischen Extreme in Frankreich, vor allem den Rassemblement National, der in den Umfragen zur Europawahl weit vorne liegt.

Auf der Gegenseite kann ich mich noch gut an den Bonner Parteitag der Grünen im Oktober 2022 erinnern, über den ich vor Ort berichtete. Dieser fand statt kurz nachdem die Bundesregierung beschlossen hatte, die letzten drei Atomkraftwerke vier Monate länger laufen zu lassen als geplant. Der Prügelknabe auf der Veranstaltung war die französische Atomkraft. Nur, weil die Hälfte der 56 französischen Kraftwerke im Sommer vom Netz genommen wurde, müsse nun der größte Erfolg der Parteigeschichte hinausgezögert werden. So der Tenor. Eine konstruktive Debatte sieht anders aus, sagte mir Camille Defard. Dabei könnten, so die Energieexpertin des Jacques-Delors-Institut in Paris, Deutschland und Frankreich das Rückgrat des europäischen Energiesektors bilden. Deutschland mit seinem fortgeschrittenen Ausbau der Erneuerbaren Energien und Frankreich mit seinem Atompark.

Intellektuelle Brücken bauen

Die Liste ließe sich fortsetzen. Berlin macht nur selten Vorschläge und wenn, dann wird der Bundeskanzler nicht so laut gehört. Siehe dessen Rede in Prag im August 2022. Während Berlin noch davor zurückschreckt, sich öffentlich mit Szenarien nach einer eventuellen Wahl Donald Trumps auseinanderzusetzen, wird Macron seit Jahren nicht müde, von der europäischen Souveränität zu sprechen. Mit seinen Ideen blitzt Frankreichs Präsident jedoch immer wieder ab. Zuletzt brachte er mehrfach ins Spiel, dass Frankreichs Atomwaffen in die europäische Sicherheitsarchitektur eingebettet werden könnten. Im Bundestag vermuten nicht wenige Abgeordnete ein vergiftetes Angebot. Macron wolle doch in Wahrheit, dass Berlin für das französische Arsenal bezahlt. Dabei steht bei dem Vorschlag weder zur Debatte, die Entscheidung über einen Atomwaffeneinsatz noch die Kosten dafür mit anderen Staaten zu teilen. Er stellt sich in eine Reihe mit seinen Amtsvorgängern, unter anderem General de Gaulle, der einst sagte: „Frankreich muss sich bedroht fühlen, wenn sich Deutschland bedroht fühlt.“

Deutschland und Frankreich dürfen unterschiedliche Interessen verfolgen. Was jedoch nicht sein darf, ist eine Niveaulosigkeit der Debatte zwischen den beiden, eine Karikierung des Gegenübers, ein Abtun. Emmanuel Macron mag vom Naturell her völlig anders sein als Olaf Scholz. Doch welcher europäische Staatschef außer Macron ist derzeit in der Lage eine Rede wie in der Sorbonne zu halten? Andererseits kommt in manchen Teilen der Welt, speziell in Afrika, die zurückgenommene deutsche Art besser an als die „Diplomatie des Megafons“. Auch hier können sich beide ergänzen.

Nicht nur Politikerinnen, sondern auch an Medienschaffende und Wissenschaftler sollten diesen Appell beherzigen, geht es etwa um die Zusammensetzung einer Sendung oder eines Panels. Es gibt viele Expertinnen und Experten, die sich um gegenseitiges Verständnis bemühen, beide Sprachen sprechen und das jeweils andere Land näherbringen können und wollen. Statt also abfällig über den Rhein hinweg zu reden, sollte diesen Menschen die Chance gegeben werden, intellektuelle Brücken über den Fluss zu bauen.

Dieser Beitrag ist Teil einer Diskussion, die von Gérard Araud und Ulrike Franke eröffnet wurde und in den kommenden Wochen fortgesetzt werden soll.

Der Autor

Jean-Marie Magro © Jean-Marie Magro

Jean-Marie Magro ist in München geboren und Sohn einer deutschen Mutter und eines französischen Vaters. Er wuchs in der bayerischen Landeshauptstadt auf, studierte Volkswirtschaft und besuchte die Deutsche Journalistenschule. Er arbeitet als Hörfunkreporter in der Politikredaktion des Bayerischen Rundfunks. In Reportagen, Features und Interviews berichtet er vor allem über Themen der Außenpolitik mit besonderem Augenmerk auf Frankreich.

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