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Meinungen

Warum Frankreich mit dem „deutsch-französischen Paar“ Schluss machen muss

Gérard Araud

Deutsch-Französische Kabinettsklausur in Hamburg, 10. Oktober 2023 (Copyright: Imago)

15. März 2024

Gérard Araud hat bereits mehrfach die Fetischisierung der deutsch-französischen Beziehungen kritisiert. Vor wenigen Tagen erschien in Le Point ein Beitrag von ihm, der im Kontext der gegenwärtigen deutsch-französischen Verwerfungen für große Aufmerksamkeit gesorgt hat: „Wir müssen mit Berlin wieder ‚klassische‘ zwischenstaatliche Beziehungen auf der Grundlage von Zusammenarbeit und auch Wettbewerb aufnehmen“, fordert Araud. Seinen Beitrag möchten wir nun mit unseren deutschen Leserinnen und Lesern teilen und zur Diskussion stellen.

Ab 1871 war die Frage der Beziehungen zu Deutschland ein zentrales Anliegen der französischen Diplomatie. Nach Sedan ging es um die Absicherung unserer Unabhängigkeit gegenüber einem mächtigeren Nachbarn. Die Frage nach unseren derzeitigen Beziehungen zu Deutschland unter diesen Voraussetzungen zu stellen, wirkt indes provokant; denn auf beiden Seiten des Rheins ist die Forderung nach der Überwindung der Vergangenheit und der Versöhnung der ehemaligen Erzfeindschaft tief verwurzelt. Die Bilder von de Gaulle und Adenauer in der Kathedrale von Reims und die von Mitterrand und Kohl in Verdun symbolisieren den festen Willen, die Erinnerung an drei Kriege in 70 Jahren für immer im Giftschrank der Geschichte verschwinden zu lassen. Eine neue Freundschaft sollte her, mit der sich auch gemeinsame Interessen fördern lassen sollte. Deutschland sah darin eine Möglichkeit, seine Wiedereingliederung in die Familie der westlichen Nationen zu beschleunigen, während Frankreich die Lockerung des amerikanischen Einflusses in Europa anstrebte. Mangels Alternativen spielte die deutsch-französische Verständigung eine zentrale Rolle für den Bau des europäischen Hauses. Man sprach damals vom „Motor“ der Europäischen Union.

Nach Flitterwochen herrscht nun triste Gleichgültigkeit

Die Einführung des Euro ist hierfür ein schlagendes Beispiel. Doch all das ist Schnee von gestern. Das Gedenken an die Kriege ist für die jüngeren Generationen nur noch entfernte Geschichte, graue Vergangenheit. Das wiedervereinigte Deutschland ist wirtschaftlich erstarkt und auch ohne Frankreich einflussreich. Letztlich war die Wiedervereinigung dermaßen erfolgreich, dass sich die beiden Völker nun gleichgültig gegenüberstehen. So sind wir nun mit Deutschland auf den natürlichen Zustand zwischenstaatlicher, also auch wettbewerbsorientierter Beziehungen zurückgeworfen. Das gibt nicht etwa Anlass zur Sorge, weil der Rahmen der EU ja Verfahren zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten, aber auch zur Förderung von Kooperationen bereithält.

Allerdings müssen die Franzosen das Pathos des „deutsch-französischen Paares“ ablegen, das uns mit seiner lächerlichen Wirklichkeitsfremdheit lähmt und uns auf Distanz zu unseren anderen europäischen Partnern hält. Solange sich unsere Interessen mit denen unserer Nachbarn auf der anderen Seite des Rheins decken, sollten wir zusammenarbeiten. Wenn dies nicht der Fall ist, sollten wir kein Drama daraus machen und anderswo die Verbündeten suchen, die wir brauchen, um unsere Ansichten in Brüssel durchzusetzen. Unser Erfolg wird nicht von nicht länger geteilten bzw. erwiderten Gefühlen abhängen, wenn das überhaupt jemals der Fall war, sondern von den Machtverhältnissen, die wir (mit-) begründen.

Wir müssen jetzt unser Haus in Ordnung bringen

Gérard Araud (Copyright: Gérard Araud)

Ein gutes Beispiel dafür war die Geschichte mit der Kernenergie. Deutschland blies da von Anfang an zum Angriff auf unsere Kerninteressen, indem es sich hartnäckig gegen die Anerkennung der Kernenergie in der EU-Strategie zur Senkung des CO2-Ausstoßes wehrte. Dank unserer Entschlossenheit und der Bildung einer Koalition von Ländern auf unserer Seite konnten wir das abwehren. Dieses unfreundliche Verhalten uns gegenüber sollte uns sämtliche Komplexe nehmen in Bezug auf mögliche Meinungsverschiedenheiten zwischen zwei Ländern, die im Wesentlichen Partner und Verbündete, gelegentlich aber auch Konkurrenten sind.

Der Brexit schrumpfte das Dreieck der drei Hauptmächte in der EU auf ein deutsch-französisches Tête-à-Tête. Nun stehen wir Berlin allein gegenüber. Die die internationalen Beziehungen – selbst in ihren friedlichsten Ausprägungen – bestimmenden Machtverhältnisse sehen allerdings nicht sonderlich gut für uns aus.

Dies liegt nicht an etwaigen deutschen Ambitionen, sondern am schlechten Management unserer unterlegenen Volkswirtschaft: Wegen unseres Haushaltsdefizits und unserer Handelsbilanz können wir der Wirtschaftskraft unseres Nachbarn nicht genug entgegensetzen. Das mindert unseren Einfluss in der EU quasi automatisch. Wir haben den Euro eingeführt, damit Deutschland europäisch und nicht Europa deutsch wird. Es besteht nun die Gefahr, dass das Gegenteil eintritt. Um dies zu vermeiden, sollten wir zunächst unser Haus in Ordnung bringen, anstatt nur dauernd zu klagen.

Deutschlands Orientierungen: ein nicht zu vernachlässigender Faktor

Inzwischen zeichnet sich jedoch eine neue Lage ab. Das deutsche Modell wird von den steigenden Energiepreisen, der chinesischen Konkurrenz und dem amerikanischen Protektionismus in seinen Grundfesten erschüttert. Jetzt, wo der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist, kann Deutschland, in seinem Selbstverständnis als Exportunternehmen und nicht so sehr geopolitische Macht, seine Außenpolitik nicht länger an Brüssel und seine Verteidigung nicht länger an Washington delegieren.

Zwar verfügt das Nachbarland a priori über finanzielle Reserven, die es ihm erlauben, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken, aber sein politisches System scheint festgefahren und unfähig zu sein, sich an die neue Welt anzupassen. Die extreme Rechte erhebt ihr Haupt. Einmal mehr muss sich Frankreich fragen, wohin Deutschland gehen wird.

Wird es wie stets bisher den europäischen Weg wählen, um voranzukommen, oder sich auf sich selbst zurückziehen? Die Antwort auf diese Frage ist für unsere Zukunft von entscheidender Bedeutung. Gestern hatte Frankreich allen Grund sich über die Macht seines Nachbarn Sorgen machen; aber das könnte auch in Zukunft der Fall sein, wenn Deutschland in eine Krise geriete, die sein europäisches Engagement zu einem Zeitpunkt schwächen würde, an dem unser Kontinent sich großen Herausforderungen stellen müsste, unabhängig davon, ob diese nun in Moskau, Peking oder Washington ihren Ursprung haben.

© 2024 LE POINT

Dieser Beitrag ist am 10. März in der Zeitung Le Point unter dem Titel „Pourquoi la France doit-elle en finir avec l’irréaliste ‚couple franco-allemand‘“ erschienen.

Übersetzung: Norbert Heikamp

Der Autor

Gérard Araud war Botschafter in Israel (2003-2006), Ständiger Vertreter Frankreichs bei den Vereinten Nationen in New York (2009-2014) und dann französischer Botschafter in den USA (2014-2019). Er ist Kolumnist bei Le Point und dem Fernsehsender LCI, Mitglied des Verwaltungsrats der International Crisis Group und „Distinguished Senior Fellow“‘ des Atlantic Council in Washington. Von ihm ist vor kurzem „Israël: le piège de l’Histoire“ (Tallandier, 2024) erschienen.

Dialog Dialogue

1 Kommentare/Commentaires

  1. Araud war immer ein strategischer Kopf, er hat gute Argumente. Und dennoch hoffe ich, dass das Verhältnis zwischen unseren Ländern enger bleibt und nicht rein Transaktionell wird. Als Lehre aus der Geschichte und für die Zukunft Europas. Die beiden Länder können viel zusammen leisten, müssen aber wollen. Und da würde mehr emotionale Tiefe sicher viel bedeuten. Da reicht leider nicht nur ARTE oder Städtepartnerschaften, da kommt es auch auf das Verhältnis an der Spitze an.

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