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Mein Kampf

Vor 90 Jahren, die erste französische Übersetzung von „Mein Kampf“

Florent Brayard

Copyright: Landry Charrier

2. Oktober 2024

Florent Brayard hat das zwölfköpfige Team geleitet, das die kritische Ausgabe von „Mein Kampf“ in französischer Übersetzung erstellt hat. Eine französische Übersetzung gab es schon seit 1934. Der Historiker erklärt, warum es notwendig war, sie komplett neuzudenken.  

Das nennt man einen Coup. Im Februar 1934 brachte Fernand Sorlot eine Übersetzung von Mein Kampf heraus, dem Buch, das Adolf Hitler 1924-1925 veröffentlicht hatte. Es handelte sich um einen Raubdruck: Nachdem er vergeblich versucht hatte, die Rechte vom Eher Verlag zu erwerben, beschloss der Direktor der Nouvelles Éditions Latines, sich darüber hinwegzusetzen und eine französische Fassung zu veröffentlichen. Hitler lehnte eine vollständige Übersetzung ins Französische wahrscheinlich aus denselben Gründen ab, die auch Sorlot zögern ließen: Das Werk enthält zahlreiche stark antifranzösische Passagen, die Hitler nach seiner Machtübernahme lieber vergessen machen wollte; dem Verleger war aber daran gelegen, sie als Warnung für Frankreich publik zu machen. Auf dem Einband findet sich deshalb ein Zitat des Marschalls Lyautey: „Jeder Franzose muss dieses Buch lesen.“ Mit dem Subtext: um ermessen zu können, was ihm droht.

Immer noch verfügbar

Sorlot, selbst Anhänger des Faschismus, hatte zweifellos auch noch andere Motive, wie z.B. die Förderung eines virulenten Antisemitismus in Frankreich, in dem er sich teilweise wiederfand. Die Veröffentlichung war in jedem Fall eine eklatante Verletzung des Urheberrechts. Der Eher Verlag zog vor Gericht und gewann sogar die Société des gens de lettres für seine Sache, die sehr auf ihre Interessen bedacht war. In der Gerichtsverhandlung berief sich der Verleger auf seine Informationspflicht. Das Gericht stellte eine Fälschung fest und verbot die Veröffentlichung. Sorlot gelang es dennoch, fünfzehn- bis zwanzigtausend Exemplare zu retten oder nachzudrucken. Bis 1940 verteilte er sie unter der Hand. Nach dem Ende des Nationalsozialismus konnte er das Buch wieder vermarkten, diesmal ganz legal. Die Verkaufszahlen stiegen jedoch erst in den 1970er Jahren mit dem latent wiederauflebenden Interesse an der Besatzungszeit an. Zwischen 2003 und 2021 wurden schätzungsweise noch über 70 000 Exemplare verkauft.

Der langfristige Erfolg des Buches ist keineswegs eine Belohnung für eine unübertreffliche Übersetzungs- oder Editionsarbeit – bei weitem nicht. Er ist dem neuen Inhaber der Urheberrechte, dem bayerischen Finanzministerium, zu verdanken, das jegliche Wiederveröffentlichung von Mein Kampf untersagt hatte. Dieses Verbot verhinderte bis vor kurzem die Erstellung einer wissenschaftlichen Ausgabe, nicht aber die Zunahme von ungenehmigten Übersetzungen. In Frankreich gab es keinen neuen Raubdruck; denn die Ausgabe der Nouvelles Éditions Latines konnte die Nachfrage befriedigen.

Die Übersetzung von 1934 war in zweierlei Hinsicht fehlerhaft. Sie war innerhalb weniger Monate erstellt worden, wie es bei Dokumenten mit einer gewissen Aktualität üblich ist. Sorlot hatte ein Team von etwa zehn Übersetzern zusammengestellt, die sich die Kapitel untereinander aufteilten. Die harmonische Gesamtabstimmung des Textes vertraute er zwei Germanisten an: André Calmettes und Jean Gaudefroy-Demonbynes. Vor allem aber entsprach die französische Version den damals gängigen Kriterien: Es galt, in erster Linie an den Leser zu denken und zu vermeiden, dass die Lektüre eines Buches, das erschreckend schlecht geschrieben ist, allzu abschreckend wirkt. Die Übersetzer von 1934 hielten sich zwar an den Text – nur hier und da mag ein Satzteil fehlen –, aber sie beseitigten die größten Mängel, glätteten die Prosa Hitlers und verschönerten sie, ohne groß darüber nachzudenken.

Anders übersetzen

Olivier Mannoni (Copyright: Philippe Matsas)

Das entspricht einem Reflex professioneller Übersetzer, der, wenn heute auch in abgeschwächter Form, längst nicht der Vergangenheit angehört: dem ihnen anvertrauten Werk in eigener Sprache noch mehr Glanz zu verleihen. Warum nicht, wenn es sich um Goethe, Mann oder Rilke handelt! Aber wie soll man eine solche „Verbesserung“ tolerieren, wenn der ohnehin schon mittelmäßige Schriftsteller sich noch dazu als der blutrünstigste Diktator der Weltgeschichte entpuppt hat? Mein Kampf gehört nicht zum literarischen Weltkulturerbe; es ist jedoch eine unersetzliche Quelle für das Verständnis des 20. Jahrhunderts.

Als nach dem Erlöschen der Urheberrechte die allererste neue französische Ausgabe seit 1934 und damit die zweite Übersetzung in fast neunzig Jahren entstehen sollte, entschied man sich für das genaue Gegenteil: Alle Mängel des Werks, die im Deutschen unmittelbar ins Auge fielen, sollten auch in der neuen französischen Ausgabe wiedergegeben werden. Das Unterfangen wurde in zwei Etappen angegangen.

Im Jahr 2011 beschloss der Verlag Fayard, das Projekt einer kritischen französischen Ausgabe von Mein Kampf in Angriff zu nehmen. Olivier Mannoni, ein erfahrener Übersetzer, der häufig für deutschsprachige Werke über das Dritte Reich herangezogen wird, sollte eine Neuübersetzung anfertigen. Ohne genaue Anweisungen arbeitete Mannoni vier Jahre lang ziemlich einsam an der französischen Version des Buches, das nach seinen Worten „unübersichtlich, voller Fehler und Wiederholungen, oft unleserlich, mit einer gewagten Syntax und vielen zwanghaften Wendungen“ war. Er sah es als seine Pflicht an, den Text „für seine französischen Leser dennoch zugänglich“ zu machen, ohne das Original zu verändern. Die Frage der Verbesserung stellte sich also erneut.

Den Leser nicht schonen

Die für die kritische Ausgabe 2015 gebildete Expertengruppe – Historiker und Germanisten aus Deutschland und Frankreich – begutachtete diesen ersten Entwurf und fragte sich alsdann, wie sie selbst vorgegangen wäre. Sie beschloss, Mein Kampf als historische Quelle zu behandeln. Das bedeutete, dass die ursprüngliche Textualität respektiert werden musste. Der Leser sollte nicht mehr geschont, sondern umstandslos mit den Mängeln des Buches konfrontiert werden, genau wie der Leser, der sich in das Original vertieft. Mannoni wurde eine stark abgeänderte Version zweier Kapitel vorgelegt, die er als Grundlage für seine revidierte Übersetzung verwenden sollte.

Arbeit an der Übersetzung (Copyright: Olivier Mannoni)

Dieses Ansinnen ging dermaßen gegen seine Gewohnheiten, dass er darin „die Schändung seines Berufes“ sah. Er war indes so schlau, die radikalen Prinzipien des Wissenschaftsteams zu übernehmen, da er den Nutzen für den Leser erkannte. Der Übersetzer machte sich an die Arbeit und lieferte im Laufe der Monate die Neuübersetzung jedes einzelnen Kapitels ab. Das wissenschaftliche Team überprüfte diese dann Wort für Wort und Zeile für Zeile: Im Bemühen um die absolute Wörtlichkeit schlug es noch zahlreiche Änderungen vor. Es dauerte mehr als vier Jahre, bis der endgültige Text vorlag. In Historiciser le mal (2021) wird die Übersetzung daher Olivier Mannoni zugeschrieben, allerdings „in Zusammenarbeit mit dem wissenschaftlichen Team“, und das ist auch nur gerecht so. Es gab diese Zusammenarbeit tatsächlich; sie war ebenso neuartig wie fruchtbar.

Offene Fragen

Copyright: Fayard

Unter den das heutige Bewusstsein quälenden Fragen ist eine besonders schwierig zu beantworten: Wie konnten die Deutschen einer so grobschlächtigen und brutalen Ideologie wie dem Nationalsozialismus folgen. Wie konnten sie sich zu Komplizen der entsetzlichen Verbrechen machen, die sie von Anfang an in ihrem Keim trug? Die Rolle von Mein Kampf für diese Form von Identifikation ist eine weitere ungelöste Frage: Obwohl bis 1945 mehr als zwölf Millionen Exemplare gedruckt, verkauft oder verteilt wurden, behaupteten viele Deutsche nach dem Krieg, das Buch nie gelesen zu haben: Es sei schlicht und ergreifend unlesbar gewesen. Dem französischen Publikum eine ebenso unlesbare Ausgabe wie die deutsche Urfassung zu liefern, bedeutet: ihm die mühselige Entwirrung von Hitlers Prosa abzuverlangen. Dabei mag es die möglichst originalgetreue Übersetzung verfluchen, sich aber dann auch daran erinnern, dass der Hauptverantwortliche kein anderer als der Autor ist: nämlich Hitler.

Der Leser soll sich eine eigene Meinung, ein eigenes Urteil bilden können: Hätte Mein Kampf, dieses unverdauliche Buch, ihn abschrecken sollen? Oder haben seine Schlichtheit und seine gestanzten Wiederholungen ein orientierungsloses Volk auf Kurs gebracht und es Antworten auf die vermeintlich existenziellen Herausforderungen akzeptieren lassen?

Übersetzung: Norbert Heikamp

Der Autor

Florent Brayard (Copyright: Florent Brayar/EHESS)

Florent Brayard ist Forschungsdirektor am Centre National de Recherche Scientifique in Paris. Er ist Historiker und hat sich mit der Geschichte der Holocaustleugnung und dann mit der Geschichte des Holocaust befasst. Er ist Autor mehrerer Monographien, darunter die „‚La Solution finale de la question juive‘. La technique, le temps et les catégories de la décision“ (Fayard, Paris 2004); „Auschwitz, enquête sur un complot nazi“ (Le Seuil, Paris 2012). Im Jahr 2021 veröffentlichte er zusammen mit Andreas Wirsching: „Historiciser le mal. Une édition critique de Mein Kampf“ (avec Andreas Wirsching, Fayard).

Weiter zum Thema

Olivier Mannoni: Traduire Hitler. Héloïse d’Ormesson, Paris 2022 (erscheint Anfang 2025 auf Deutsch – bei HarperCollins).

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