Template: single.php

Welche Rolle für Deutschland und Frankreich in Europa?

Bedingt führungsfähig? Eine Stimme aus Großbritannien

Roderick Parkes

Copyright: Depositphotos

21. Juni 2024

Ein gedemütigtes Großbritannien ist nicht im Interesse Deutschlands und Frankreichs, schreibt Roderick Parkes in Folge 10 unserer Reihe „Bedingt führungsfähig?“ Alle drei sind aufeinander angewiesen: Nur gemeinsam können sie die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Handeln im Einklang miteinander bringen.

Nach Ansicht der Briten hängt die internationale Führung von Staaten ab, die sowohl die Bereitschaft als auch die Fähigkeit zum Handeln aufbringen können. Mittelgroße Mächte wie Frankreich und Deutschland müssen bereit sein, mit Initiative und Weitsicht an der Spitze zu stehen. Sie müssen sich jedoch auch darüber im Klaren sein, dass sie allein keine Initiativen voranbringen können, sondern breitere Partnerschaften und Institutionen brauchen.

Ein bescheidener Mechaniker

Frankreich und Deutschland tun sich mit gemeinsamer Führung schwer, weil sie diese beiden Komponenten nie effektiv integriert haben. Frankreich zeichnet sich durch Initiative, Gespür, Ideen und Mut aus. Deutschland trägt die Institutionen und den strategischen Rahmen Europas im Alleingang. Aber es zögert, seine umfangreichen Kapazitäten zu nutzen, selbst wenn es sieht, dass Frankreich die Mittel fehlen, eigene Initiativen zu unterstützen. Und das französische Streben nach nationalem Ruhm lässt das deutsche Potenzial häufig ungenutzt.

Die britischen Eliten sind davon überzeugt, sie hätten in der Vergangenheit Bereitschaft und Fähigkeit besser als jeder andere kombiniert. Dank einer ähnlichen imperialen Geschichte neigen sie wie Frankreich, die Initiative zu ergreifen. Doch durch bittere Erfahrungen wie die Suez-Krise 1956 und den schwierigen Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1973 lernten sie auch Bescheidenheit. Im Gegensatz zu Frankreich betrachtet Großbritannien die europäische Zusammenarbeit nicht als bloßes Vehikel für nationale Macht und auch nicht, wie Deutschland, als willkommene Einschränkung der nationalen Führungsrolle.

Jahrzehntelang hat Großbritannien diese Sensibilität in die europäischen Angelegenheiten eingebracht. Es spielte die Rolle des bescheidenen Mechanikers für den deutsch-französischen Motor. Es übernahm die Verantwortung für unzufriedene EU-Mitglieder, die von deutsch-französischen Initiativen nicht so begeistert waren. Es sorgte dafür, dass die USA ihre Fähigkeiten für deutsch-französische Ideen einsetzten. Vor allem aber überließ es Frankreich und Deutschland den Ruhm für die Erfolge in einer Weise, wie es ein Land wie Polen das oft als natürlicher Nachfolger Großbritanniens in der EU gehandelt wird, niemals tun würde. Daher ist Großbritannien nicht überrascht, dass der deutsch-französische Motor ohne seinen bescheidenen Mechaniker nicht mehr anspringen will.

Paris und Berlin in den Schatten stellen

Roderick Parkes (Copyright: Roderick Parkes)

Die britischen Eliten sehen für sich nach wie vor eine Führungsrolle in Europa. Die Regierung von Boris Johnson wollte dies durch moralische Führung demonstrieren. Mit der raschen Verhängung von Sanktionen gegen Belarus und der Lieferung von Waffen an die Ukraine wollte er beweisen, dass der Brexit keinen Rückzug aus internationaler Verantwortung bedeutete und er eine grundsätzliche, keineswegs populistische Entscheidung war. Doch ihn beseelte mehr der Wunsch, Paris und Berlin in den Schatten zu stellen, als gemeinsame Maßnahmen zu ergreifen.

Johnsons Verhalten ist ein Zeichen dafür, dass sich die strategische Kultur Großbritanniens selbst in ihre zwei grundlegenden Bestandteile aufspaltet. Von den Konservativen geführte Regierungen wie die von Johnson neigen dazu, die Handlungsbereitschaft zu betonen. Das geht oft auf Kosten kooperativer internationaler Strukturen und führt zu selbstzerstörerischen Ergebnissen. Im Gegensatz dazu konzentrierten sich Labour-Regierungen in der Regel darauf, gemeinsame Kapazitäten durch die Übertragung und Bündelung von Souveränität aufzubauen. Doch ihnen ermangelte es dann an der Bereitschaft zu entschlossenem Handeln.

Deutschland und Frankreich brauchen Großbritannien

Großbritannien ringt um eine Führungsrolle in einer Welt, in der es darauf ankommt, Teil eines mächtigen Blocks zu sein. Die britischen Eliten erkennen zunehmend an, dass der Brexit eine Lösung für eine vergangene Ära war – für die Welt nach dem Kalten Krieg, in der Schnelligkeit bei der Regulierung und die Pflege von Beziehungen zu weit entfernten Schwellenländern an erster Stelle standen. Sie sind daher offen für eine Bindung an neue, effiziente europäische Strukturen. Sie wollen Partnerschaften und Handlungsmodalitäten aufbauen, die die beiden Traditionen der strategischen Kultur Großbritanniens wieder vereinen können.

Frankreich und Deutschland hoffen wahrscheinlich, ein gedemütigtes Großbritannien könne sich wieder in die europäischen Strukturen integrieren. Der Bundeskanzler hofft vielleicht auf eine linksliberale Regierung in London, die den Enthusiasmus seiner Partei für die Bündelung von Souveränität teilt und sein Misstrauen, diese jemals zu nutzen. Europa braucht jedoch beide Seiten des britischen Charakters – die Handlungsfähigkeit und die Bereitschaft, sie zu nutzen. In den Augen der britischen Eliten verschlimmert das offensichtliche Unvermögen der EU, dies zu erkennen, ihre eigenen Brexit-Fehler.

Die Priorität der EU nach dem Brexit-Votum bestand darin, Großbritannien sanft an ihre Verordnungen und Arbeitsweise zu binden. Vielleicht ist es ihr noch nicht aufgefallen, aber dieser Ansatz war ebenso auf eine vergangene Welt zugeschnitten wie die Entscheidung Großbritanniens, die EU zu verlassen. Nach dem Brexit haben die EU und das Vereinigte Königreich eine Reihe von Abkommen zur Ausrichtung und Regelung ihrer künftigen Beziehungen ausgehandelt, die Großbritannien mittlerweile frustrieren und in seinen Handlungsmöglichkeiten einschränken. Europa braucht ein Großbritannien, das dann und wann auch die Vorreiterrolle übernehmen kann. Das wird ein Großbritannien sein, das wieder bereit ist, zu Frankreichs und Deutschlands Glanz beizutragen.

Übersetzung: Norbert Heikamp

Der Autor

Roderick Parkes ist ein in Rom ansässiger Sicherheitsanalyst. In den letzten 20 Jahren hat er in staatlich finanzierten Think Tanks in Berlin, Paris, Brüssel, Warschau und Stockholm gearbeitet, zuletzt als Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Er erhielt seinen Doktortitel an der Universität Bonn. Er schreibt hier in seiner persönlichen Eigenschaft und seine Ansichten repräsentieren keine Organisation.

In Zusammenarbeit mit

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Social media & sharing icons powered by UltimatelySocial