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Welche Rolle für Deutschland und Frankreich in Europa?

Bedingt führungsfähig? Eine Stimme aus Bosnien-Herzegowina  

Srećko Latal

Blick auf das historische Zentrum von Sarajevo (Copyright: Depositphotos)

30. August 2024

Die Länder des Westlichen Balkans befinden sich seit Jahren in einer Warteschleife zum EU-Beitritt. In Folge 12 unserer Reihe „Bedingt führungsfähig?“ erklärt Srecko Latal, warum die Union jetzt aufs Tempo drücken sollte und welche Rolle Deutschland und Frankreich dabei spielen können.

Die Welt ist in Aufruhr und der westliche Balkan bekommt es zu spüren. Die häufig als „weicher Unterleib Europas“ titulierte Region ist in letzter Zeit in Richtung Instabilität abgeglitten. Gewaltsame Konflikte sind nicht mehr auszuschließen. Die auf sich selbst zentrierte Außenpolitik der USA, der vermasselte Erweiterungsprozess sowie der Missbrauch demokratischer Grundprinzipien und Werte fördern das Erstarken alter und neuer nationalistischer Träume. Geopolitische Akteure wie Russland, China oder die Türkei sind schon lange in die Bresche gesprungen. Sie nutzen nicht nur die Schwächen der USA und der EU aus, sondern auch historische und religiöse Bindungen, um strategische Partnerschaften mit lokalen ethnischen Führern auf- und auszubauen. Diese Einflüsse kommen zusätzlich zu den Reibungen in der ohnehin schon angespannten regionalen Szene hinzu. Deutschland und Frankreich sollten deshalb aufs Tempo drücken und die EU-Erweiterung auf dem Westbalkan entschlossen vorantreiben. 

Das Scheitern der EU

Vielen Entscheidungsträgern war Anfang der 2000er Jahre klar, dass die wichtigste – wenn nicht sogar die einzige – Voraussetzung für die Stabilisierung der Region im Beitritt der Balkanländer in die EU bestand. Die EU-Mitgliedschaft war nicht nur wegen der Reformen und Investitionsmöglichkeiten entscheidend, sondern vor allem, weil die (damals noch existierenden) EU-Regularien als Heilmittel gegen den Nationalismus betrachtet wurden. Diese Überzeugung führte im Juni 2003 zum Gipfel von Thessaloniki, auf dem sich die Staats- und Regierungschefs der EU und der Balkanländer auf den Erweiterungsprozess einigten. Seitdem hat die Union ihren Markt teilweise für sie geöffnet und ist zu deren wichtigstem Handels- und Wirtschaftspartner avanciert.

Der Erweiterungsprozess wurde aber durch die globale Rezession 2009, die Flüchtlings- und Migrationskrise, den Aufstieg des Rechtspopulismus, den BREXIT und schließlich die COVID-19-Pandemie gebremst. Die vor wenigen Jahren noch so wirkmächtige Perspektive der Integration hat infolgedessen auch auf dem Westbalkan an Glaubwürdigkeit verloren – was wiederum den Demokratisierungsprozess untergrub. Deutschland und Frankreich spielten „dabei“ eine Schlüsselrolle.

Deutschland hatte lange diesen Prozess federführend vorangetrieben. Seine Bemühungen litten aber unter dem eigenen Unvermögen, die lokalen Realitäten zu verstehen. Anstatt auf seine Experten zu hören, entwickelte Berlin eigene Ansätze, die nicht selten im Sand verliefen. Frankreich hingegen hatte nie großes Interesse an den Balkanstaaten. Das wurde 2019 besonders klar, als Emmanuel Macron erklärte, er „lehne jede Art von Erweiterung vor einer umfassenden Reform unserer (EU) institutionellen Funktionsweise ab“. Diese Erklärung machte auf einmal deutlich, dass die Erweiterung praktisch vom Tisch war. Seitdem gelang es der EU nicht, die Balkanländer vom Gegenteil zu überzeugen.

Der Balkan wartet  

Da sie sich von der EU verschmäht fühlten, suchten die Balkanländer nach strategischen Partnern, nicht zuletzt in den USA, Russland, China und der Türkei. Die US-Wahlen könnten in diesem Zusammenhang große Auswirkungen auf die Region haben: Trumps ehemaliger Balkan-Beauftragter, Richard Grenell, hatte ja zu seiner Zeit vorgeschlagen, den Streit zwischen Serbien und dem Kosovo durch Gebietsaustausch zu lösen. Der bosnisch-serbische Machthaber Milorad Dodik hat zugegeben, dass er den 5. November mit Spannung erwartet. Seine Hoffnung: Dass ein weiteres Mandat von Donald Trump es ihm erlaubt, die von ihm schon längst angekündigte Abspaltung der serbisch dominierten bosnischen Entität Republika Srpska durchzuführen und sie mit Serbien zu verschmelzen. Der letzte Versuch dieser Art löste einen dreieinhalb Jahre andauernden Krieg aus, der nur durch das Eingreifen der NATO (1995) beendet werden konnte.

Republika Srpska (Copyright: Depositphotos)

Viele glauben nun, ein neuer Anlauf werde unweigerlich in einen neuen Konflikt münden, der den Schwelbrand auf dem Balkan weiter anfachen und sich dann auf die gesamte Region ausweiten werde. Unabhängig davon haben serbische und bosnisch-serbische Regierungsvertreter bereits damit angefangen, für einen Gebietsaustausch zu werben – sowohl in der EU als auch in den USA. Das erzählen zumindest westliche Regierungsvertreter. Als Gegenleistung schlagen sie die Anerkennung des seit 2008 unabhängigen Kosovo vor.

Deutschland und Frankreich müssen handeln

Selbst wenn Brüssel eine magische Formel für das Funktionieren der Erweiterung fände, würde dies kaum ausreichen, um die sich verschärfende Krise auf dem Balkan aufzuhalten. In den letzten zehn Jahren ist das Vertrauen in die EU-Erweiterung und in den Westen geschwunden. Das Erstarken populistischer Ideen in den USA und der EU, deren fragwürdige militärische Interventionen in Afrika, Asien und im Nahen Osten sowie ihre inkonsequente Haltung gegenüber den Kriegen in der Ukraine und in Palästina  – all dies hat gezeigt, dass sich die westlichen Mächte mehr und mehr von ihren Grundprinzipien und Werten entfernten. Sie werden die Lage auf dem Balkan nicht stabilisieren können, solange sie ihren moralischen Kompass nicht wiedergefunden haben. Die Antwort darauf liegt in den demokratischen Grundprinzipien, die sie zu globalen Führungsmächten gemacht haben, vielmehr als in ihrer politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Dominanz.

 „Es geht nicht mehr um leere Worte, sondern um eine mutige Tat, um eine Gründungstat“, erklärte Robert Schuman am 9. Mai 1950. Diese Worte schufen vor mehr als 70 Jahren die Grundlage für die Europäische Union und verhinderten so einen weiteren deutsch-französischen Krieg. Heute könnten dieselben Worte, sofern sie nicht auf taube Ohren stoßen, dazu beitragen, einen neuen Konflikt auf dem westlichen Balkan zu verhindern. Es liegt nunmehr an Deutschland und Frankreich, dem Motor der EU, darauf hinzuwirken, dass das Versprechen von Thessaloniki eingelöst wird – denn Instabilität in der Region bedeutet am Ende auch ein großes Sicherheitsrisiko für die EU.

Übersetzung: Norbert Heikamp

Der Autor

Srećko Latal (Coypright: Srećko Latal)

Srećko Latal berichtete in den 1990er Jahren als Korrespondent und Redakteur von Associated Press über die Kriege in Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Kosovo und Afghanistan. Später arbeitete er als Kommunikationsexperte und politischer Berater für die EU und die Weltbank, er schrieb aber weiterhin für einige der wichtigsten regionalen und internationalen Zeitungen und Zeitschriften. Latal nahm auch an zahlreichen Forschungs- und Analyseprojekten mit westlichen Think Tanks teil und arbeitete mit mehreren amerikanischen und britischen Beratungsunternehmen.

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