Template: single.php

Welche Rolle für Deutschland und Frankreich in Europa?

Bedingt führungsfähig? Eine Stimme aus dem Kosovo

Tefta Kelmendi

Statue von Ibrahim Rugova in Pristina (Copyright: Depositphotos)

11. Oktober 2024

In Folge 13 unserer Reihe „Bedingt führungsfähig?“ blickt Tefta Kelmendi auf die Auswirkungen des Krieges gegen die Ukraine auf den EU-Erweiterungsprozess – im Osten und auf dem Westbalkan. Dabei zeigt sie: Für Deutschland und Frankreich besteht die Herausforderung darin, die eigene Bevölkerung von der Notwendigkeit und den Vorteilen des Prozesses zu überzeugen. 

Der Krieg in der Ukraine formt die EU neu und verändert das Machtgleichgewicht auf dem Kontinent. Deutschland und Frankreich gelten zwar nach wie vor als Schwergewichte, andere Länder v.a. im Osten und Norden verfolgen aber verstärkte Ambitionen. Die daraus resultierende Verschiebung des Kräfteverhältnisses lässt sich nicht zuletzt durch die unterschiedlichen Ansichten der EU-Mitgliedstaaten zu zentralen Fragen wie der zukünftigen Sicherheitsarchitektur, den Beziehungen zu Russland und dem Verhältnis der Union zur östlichen Nachbarschaft erklären – Meinungsverschiedenheiten, die bereits vor der Invasion bestanden und bis heute andauern.

Das Vorgehen Russlands vor dem 24. Februar 2022 löste sehr früh heftige Reaktionen seitens der baltischen Staaten aus. Nach der Vollinvasion der Ukraine verpflichteten sie sich zusammen mit Polen, ihre Verteidigungshaushalte drastisch zu erhöhen. Sie forderten zudem eine ehrgeizigere Verteidigungs- und Sicherheitsagenda der EU sowie eine mutigere Politik gegenüber Russland. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis wurde daraufhin zum inoffiziellen Sprecher von Präsident Selenskyj, Verfechter einer beschleunigten Mitgliedschaft der Ukraine in EU und NATO. Kaja Kallas avancierte innerhalb kürzester Zeit zu einer der führenden EU-Politikerin Europas. Nun darf sie die EU im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vertreten.

Der Krieg und seine Auswirkungen

In Europa wird das künftige Machtgleichgewicht auch von innenpolitischen Entwicklungen abhängen. Deutschland und Frankreich unterstützen zwar die EU-Erweiterung nach Osten und auf den westlichen Balkan. Sie stehen allerdings vor der Herausforderung, ihre Bürger von deren Vorteilen zu überzeugen: nicht nur für die Union, sondern auch für ihre Beitrittskandidaten. Ein großes Wagnis angesichts des scheinbar unaufhaltsamen Erstarkens der rechtsextremistischen sowie russlandfreundlichen Kräfte und der damit einhergehenden politische Instabilität.

Der Krieg gegen die Ukraine hat auch das Potenzial der EU als geopolitischer Akteur verdeutlicht, wobei ihre Führungsrolle von der Geschlossenheit ihrer Mitgliedstaaten stark abhängig ist, wie sich bei der Umsetzung massiver und beispielloser Sanktionen gegen Russland zeigte. Er offenbarte aber gleichzeitig die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit bzw. ihrer Willigkeit, den Sieg der Ukraine sicherzustellen. Darüber hinaus hat die Debatte über die EU-Erweiterung unterschiedliche Ansichten zutage gefördert, was als Beleg dafür gesehen werden kann, dass sich die Führungsdynamik in dieser Frage verändert hat.

Tefta Kelmendi (Copyright: Tefta Kelmendi)

Als Reaktion darauf rief Deutschland, zusammen mit acht weiteren EU-Mitgliedsstaaten, die sogenannte „Freundesgruppe für qualifizierte Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union“ (4. Mai 2023) ins Leben. Das Ziel: die Effektivität und Geschwindigkeit von Entscheidungen der EU-Außenpolitik erhöhen. Österreich gründete seinerseits die informelle Gruppe der „Freunde des westlichen Balkans“, um den Westbalkanstaaten eine realistische und glaubwürdige Beitrittsperspektive zur EU zu bieten (21. Juni 2024).

In beiden Richtungen

Der Erfolg dieses anspruchsvollen Prozesses wird aber maßgeblich von den Beitrittskandidaten und ihrer Reformfähigkeit bzw. Reformwilligkeit abhängen. Der Krieg hat deutlich gemacht, dass die führenden Politiker in der Ukraine, in Moldawien, Montenegro und Albanien sich durchaus dessen bewusst sind. Andere Länder stehen vor größeren Herausforderungen, aufgrund innenpolitischer Kämpfe, ausländischer Einmischung sowie offener Konflikte an ihren Grenzen. Das gilt nicht zuletzt für Nordmazedonien, den Kosovo und Bosnien, drei Länder, in welchen das Misstrauen gegenüber der EU ohnehin stark zugenommen hat. Serbien, das größte Land auf dem Balkan, und Georgien nutzen ihrerseits die sich verändernde geopolitische Landschaft zu ihrem Vorteil und versuchen, einen Balanceakt zwischen Russland und dem Westen zu spielen.

Doch die Erweiterung ist keine Einbahnstraße. „Die Zeiten ändern sich, in dem Sinne, dass Europa auch Dinge anbieten und nicht immer fordern kann, und manchmal funktionieren Angebote besser als Forderungen“, sagte der ehemalige Erweiterungskommissar Olivér Várhelyi im Oktober 2022. Am Ende wird der Erfolg wird davon abhängen, wie die EU-Institutionen und -Mitgliedstaaten zusammenarbeiten und wie sie die Frage nach der Führung Europas „lösen“ – d.h. wie große und kleine Mitgliedstaaten, Gründerstaaten und neue Mitglieder, vorsichtigen Stimmen und ehrgeizige Vorreiter miteinander harmonieren und Kraft aus deren Diversität schöpfen. Nur wenn wir uns diese Unterschiede zu eigen machen und darauf aufbauen, kann Europa einen Weg nach vorne finden. Den gemeinsam zu beschreiten, ist eine Notwendigkeit.

Die Autorin

Tefta Kelmendi ist stellvertretende Direktorin für das Programm „Größeres Europa“ beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Bevor sie zum ECFR kam, arbeitete Kelmendi als Diplomatin an der Botschaft des Kosovo in Frankreich. Dort war sie u.a. für die Integration in internationale Organisationen zuständig. Zuvor arbeitete sie für das Ministerium für Europäische Integration. Kelmendi hat einen Master-Abschluss in internationaler Sicherheit (Sciences Po, PSIA). Sie forscht über Demokratie, EU-Erweiterung und Sicherheitsfragen in Osteuropa und dem westlichen Balkan.

In Zusammenarbeit mit

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Social media & sharing icons powered by UltimatelySocial