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Politischer Erlöser

Frankreichs Führungsproblem

Jacob Ross

Atmosphäre im Innenhof des Louvre am 7. Mai 2017 (Copyright: Alamy)

16. Oktober 2024

Frankreichs Fünfte Republik wird immer wieder auch „präsidentielle Monarchie“ genannt. Unter Emmanuel Macron ist die „Hyperpräsidentialisierung“ vorangeschritten, die auf der Faszination für politische Erlöser gründet. 2027 könnte Marine Le Pen diese Rolle übernehmen und würde als Präsidentin eine einzigartige Machtfülle erben.

Emmanuel Macron ist äußerst unbeliebt. 75 Prozent der Franzosen halten ihn laut Umfragen für einen „schlechten“ Präsidenten. Zur Arroganz, die ihm seit Beginn seiner Präsidentschaft zugeschrieben wird, hat sich zuletzt noch der Vorwurf der Verantwortungslosigkeit gesellt. Die Auflösung der Nationalversammlung, vor der ihn alle Spitzenvertreter des Staats gewarnt hatten, gab Macron Anfang Juni in einer fünfminütigen Ansprache bekannt. Die Regierungsbildung zog sich nach der Neuwahl dann über zwei Monate, Frankreich wirkte unregierbar. Dieser Kontrast – fünf Minuten Auflösung, gefolgt von zwei Monaten Suche nach parlamentarischen Mehrheiten – machte die Machtverhältnisse in Frankreich überdeutlich. So brachte es kürzlich der Politikwissenschaftler Bertrand Badie auf den Punkt.

Macron, der sich selbst seit 2017 gerne als „Jupiter“ bezeichnet hat, war vielen Franzosen nur Monate vor seinem Wahlsieg völlig unbekannt gewesen. Sein kometenhafter Aufstieg – ohne Parteiapparat und gegen das Duopol der französischen Politik, Republikaner und Sozialisten – gefiel den Wählern aber. In Portraits des neuen Präsidenten wurde in der Folge darauf verwiesen, wie sehr Macron die Literatur Stendhals liebt: Rot und Schwarz, die Kartause von Parma. Stendhals Helden, ihre Waghalsigkeit, die Risikobereitschaft und das Aufstiegsversprechen, das sie verkörpern, waren dem jungen Politiker offenbar Vorbilder. Und Macron schien auch eine gewisse Sehnsucht seiner Landsleute nach ebensolchen Figuren zu bedienen, die Frankreichs Geschichte wiederholt geprägt haben.

Sehnsucht nach einem Erlöser

Napoleon als Christus von Jean-Pierre- Marie Jazet (1788-1870) (Copyright: Wikimedia Commons)

Der französischen Faszination für politische Erlöserfiguren sind viele Bücher gewidmet worden. Der Historiker Jean Garrigues hat 2012 das wohl bekannteste zur Frage veröffentlicht, warum die Franzosen trotz der Revolution von 1789 und dem Sturz der Monarchie immer wieder von charismatischen Führern angezogen wurden. Der Autor beginnt seine Genealogie mit Napoleon Bonaparte, der die Republik bereits nach etwas mehr als einem Jahrzehnt abschaffte und das französische Volk für seine imperialen Abenteuer gewann. Ihm folgte eine ganze Reihe von Volkstribunen. Sein Buch widmet Garrigues vor allem Léon Gambetta, Georges Boulanger, Georges Clémenceau, Philippe Pétain und dem Gründervater der Fünften Republik, Charles de Gaulle.

Vieles trennt diese Figuren. Und doch vereint sie alle, dass ihr Aufstieg ohne die französische Faszination für politische Erlöser kaum möglich gewesen wäre. Garrigues beschreibt, wie sich im Herzen der französischen Demokratie ein archetypischer Wunsch nach solchen Führern erhalten hat, der sich aus der christlichen Eschatologie speise und aus einer Nostalgie, die bis heute der Monarchie nachtrauere. Entsprach Macron also diesem Wunsch und gründete sein Wahlerfolg auf diesem besonderen französischen Erbe?

Historische Kontinuität

Natürlich wäre es absurd, Macron direkt mit Napoleon zu vergleichen. Einige Kontinuitäten, die Garrigues und andere den französischen Erlöserfiguren zuschreiben, finden sich aber doch: Der Verweis auf die direkte Verbindung mit den Wählern etwa, dem das Parlament als potenziell störender Filter erscheint. Macrons Bereitschaft, mit der Ausrufung der Neuwahl viele seiner Verbündeten in der Nationalversammlung zu opfern, deutet dieses Demokratieverständnis an. Grundsätzlich erinnert sein Umgang mit dem Parlament und dem Parteiensystem an ein typisches Motiv, das Garrigues in seinem Buch nachzeichnet: Die Überzeugung, über den parlamentarischen Streitigkeiten zu stehen und das Wohl des gesamten Volkes zu vertreten. Seine Bewegung, so wiederholt es Macron seit 2017, sei weder rechts noch links, sondern, das ist impliziert, schlicht die richtige.

Jean Garrigues, 2024 (Copyright: Wikimedia Commons)

Das absehbare Ende von Macrons zweiter Amtszeit wirft eine ganze Reihe von Fragen neu auf. Seine Bewegung, aus der nie eine richtige Partei wurde, zerfällt zusehends in ihre ursprünglichen linken und rechten Einzelteile. Die Suche nach dem Nachfolger Macrons wirft deshalb nun die Frage auf, ob die Sehnsucht nach Erlösern eine Eigenart rechter Parteien ist. Dafür spricht, dass die Skepsis gegenüber dem Personenkult in Frankreich links immer größer war als rechts, das beschreibt auch Garrigues. Anders als rechte Charismatiker, von Bonaparte bis Pétain, die für den radikalen Bruch warben, stellten sich linke Politiker wie Gambetta oder Clémenceau zudem in die republikanisch-parlamentarische Tradition. Unvergessen bleibt François Mitterrand, der 1964 als aufstrebender linker Politiker Präsident de Gaulle die Personalisierung der Macht und einen „permanenten Staatstreich“ vorwarf.

Keine rechte Eigenheit

Doch die Kritik sollte Mitterrand viele Jahre später einholen. Zum Ende seiner Amtszeit erinnerte der Intellektuelle André Glucksmann ihn, der nun seit Jahren selbst Präsident war, an sein Essay: Es habe, so Glucksmann, erst einen „Mitterrand gebraucht, um de Gaulle wiederzuentdecken“. Wirklich war Mitterrand den Inszenierungen und dem Personenkult der Präsidentschaft schnell erlegen. Noch am Tag seines Wahlsiegs war er, begleitet von hunderten Journalisten, zum Pariser Pantheon gelaufen, um dort Rosen an den Gräbern linker Ikonen abzulegen und so zu zeigen, in welcher Tradition er sich sah.

Die Frage des Umgangs linker Politiker mit der Machtfülle des Staatspräsidenten wurde zuletzt während der Präsidentschaft François Hollandes diskutiert. Der hatte sich bewusst von seinem Vorgänger Nicolas Sarkozy abgegrenzt, der sich als Erbe großer historischer Persönlichkeiten sah, schnell als „Hyperpräsident“ bezeichnet wurde. 2009 schrieb der Journalist Alain Duhamel über Sarkozy, dieser belebe das (napoleonische) Konsulat wieder. Doch Hollandes Bruch mit diesem Stil und die zur Schau getragene „Normalität“ wurden nicht honoriert. Dass er 2017 auf eine erneute Kandidatur verzichtete, lag vor allem daran, dass ihm in den Augen vieler Franzosen die Gravitas für das Amt fehlte. Hollande hat seine Erfahrungen in einem kürzlich erschienenen Buch verarbeitet, das sich ausführlich dem Verhältnis französischer Linker zur Regierungsmacht widmet.

Dem System inhärent

Die politische Orientierung macht bei der Suche nach Gründen für die französische Faszination für Erlöserfiguren also einen Unterschied, ist aber nicht entscheidend. So liegt die Vermutung nahe, dass es die Verfassungsordnung Frankreichs ist, die noch immer solche Persönlichkeiten produziert. Diese Auffassung vertreten auch Verfassungsspezialisten und Historiker, wie etwa Nicolas Rousselier, Autor des 2015 veröffentlichten Buchs zur Macht der Exekutive, La Force de gouverner. Die historische Legitimation, auf die sich General de Gaulle als Anführer des freien Frankreichs und Widerstands gegen die nationalsozialistische Besatzung und Kollaboration des Vichy-Regimes berief, um seine Vision für die Verfassung der Fünften Republik zu begründen, speist sich laut dem Historiker heute aus der Institution des direkt gewählten Präsidenten.

Die Befreiung von Paris, 25. August 1944 (Copyright: Wikimedia Commons)

Folgt man Rousselier, ist Frankreichs Geschichte seit 1789 in Wahrheit die Geschichte zweier Republiken. Die Revolution und die folgende republikanische Tradition habe die demokratische Volksvertretung zum Ziel gehabt, später zum Ideal erhoben. Nach und nach, das beschreibt er anhand einzelner herausragender historischer Figuren wie Gambetta oder de Gaulle, sei aber die Handlungsfähigkeit des Staates wieder wichtiger geworden als basisdemokratische, häufig langwierige Abstimmungen der Volksvertreter. Gerade in Kriegs- und Krisenzeiten, angefangen mit dem französisch-preußischen Krieg, 1870, über die zwei Weltkriege, bis zum Algerienkrieg, habe die Exekutive schleichend die Macht von der Legislative zurückgewonnen.

Der Präsident als Oberbefehlshaber

Tatsächlich wird auch heute die Macht des Präsidenten in der Außen- und Verteidigungspolitik, der sogenannten „domaine réservé“, am deutlichsten. Die Verfassungspraxis, die sich seit 1958 etabliert hat, räumt ihm eine für Demokratien außergewöhnliche Machtfülle ein. Der Präsident ist der Garant „nationaler Unabhängigkeit [und] Integrität des Staatsgebiets“ (Artikel 5) und steht als Oberbefehlshaber den „Komitees der nationalen Verteidigung“ vor (Artikel 15). Außerdem bestimmt er die großen Linien der Außenpolitik, ratifiziert internationale Verträge (Artikel 52) und ernennt Botschafter (Artikel 14). Laut Verfassung ist in Fragen der nationalen Verteidigung zwar eigentlich der Premier federführend (Artikel 21). In der politischen Praxis hat dieser aber kaum Einfluss auf die französische Außen- und Sicherheitspolitik.

Die Kommandogewalt über die französischen Nuklearwaffen unterstreicht die Zuspitzung der Macht auf eine Person am eindrücklichsten. Die entsprechende Doktrin stellt den Präsidenten seit 1964 und dem Beginn der lückenlosen französischen Abschreckung ins Zentrum: Er entscheidet exklusiv über den Einsatz der Waffen. Die Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung Frankreichs hängt damit vom persönlichen Handlungsspielraum des Staatschefs ab. Kontrastiert wird diese Macht von der Ohnmacht des Parlaments, dem in Fragen der Außen- und Verteidigungspolitik nur die passive Kontrollfunktion bleibt. Französische Verfassungsrechtler und Soziologen kritisieren den „parlamentarischen Konformismus“ seit Jahren. Und der bereits zitierte Badie erkennt darin das Erbe des Jakobinismus, der, anders als ursprünglich idealerweise proklamiert, zudem mit der Personalisierung der Macht einhergeht: Gerade in Krisenzeiten versammelten sich die Parteien im Angesicht des Feindes der Nation in einer „Kultur des Korpsgeistes“ um die Regierung und den Präsidenten.

Zeit für Reformen

Die Neuwahl und die drohende Paralyse der französischen Politik verleiht solchen Diskussionen aktuell neue Dringlichkeit. Kritiker der „präsidentiellen Monarchie“ sehen sich angesichts der Entscheidungen Macrons bestätigt und fordern die Reform einer „dysfunktionalen Republik“. Einige Politiker wollen über Verfassungsänderungen und den Übergang in eine Sechste Republik reden. Eine Änderung des Wahlrechts für die Nationalversammlung, vom Mehrheits- zum Verhältniswahlrecht, ist eine der wenigen Forderungen, die parteiübergreifend Zustimmung findet. Der neue Regierungschef Michel Barnier deutete in seiner Regierungserklärung Anfang Oktober entsprechende Überlegungen an. Sie wird immer wahrscheinlicher, vor allem, weil sie mit geringem Aufwand, einer einfachen Mehrheit, ein starkes Signal zur Reformbereitschaft des politischen Systems setzen könnte. Ein anderer Grund wiegt aber vermutlich schwerer: Die Angst davor, dass Marine Le Pen die nächste Präsidentschaftswahl und anschließend auch eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung gewinnen könnte.

Die Sorge ist groß, dass Le Pen, gestützt auf eine starke Mehrheit in der Nationalversammlung, durchregieren könnte. Die derzeitige Fraktionschefin des Rassemblement National könnte sich auf viele Präzedenzfälle ihres Vorgängers berufen. Die wiederholte Nutzung des Artikels 49.3 der Verfassung zum Beispiel, der es Macrons Regierungen immer wieder ermöglichte, Gesetze ohne Abstimmungen im Parlament zu verabschieden, etwa bei der äußerst umstrittenen Rentenreform. Diese Entscheidungen sind Teil des politischen Erbes, dass Macron und seine Regierungen hinterlassen werden. Vor dem Hintergrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage, der aufgeheizten Diskussionen um Zuwanderung und innere Sicherheit und dem anhaltenden Krieg in der Ukraine könnte Le Pen versucht sein, sich über ihre Wahl hinaus als Retterin des Volkes zu präsentieren und ihre große institutionelle Macht zu nutzen – in dem Wissen, damit einem alten französischen Wunsch zu entsprechen.

Der Historiker Pierre Rosanvallon hat diesen Wunsch nach vertikalen Entscheidungsprozessen und kompromisslosen Lösungen ein „französisches kulturelles Defizit“ genannt. Ob es gelingt, über Reformen zu einer neuen politischen Kultur zu finden, oder ob wieder eine charismatische Führungspersönlichkeit die Franzosen verzaubert – dass muss die Zukunft zeigen.

Der Autor

© Jacob Ross
© Jacob Ross

Jacob Ross arbeitet als Research Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Seine Analysen fokussieren sich auf den Zustand der deutsch-französischen Beziehung und aktuelle Entwicklungen der französischen Außen- und Sicherheitspolitik. Aktuell beschäftigt er sich zudem mit rechten Oppositionsparteien in Frankreich und den Auswirkungen der US-Präsidentschaftswahl auf das deutsch-französische Verhältnis.

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