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Gelockerter Lockdown

Freiheit schmeckt anders

Stefanie Eisenreich

Auch nach den Lockerungen der Ausgangssperre bleiben Cafés und Restaurants vorerst geschlossen. © Shutterstock, Anna Lermolaieva

18. Mai 2020

Nach 55 Tagen strenger Ausgangssperre unternimmt Frankreich seit dem 11. Mai vorsichtige Schritte in Richtung Normalität. Während die einen so schnell wie möglich in ihren Alltag zurückkehren wollen, bleibt bei den anderen die Unsicherheit.

Zaghaft sucht die Sonne an diesem Montag einen Weg durch die dichten Wolken. Als sie es am Nachmittag endlich schafft, zieht es viele nach draußen. Äußerst beliebt ist in Paris an solchen Tagen der sehr zentral gelegene Canal Saint Martin: Hier am Wasser sitzen und die frische Luft genießen – was will man mehr nach einem fast zweimonatigen Lockdown?

Wüsste man es nicht besser, könnte man meinen, es sei ein ganz normaler Frühlingstag. Wenn nicht kurze Zeit später die Polizei die Ansammlungen auflösen und dem Spaß ein Ende bereiten würde. Es ist eben kein normaler Frühlingstag, sondern der erste Tag nach der coronabedingten Ausgangssperre. Das Beispiel zeigt den starken Wunsch vieler, wieder in die Normalität zurückzukehren.

Ob das funktioniert, wird sich allerdings erst in den nächsten Wochen zeigen. Während der umstrittene französische Virologe Didier Raoult von einem sicheren Ende der Pandemie spricht, befürchtet Gérard Raymond, Präsident der nationalen Gesundheitsorganisation France Asso Santé eine zweite Welle der Pandemie. Auch der französische Gesundheitsminister Olivier Véran sagte am Montag: „Wir werden weiterhin mit dem Virus leben müssen. Neue Ausgangssperren sind nicht auszuschließen.“ Restaurants und Cafés bleiben ohnehin vorerst geschlossen; die Vorschrift, Abstand z. B. vor und in Geschäften zu halten, gilt weiterhin, ebenso wie die Empfehlung, Schutzmasken zu tragen – in öffentlichen Verkehrsmitteln sind sie Pflicht.

Verlängerter Ausnahmezustand

Um einer zweiten Ausgangssperre vorzubeugen, hat Frankreich den Ausnahmezustand vorerst bis zum 10. Juli verlängert und lockert die Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche nur schrittweise und regional unterschiedlich. Das Land wurde in zwei zones eingeteilt. Paris und die Île de France sowie die Regionen Bourgogne Franche Comté und Grand Est gehören zur zone rouge, während der Rest des Landes zum „grünen Bereich“ gehört.

Für die Einteilung gelten drei Kriterien: die Zahl der Neuerkrankungen, die Zahl der zur Verfügung stehenden Tests sowie die Auslastung der Krankenhäuser. Verschlimmert sich die Lage in einem Gebiet, werden die Maßnahmen wieder verschärft. Je nach Gebiet gelten seit Montag verschiedene Regelungen. Während etwa in den roten Gebieten Park- und Sportanlagen bislang geschlossen bleiben, sollen Strände in der grünen Zone in den nächsten Tagen wieder öffnen dürfen – ohne dort verweilen zu dürfen.

Alle dürfen wieder ohne Passierschein auf die Straße, nicht aber über die Grenzen des Départements oder einen Radius von 100 Kilometern ohne triftigen Grund hinaus. Freunde und Familie dürfen wieder besucht werden; Treffen von mehr als zehn Personen sind indes untersagt. Die neue Freiheit hat folglich Grenzen – und daher für viele einen schalen Beigeschmack. So twittert der französische Kolumnist und Komiker Frédérick Sigrist: „Im Wald spazieren gehen – verboten! Am Strand liegen – verboten! In Geschäfte gehen und konsumieren – erlaubt, aber passt auf euch auf!“

Kritik an den Maßnahmen bleibt auch in Frankreich nicht aus. Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Ipsos haben Anfang Mai ergeben, dass über zwei Drittel der Bevölkerung mit dem Krisenmanagement der Regierung unzufrieden sind – nur in Spanien ist die Unzufriedenheit größer. Zum Vergleich: Trotz der in den letzten Tagen zunehmenden Proteste sind nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey rund zwei Drittel der Deutschen mit den Maßnahmen der Behörden einverstanden.

Die Angst bleibt

Anders als es die Szene am Canal Saint Martin am ersten Nachmittag nach dem Lockdown vermuten lässt, bleibt bei vielen die Angst vor dem Virus. Auch wenn die Zahl der an Corona Gestorbenen in Frankreich rückläufig ist, hat die Vorsicht oberste Priorität – Frankreich gehört mit den bis zum heutigen Tag über 28.000 Todesfällen zu den am meisten betroffenen europäischen Ländern. Diese Vorsicht zeigt sich nicht zuletzt an der schrittweisen und zaghaften Öffnung schulischer Einrichtungen.

Damoklesschwert Corona, © dokdoc.eu

Christine Lamdakkar ist Deutschlehrerin am Collège und Lycée Saint-Joseph in Frontignan, einem kleinen Ort am Mittelmeer, etwa 20 Kilometer von Montpellier entfernt. Während in der roten Zone die Schulen bis Juni geschlossen bleiben, sollen sie hier ab dem 18. Mai wieder öffnen, zunächst aber nur für die fünften und sechsten Klassen. Für alle anderen soll Ende Mai die Entscheidung getroffen werden, ob der Unterricht Anfang Juni wieder beginnen kann. „Das ist alles sehr kompliziert,“ seufzt die 46-Jährige. Die Rückkehr wird zudem für alle Schülerinnen und Schüler freiwillig sein. Die Klassen sollen sich abwechseln und die Kurse nicht in der üblichen Zeit stattfinden. Und das auch nur, wenn die Eltern einverstanden sind. Es handele es sich eher um eine Art Tagesbetreuung für die Kinder: „Wirklich Unterricht werden wir kaum geben können.“

Die strengen Auflagen sehen unter anderem zwei Meter Mindestabstand zwischen den Kindern vor und die Lehrer dürfen kein Unterrichtsmaterial austeilen. Christine Lamdakkar ist skeptisch: „Für viele ist es beängstigend, nach einer so strengen Ausgangssperre in die Normalität zurückzukehren,“ sagt sie. Insgesamt seien sich viele einig, dass eine Öffnung der Schulen verfrüht ist „Es wäre besser, zu viele Risiken zu vermeiden.“

Viele Franzosen sehen das derzeit ähnlich. Wer kann, arbeitet weiterhin im Homeoffice. Die Befürchtungen von Staus und Chaos im Nahverkehr haben sich trotz einiger Überlastungen während der Stoßzeiten nicht bewahrheitet; die französische Verkehrsstatistik Sytadin verzeichnete am ersten Tag nach dem Lockdown auf der Pariser Stadtautobahn Périphérique statt der üblichen 350 Kilometer nur 17 Kilometer Stau.  

Corona ist auch nach dem Lockdown omnipräsent.

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