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Karneval auf Réunion

Fröhlicher Klamauk

Ortwin Ziemer

Grand Boucan: seit 25 Jahren Kult auf Réunion. © TCO

30. Juni 2022

Das Wortspiel „Art Musée Vous“ (amusez-vous) war 2022 Motto des Carnaval Grand Boucan auf der Tropeninsel Réunion. Er findet seit 1997 traditionell im Juni statt, um, wie es auf dem Internet-Portal der Île de la Réunion heißt, im „Stadtzentrum des Badeordes St-Gilles zu begeistern“.

Unter der auch Ende Juni noch immer bleiernen Sonne des tropischen Winters bewegte sich ein farbenfroher Umzug durch die Straßen von St-Gilles, dem prestigeträchtigen Badeort an der Westküste Réunions, auch als kreolische Riviera bekannt. Zwei Jahre lang konnte infolge der Coronapandemie der bekannteste reunionesische Karneval Grand Boucan (kreolisch für „fröhlicher Klamauk“) nicht stattfinden; er hat in normalen Zeiten stets über 10.000 Schaulustige angezogen.

Ausgelassenes Treiben

2022 wurden nun alle bisherigen Besucherrekorde gebrochen. Zwischen 15.000 und 20.000 Zuschauerinnen und Zuschauer säumten die Avenue Charles de Gaulle in St-Gilles. Manche von ihnen waren schon am frühen Morgen gekommen, um einen Platz am Straßenrand zu ergattern, obwohl erst am frühen Nachmittag das Defilee der Trachten- und Tanzgruppen, der Brauchtums- und Musikvereine der verschiedenen auf Réunion beheimateten Volksgruppen und der mehr als zwanzig Umzugswagen der einzelnen Karnevalsgesellschaften begann. Aber die Menge strömte zunächst in sorglosem Durcheinander dem Umzug entgegen und flutete schließlich wieder zurück, sodass es nicht ganz einfach war, einen Blick auf das ausgelassene Treiben zu erhaschen.

Jongleure brillierten mit ihren Künsten zu den stimulierenden Rhythmen des traditionellen Maloya, während sich ein paar Schritte weiter Moringue-Kämpfer unter dem prasselnden Staccato der typisch kreolischen Schlaginstrumente und dem beißenden Rasseln der Basstrommel Roulèr in gewandten Finten und fast nur angedeuteten, schlangengleichen Bewegungen wendeten. Diese eigentümliche Mischung aus Kampfsportart und Tanz, die bis auf die dunkelsten Tage der Sklaverei im 18. Jahrhundert zurückgeht, war von Anfang fester und konstitutiver Bestandteil des Grand Boucan.

Auch in Europa vertrautere Elemente waren anzutreffen. Blaskapellen, Combos und Schlagzeuggruppen defilierten ebenso wie die vor allem von Jüngeren sehnlich erwarteten Wagen, von denen Bonbons, Konfetti oder Luftballons ins Publikum geworfen wurden.

König Dodo

Doch der absolute Clou des heiteren Spektakels nahte, als sich etwa in der Mitte des Umzugs seine Majestät Le Roi Dodo die Ehre gab und sich anschickte, die Huldigungen seiner scharenweise ihm zujubelnden Untertanen entgegenzunehmen. Die mehr als haushoch aufragende Galionsfigur des gesamten Umzugs, in wochenlanger liebevoller Kleinarbeit von den Organisatoren aus Pappmaschee gefertigt, bat, weithin sichtbar auf einen Gabelstapler gehievt, zur Audienz.

Nach zwei Jahren Abwesenheit ähnelte der Karnevalskönig, längst zu einer eigenständigen Figur der kollektiven kreolischen Mythologie geworden, in etwa einem Harlekin oder dem Policinello aus der italienischen Commedia dell’arte – auch wenn sein nicht zu übersehender Schnurrbart wohl eine Anspielung auf die unberechenbaren Kapricen Salvador Dalis sein sollte.

Die absolute Stretta

Als der rumorende Zug schließlich unter der wohlwollenden Ägide Dodos nach einem Parcours von fast drei Kilometern sein Ziel in der Nähe des Yachthafens von St-Gilles erreicht hatte, war die Dunkelheit bereits hereingebrochen. Rund zwei Stunden harrte Le Roi Dodo nun noch auf seinem Gablerstapler-Thron aus, als wollte er der Menge, wie zum Abschied und zum Abschluss des kunterbunten Treibens, noch einmal seinen karnevalesken Segen erteilen.

Noch aber fehlte die absolute Stretta, der krönende Schluss der Kundgebung, die diesem eigentümlichen, unvergleichlichen kreolischen Faschingsfest die ultimative Pointe verlieh. Gegen 20 Uhr trat seine Majestät schließlich seine letzte Reise an, die im weiteren Verlauf zwar sehr wohl heitere, zugleich aber auch einen Hauch burlesker Züge annahm. Noch einmal diente der Gabelstapler als Katafalk, um König Dodo zur nahegelegenen Plage des Brisants zu geleiten, wo er seiner letztlichen Bestimmung zugeführt wurde.

Während die kaum mehr überschaubare Menschenmenge auf diesem ausgedehnten Sandstrand zuvor bereits einem jener unvergesslichen, blutroten tropischen Sonnenuntergänge über der Lagune beigewohnt hatte, harrte sie nun mehr oder minder gelassen der Dinge, die da kamen. Als nun der Faschingsherrscher endlich mit seiner Suite eintraf, ging ein erwartungsvolles Raunen durch die Menge. Es herrschte völlige Dunkelheit, unabdingbare Voraussetzung dessen, was nun folgte.

Schmelztiegel der kreolischen Kultur

Mindestens 20 Feuerschlucker eskortierten Le Roi Dodo, der, von seinem Podest aus von jeder Stelle des langgezogenen Strandstreifens zu sehen, noch einmal in die Menge zu grüßen schien. Wie auf ein unsichtbares Signal hin begannen unvermittelt Feuerzungen an der hünenhaften Gestalt König Dodos zu lecken und zu nagen, bevor er, wenige Minuten später, in einem einzigen Funkenregen wie in einem geisterhaften Spuk in sich zusammenstürzte – auf etwas verwirrende Art einem Freudenfeuer im Sinne eines Wintersonnenwendfestes der südlichen Hemisphäre gleichendes Schauspiel – wie eine gespenstisch die Sinne betäubende Fata Morgana.

Doch noch fast im selben Moment des phantasmagorischen Sturzes von König Dodo wurde ein prachtvolles Feuerwerk am Nachthimmel von St-Gilles gezündet und holte die einen Augenblick lang wie versteinert verharrende Menge in die Wirklichkeit zurück. Es war, als atmete ein ganzes Inselvolk nach mehr als zwei Jahren bedrückender coronabedingter Lockdowns und Beschränkungen des Alltagslebens gerade auch in tropischen Gefilden befreit auf.

Spätestens in diesem Moment hat der Karneval des Grand Boucan endgültig Volksfestcharakter angenommen, und wurde er zum Brennglas der reunionesischen Identität und zum Schmelztiegel der untrennbar damit verschränkten und darin verwobenen kreolischen Kultur.

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