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Médoc-Marathon

Großes Kino im Weinbaugebiet

Georg Berg

Film ab im Médoc : die Kamera passt zum diesjährigen Marathon-Motto, © Georg Berg

17. September 2022

Beim Médoc-Marathon kostümiert man sich, trinkt auf der Strecke Rotwein, und man darf sich viel Zeit für den gut 42 Kilometer langen Lauf nehmen. An der Strecke liegen weltberühmte Weingüter wie Château Mouton-Rothschild oder Château Beychevelle und laden zur Verkostung ein.

Paulliac an der Gironde-Mündung steht an diesem Septembertag 2022 ganz im Zeichen des Marathons, für den die Region Médoc in der ganzen Welt mindestens so bekannt ist, wie der Wein, der hier in Barriquefässern reift. In einer Turnhalle der 50 Kilometer von Bordeaux entfernten Kleinstadt hole ich mir meine Startunterlagen ab. Vor den Türen zu den Umkleidekabinen mache ich die Bekanntschaft mit einem Mann, der die Aufmerksamkeit vieler auf sich zieht: der Mediziner Hubert Rocher, der Erfinder des Marathon du Médoc. Er hat gerade eine Widmung in ein Exemplar seines dicken Buches geschrieben, in dem er anekdotenreich die Geschichte eines Laufs erzählt, der zum Kult wurde und dessen vier Grundpfeiler la santé (die Gesundheit), le sport (der Sport), la convivialité (die Geselligkeit) und la fête (das Feiern) sind.

Im Gespräch stellt sich heraus, dass Hubert mit einigen Freunden vier Jahre vor mir den New-York-City-Marathon gelaufen ist. Die immer schon gute Stimmung beim New Yorker Marathonlauf hat ihn bereits 1985 mit zwei weiteren Ärzten, einem Wärmetechniker und einem Önologen dazu ermutigt, auch in Frankreich einen stimmungsvollen Marathon ins Leben zu rufen – einen mit zudem besonderem Esprit: den Marathon des Châteaux du Médoc.

In Kostümen neben Reben

Nicht nur, dass man sich bei diesem Marathon (bis zu sechseinhalb Stunden) Zeit lassen darf und Rotwein (natürlich aus dem Médoc) als „Erfrischung“ dient – die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind vor allem bunt kostümiert! So defilieren 2022 bereits einige Stunden vor dem Start Filmstars zu bekannten Filmmelodien über die Uferpromenade von Pauillac: Hand in Hand vertreiben sich Cäsar und Kleopatra die Zeit; Superman trifft auf die Schlümpfe (les Schtroumpfs), und ein Heer von Marilyn Monroes wirft Indiana Jones Kusshändchen zu.

Von Beginn an war der Médoc-Marathon ein Kostümfest und seit 2014 steht er jährlich unter einem anderen Motto. Nach den Super-Heros 2021 ist es in diesem Jahr das Kino: Le Marathon des Châteaux du Médoc fait son cinéma (Der Marathon der Médoc-Schlösser zieht eine Show ab). Ich habe mir ein T-Shirt mit einem Motiv von Max Headroom übergestreift. Diese Cyberpunk-Filmserie (Trailer auf youtube) ist 1985 erschienen (also dem Jahr des ersten Marathons im Médoc), und er hat in dieser Zeit die Filmsprache genauso revolutioniert, wie der Marathon du Médoc die Marathon-Szene.

Im Starterfeld schießen mir wie wohl so manch anderem Einzelläufer viele Gedanken durch den Kopf. Wie teile ich mir die Zeit ein? Ist es ratsam, an jedem Verpflegungsstand Station zu machen? Oder sollte ich zumindest zu Beginn ein normales Marathon-Tempo anstreben? Aber umgeben von so vielen gut gelaunten Gruppen und in dem Wissen, dass auch die eher unsportlich aussehenden Läufer die notwendige Fitness von ihrem Hausarzt attestiert bekommen haben, verflüchtigen sich meine Zweifel schnell.

Mit Marilyn Monroe und Charly Chaplin im Stau

Neben mir versuchen zwei Affen vom Planet of the Grapes vergeblich, ein Selfie hochzuladen: Das Netz ist total überlastet, weil alle noch schnell ein Foto oder Video verschicken wollen. Während die schnelleren Läufer freie Bahn haben, stehe ich erst einmal im Stau. Genauso wie Jesus, Marilyn Monroe und Charly Chaplin.

Das Gewicht der Sieger wird übrigens mit bestem Grand Cru aufgewogen. Schade, dass die besten Marathonläufer immer so wenig wiegen. Die ersten Verpflegungsstände lasse ich (68 Kilo) dennoch lieber aus; das Tempo hat sich nach etwa drei Kilometern endlich auf ein leichtes Traben gesteigert, als wir den Frühstücksstand mit Croissants erreichen. In Vorfreude auf kulinarische Highlights laufe ich aber auch hier weiter.

Etappenziel Weinprobe, © Georg Berg

Die Châteaux-Verkostungen hinterlassen ihre ersten Spuren: Auf den meisten Kostümen befinden sich bereits nach wenigen Kilometern mehr oder weniger dezente Rotweinflecken; Schneewittchens Perücke und auch die Vollbärte der sieben Zwerge stecken nun irgendwo im Hosenbund; nur bei den Marx Brothers sitzt die Krawatte noch wie beim Start. Hoffentlich hat niemand einen Filmriss!

Ein Teppich rot wie Wein

Ich habe aufgehört, Kilometer, Stunden oder Durchschnittsgeschwindigkeit zu zählen. Schließlich habe ich verstanden, worauf es neben Sehen und Gesehenwerden hier ankommt: Auf den letzten 12 Kilometern geht es bei diesem Marathon nämlich vor allem um den kulinarischen Genuss. Auf einem Tablett werden zunächst Cannelés Bordelais angeboten. Sie sind köstlich, sodass ich am liebsten immer wieder an diesem Stand vorbeikommen würde. Am Austern-Stand habe ich dazugelernt und begnüge mich nicht mit einem halben Dutzend.

Jede Läuferin und jeder Läufer wird wie ein Star behandelt. Vor dem roten Teppich am Ziel (die Filmfestspiele lassen grüßen) geht es (wie am Set) noch einmal kurz in die Maske, um perfekt gestylt und mitunter in Schlangenlinien durch die Ziellinie zu gelangen. Hier werden alle mit Küsschen, einer Medaille – und einer Flasche Médoc empfangen.

Mehr auf meinem Blog Tellerrand-Stories

Fakten zum Médoc-Marathon

Der offizielle Titel der seit 1985 jährlich am 2. Samstag im September stattfindenden Veranstaltung lautet Marathon des Châteaux du Médoc. 2022 fand der Lauf zum 36. Mal statt und stand unter dem Motto Le Marathon des Châteaux du Médoc fait son cinéma (Der Marathon der Médoc-Schlösser zieht eine Show ab).

2022 haben 8.500 Läufer aus 77 Ländern teilgenommen; die meisten (4.801) stammten aus Frankreich. Mit 1.082 Teilnehmern stellte Großbritannien den größten Ausländeranteil, gefolgt von Japan und China. Deutschland lag mit 285 Teilnehmerinnen und Teilnehmern an fünfter Stelle.

Der Médoc-Marathon war von Anfang an weniger Sportveranstaltung als Volksfest, das an Karneval erinnert: Fast alle Läuferinnen und Läufer treten in phantasievollen, bunten, schrillen Kostümen an; die wenigsten interessieren sich für die Stoppuhr.

24 % der Strecke verlaufen über Schotterwege durch Weinberge, dabei werden 194 Höhenmeter überwunden. Die Zielzeit ist auf 6:30 Stunden begrenzt; langsamere Läufer werden nur herausgenommen, wenn sie in der ersten Hälfte des Laufs nicht im dafür notwendigen Tempo mithalten konnten.

Wer es bis Kilometer 23 schafft, den erwarten zum Wein landestypische Spezialitäten. Auf den letzten zwölf Kilometern reihen sich dann Stände mit Cannelés, Austern, Entrecôte, Käse usw. aneinander. In Weingütern mit so klangvollen Namen wie Lafite-Rothschild, La Haye oder Phélan-Ségur sind Stopps für Verkostungen möglich. Neben Kaltgetränken stehen an 23 Erfrischungs-Ständen auch edle Tropfen, Grands Crus, bereit.

Am Vorabend des Laufs veranstaltet die Ärztevereinigung Association des Médecins Marathoniens Médocains (AMMM) traditionell ein sportmedizinisches Kolloquium.

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