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400 Jahre Jean de La Fontaine

Lupus est homo homini

Steffen Kolls

© Federico Di Dio, Unsplash

9. Juli 2021

Als einer der bedeutendsten Vertreter der französischen Klassik wird Jean de La Fontaine bis heute mit Begeisterung gelesen. Kein Wunder, denn er war seiner Zeit weit voraus und viele seiner Fabeln sind nach wie vor aktuell. Am 8. Juli 2021 jährte sich sein Geburtstag zum 400. Mal.

La Fontaines Fabelwerk dient nicht nur der Unterhaltung sondern ist aus gutem Grund auch Gegenstand unterschiedlichster Interpretationen und zeithistorischer Untersuchungen. Einerseits sind seine Fabeln (Erstausgabe: 1668) sprachliche Kunstwerke im Hinblick auf Metrik und Erzähltechniken, durch die aus einer ursprünglich didaktischen Gattung große klassische Dichtung wird. 

Die Tierwelt als Spiegelbild von Politik und Gesellschaft

Andererseits ist das Werk La Fontaines hochpolitisch: Die Fabeln gelten als satirische Oppositionsdichtung, die sich gegen den Absolutismus von Ludwig XIV. richtet. So erfährt man in der Fabel Der Löwe und die Mücke (Le lion et le moucheron), wie auch die kleinsten Geschöpfe den König (nicht nur im Tierreich) verärgern können; in Der Hof des Löwen (La cour du lion) sind Verhalten und Sitten am Hof selbst Thema.

La Fontaine kritisiert aber auch menschliche Eigenschaften wie Neid, Habgier und Eitelkeit. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die Fabel Der Frosch, der so groß sein wollte, wie der Ochse (La grenouille qui se veut faire aussi grosse que la boeuf). Er „dehnt voller Neid sich aus und bläht sich auf und müht sich ab“, bis er schließlich platzt.

Doch was genau macht die Fabeln La Fontaines so interessant, dass sie auch heute noch von Groß und Klein mit Begeisterung gelesen werden? Eine Antwort auf diese Frage liefert der allegorische Ansatz der Fabeln: In seinen Texten stellt La Fontaine einen Sinnbezug zwischen Mensch und Tier her.

Jean de La Fontaine, © Musée Jean de La Fontaine, Château-Thierry

Er überträgt menschliche Eigenschaften und Wesenszüge auf die Tierwelt und verleiht dem Geschehen dadurch einen fiktiven Charakter. Dieser erlaubt zum Beispiel Gesellschaftskritik oder zwischen den Zeilen gar die Aufforderung, sich vor der Willkür des Königs in Acht zu nehmen. Beispiele hierfür sind Die pestkranken Tiere (Les animaux malades de la peste) und  Die Ratsversammlung der Ratten (Conseil tenu par les rats), bei der die Versammlung der Ratten ohne Ergebnis bleibt, da sich keine findet, die den Beschluss, dem gefährlichen Kater ein Glöckchen umzuhängen, umsetzen möchte.

Der König der Tiere

Die Gesellschaft in Tiergestalt ist in den Texten La Fontaines ähnlich hierarchisch aufgebaut wie die französische Gesellschaft des 17. Jahrhunderts. An oberster Stelle steht dabei selbstredend der Löwe: der omnipräsente Monarch Ludwig XIV., der wie kein zweiter seine Epoche prägte und in Der kranke Löwe und der Fuchs (Le lion malade et le renard) als übermütig und erbarmungslos charakterisiert wird. Hierarchisch unter dem Löwen stehen Bären und Tiger, dann kommen Wolf und Fuchs. Ganz unten: Kleintiere wie Frösche und Mäuse, aber auch Fliegen und selbst Austern:

  • Der Löwe, der Wolf und der Fuchs (Le lion, le loup et le renard)
  • Die Frösche, die einen König erbitten (Les grenouilles qui demandent un roi)
  • Die Stadtmaus und die Landmaus (Le rat de ville et le rat des champs) 
  • Die Auster und die Streitsüchtigen (L‘Huître et les Plaideurs)

Dem Dichter gelingt es, den jeweiligen Tieren bestimmte soziale Gruppen zuzuordnen und dabei ein Abbild der Gesellschaft zu schaffen. So repräsentieren Löwe, Wolf und Fuchs König und Adel am Königshof, während Frösche, Ameisen und Ratten das gemeine Volk verkörpern.

Individuum und Gesellschaft

Insbesondere im Hinblick auf die zeit- und gesellschaftskritische Intention der Fabeln ist der hierarchische Aufbau von großer Bedeutung, da sich hieraus gesellschaftliche Abhängigkeiten und individuelle Handlungsmuster der einzelnen Tiere ableiten lassen, die sich wiederum auf die realhistorische Umwelt La Fontaines übertragen lassen. Ein Beispiel hierfür ist der Fuchs, der sein Bemühen um die Gunst des Königs mit hinterlistigen Schmeicheleien, Affären, Intrigen und Rangstreitigkeiten veranschaulicht.

Mit Löwenmähne und Löwentattoo: ein Standbild Ludwigs XIV. in Paris, © Vladislav Gurfinkel, Shutterstock

Interessant ist dabei die Rolle des Individuums und der Gesellschaft, da sich die Gesellschaftsstruktur während des Ancien Régime sukzessive veränderte und letztendlich in der Französischen Revolution mündete. Während die französische Gesellschaft des 16. Jahrhunderts noch eindeutig stratifiziert war, erfährt dieses ständisch verfasste System zu Lebzeiten La Fontaines bereits einen signifikanten Wandel. Bis dato wurde dem einzelnen Mitglied der Gesellschaft, abgesehen vom König, keine Autonomie und kein eigener Wille zugeschrieben.

Erst ab dem Beginn des 17. Jahrhundert wird das Individuum nicht mehr primär ständisch definiert, sondern in der Gesellschaft verortet, wodurch es eine gewisse Relevanz bekommt. Insbesondere die Entstehung von Individualität und die Emanzipation des Individuums macht die Fabeln so interessant. Während ein Kind mithilfe unterschiedlicher Tiercharaktere über einen affektiven Zugang zu einer bestimmten Moral für das Leben gelangt und sei es nur, um als kleines Lamm dem „bösen Wolf“ nicht blind über den Weg zu trauen, erkennen Erwachsene gesellschaftskritische Aspekte wie die Tatenlosigkeit der Gesellschaft angesichts einer politischen Unterdrückung (Die Ratsversammlung der Ratten). La Fontaine übt Kritik, thematisiert und propagiert dabei die Ideale Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit avant la lettre und bereits hundert Jahre vor der Aufklärung.

Ruf nach Freiheit

Erst viele Jahre nach La Fontaines Tod am 13. April 1695 in Paris bringt einer der bekanntesten französischen Philosophen der Aufklärung, Jean-Jacques Rousseau, seine Gesellschaftskritik und den Ruf nach Freiheit in seinem Du Contrat social ou Principes du droit politique / Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts (1762) zum Ausdruck: „L’homme est né libre et partout il est dans les fers.“ (Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten.)

So im Der Wolf und der Hund (Le loup et le chien): Ein Wolf nähert sich hungrig und abgemagert einem wohlgenährten Hofhund, dem er in einem Kampf nicht gewachsen wäre. Der Hund empfiehlt dem Wolf, die Wälder zu verlassen, und zählt ihm die Vorteile auf, die ein Leben im Dienste und in Abhängigkeit vom Menschen bietet. Zunächst ist der Wolf von den Ausführungen des Hundes angetan. Die kräftige Statur des Hundes scheint im Gegensatz zu der des unterernährten Wolfes für ein solches Leben zu sprechen.

Dann aber sieht der Wolf ein Band am Hals des Hundes, das dieser kleinzureden versucht, den Wolf aber zur überstürzten Flucht veranlasst (Qu‘est-ce là  ? lui dit-il. Rien. Quoi ? Rien ? Peu de chose. / Was ist das da? sagt er ihm. Nichts. Was? Nichts? Nicht der Rede wert). Der Preis der Unfreiheit ist ihm zu hoch: „Et ne voudrais pas même à ce prix un trésor.“ / Und um diesen Preis möchte ich nicht mal einen Schatz).

Menschliches, Allzumenschliches

Das gesamte Fabelwerk La Fontaines ist durchzogen von Passagen, die die unterschiedlichen Ausprägungen des menschlichen Charakters vorführen und bis heute Wiedererkennungswert haben.

In der Der Rabe und der Fuchs (Le corbeau et le renard) etwa treffen die hinterlistigen Schmeicheleien des Fuchses auf den Stolz und die Eitelkeit des Raben. Letzterer hält in seinem Schnabel einen Käse, den der Fuchs gerne hätte. Also lobt er ihn für seine Schönheit lobt und bittet ihn, „seine schöne Stimme vorzuführen“. Als der Rabe dieser Bitte geschmeichelt nachkommt, „reißt (er) den Schnabel weit auf (und) lässt seine Beute fallen“.

Die Fabeln La Fontaines wurden im Lauf der Jahrhunderte immer wieder neu verlegt. © Adobe Stock

In der ebenso berühmten Fabel Die Grille und die Ameise (La Cigale et la Fourmi) thematisiert La Fontaine die Frage „Arbeiten um zu leben oder leben um zu arbeiten?“, die auch bei der Charakterisierung von Deutschen und Franzosen immer wieder eine Rolle spielt. Während die Grille den ganzen Sommer über „singt“, sorgt die Ameise vor, sammelt Korn und legt allerlei Vorräte an, die sie angesichts des Lebenswandels der Grille in der Not des Winters nicht mit ihr zu teilen gedenkt: „Vous chantiez ? (…) Et bien, dansez maintentant ! / Ihr habt gesungen? (…) Nun gut, dann tanzt jetzt.“

Ein weniger bekanntes Beispiel für die Kritik La Fontaines am Menschen ist die Fabel Die Gefährten des Odysseus (Les compagnons d’Ulysse). In ihr werden die Gefährten von Odysseus in Tiere verwandelt, haben aber die Möglichkeit, wieder Menschen zu werden. Jedes der befragten Tiere entscheidet sich allerdings für einen Verbleib im tierischen Zustand. Der Wolf meint, dass sich die Menschen untereinander ja eh verhielten wie Wölfe: „Manchmal erwürgt ihr euch wegen eines Wortes: / Seid ihr untereinander nicht auch Wölfe?“ („Pour un mot quelquefois vous vous étranglez tous: / Ne vous êtes-vous pas l´un à l´autre des loups ?“).

Daher sei es „besser“, so sein Fazit, „ein Wolf zu sein als ein Mensch“ („Il vaut mieux être un loup qu‘un homme“).

Links:

Fabeln von Jean de La Fontaine in deutscher Übersetzung und im französischen Original

Jean de La Fontaine in Château-Thierry

Animalisches

Die französische Sprache ist wie die deutsche voller Mensch-Tier-Vergleiche – sowohl sinnbildlich als auch was das Verhalten und die körperliche Beschaffenheit angeht: „serrés comme des sardines“ (wie Sardinen in der Sardinenbüchse), „vaches à lait“ (Melkkühe), „rusé comme un renard“ (schlau wie ein Fuchs), „chant du cygne“ (Schwanengesang), „myope comme une taupe“ (blind wie ein Maulwurf – und nicht wie im Französischen kurzsichtig, was den Sachverhalt besser trifft) …

Der Mensch kann stolz wie ein Hahn sein (fier comme un coq), rehäugig (aux yeux de biche), störrisch wie ein Esel (têtu comme un âne), ein Sündenbock (un bouc émissaire), er vergießt Krokodilstränen (il pleure des larmes de crocodile) usw.

Häufig weichen die beiden Sprachen beim Vergleich von Mensch und Tier voneinander ab: „fort comme un bœuf“ (bärenstark statt stark wie ein Ochse), „un chaud lapin“ (ein geiler Bock statt ein heißer Hase), pas un chat (kein Schwein statt keine Katze), une tête de linotte (ein Spatzenhirn statt das eines Hänflings), „une poule“ (ein Huhn statt einer Bordsteinschwalbe), „panthère“ (Panther statt Drachen; es geht – rein sprachlich – um Frauen), „connu comme le loup blanc“ (bekannt wie ein bunter Hund statt wie der weiße Wolf).

Manche französischen Tiervergleiche haben keine deutsche Entsprechung (und manche deutschen keine französischen, z. B. Schwein haben = avoir du bol): „Il y a anguille sous roche“ (es ist etwas im Busch statt ein Aal unter dem Felsen), „avoir du chien“ (das gewisse Etwas oder Pep statt Hund haben), „avoir d’autres chats à fouetter“ (andere Sorgen haben statt andere Katzen zu peitschen), „faire des yeux de crapaud mort d’amour“ (jemanden anschmachten statt Augen einer aus Liebe gestorbenen Kröte machen), „crier comme un putois“ (Zeter und Mordio statt wie ein Iltis schreien), „pousser des cris d’orfraie“ (lauthals protestieren statt schreien wie ein Seeadler), „une peau de vache“ (Achtung, generisches Maskulinum: ein strenger Chef oder Lehrer statt eine Kuhhaut), „une vieille taupe“ (eine alte Schachtel statt ein alter Maulwurf), „une grenouille de bénitier“ (eine Betschwester statt ein Frosch im Weihwasserbecken); in Deutschland ist man fit wie ein Turnschuh, in Frankreich dafür frisch wie ein Rotauge: „frais comme un gardon“.

„Cougar“ (eigentlich ein Puma) indes bezeichnet in beiden Sprachen dasselbe: reifere Frauen, die (deutlich) jüngere Liebhaber bevorzugen.

Jörg-Manfred Unger

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