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„Die Dinge“

Keine Nebensache

Angela Berg

Das Safety Bicycle von 1889 galt als „Fahrgestell“ der weiblichen Emanzipation. © Kein & Aber

26. November 2022

Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten: Dinge weiblichen Alltags wie Bidet, Lippenstift oder Korsett sind für die deutsch-französische Journalistin Annabelle Hirsch kein nebensächlicher Kleinkram, sondern ein detailreicher Zugang beim Verstehen der gesellschaftlichen Stellung von Frauen im Wandel der Zeit.

Annabelle Hirsch, Jahrgang 1986, hat deutsche und französische Wurzeln. In München und Paris studierte sie Kunstgeschichte, Theaterwissenschaften und Philosophie. Sie schreibt auf Deutsch und ist literarische Übersetzerin aus dem Französischen. Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten ist ihr erstes Buch.

Die Idee dazu kam ihr bei einem Besuch im Haus der Schriftstellerin Karen Blixen. Doch es war nicht der Ort an der dänischen Küste, der sie faszinierte, sondern vielmehr ein recht belangloses Detail. Die vielen Kupfertöpfe, die sich in einer Ecke der Küche stapelten. Sie begann darüber nachzudenken, was diese Töpfe über das Leben und den Alltag der dänischen Schriftstellerin aussagten und stellte bei ihren Betrachtungen fest, Kochtöpfe und andere Alltagsgegenstände sind das Gegenteil von Monumenten. Sie gedenken keiner gewonnenen Schlacht und auch keiner Revolution“, heißt es gleich in der Einleitung. Sie gehören nicht zur sogenannten großen Geschichte, sondern zum intimen Bereich. Dem Leisen, dem Übersehenen. Jenem Bereich, der lange als weiblich und somit als unwichtig galt.

Bikini, Goldenes Modell von 1947, entworfen für die Gewinnerin des „Miss Réard“-Schönheitswettbewerbs, © Kein & Aber

Mit dieser Ausgangsidee im Kopf, beginne ich die Lektüre. Bereits das Inhaltsverzeichnis ist drei Seiten lang und umfasst eine Zeitspanne von 30.000 v. Chr. bis 2017. Soll ich in den Jahrhunderten springen oder diese Wunderkammer der Weiblichkeit chronologisch entdecken?

Fortschritt und Rückschritt

Ausgerechnet beim Bidet werde ich schwach und blättere bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts direkt zum Hof von Versailles. Diese Zeit steht, insbesondere in den mondänen und adeligen Kreisen, für eine kurze Phase einer freieren weiblichen Sexualität. Bevor ausgerechnet die Französische Revolution die Freiheiten der Frauen wieder beschnitt.

Im vorrevolutionären Versailles benutzte die einflussreiche Marquise de Prie ein brandneues Möbelstück zur Körperpflege ihres Intimbereichs. Dies tat sie gerne auch während sie Besucher empfing – wie auf einem Pferd mit hochgezogenem Rock: Ein Bidet war im Französischen ursprünglich der Name für ein kleines, robustes Pferd …

Die Geschichte der Frauen verläuft nicht linear. Die von Annabelle Hirsch ausgewählten Objekte erzählen von Entwicklungen und Rückentwicklungen, von Freiheitsdrang und Rebellion, von Mythen und Normen, mit denen man Frauen unterdrückte oder es zumindest versuchte. Es ist ein Blick auf die Geschichte der Frauen des Westens, auf Gegenstände des Alltags, der Mode, der Medizin oder der Kunst.

Fokus auf Frankreich und Deutschland

Bei ihrer Auswahl merkt man deutlich, dass Annabelle Hirsch in Deutschland und Frankreich aufgewachsen ist. Ihr Faible für weibliche Literatur schwingt in vielen der Kapitel mit – und ihr Gespür für unscheinbare Dinge, die dank beharrlicher Recherche zu spannenden Betrachtungen über das Leben von Frauen in der Vergangenheit werden. Ihr Blick geht weit zurück, auch in Jahrhunderte und Epochen, die weniger bekannt sind, und es sind Objekte von Frauen aller Gesellschaftsschichten.

Enovid, Antibabypille von 1960, © Kein & Aber

Neben naheliegenden Dingen, wie der gesellschaftspolitisch höchst relevanten, 1960 auf den Markt gebrachten Antibabypille, dem Lippenstift, dem Korsett oder dem Minirock liegt das Hauptaugenmerk auf Objekten, die einem nicht gleich in den Sinn kommen.

Viele der 100 Objekte stammen aus dem französischen Kulturkreis, wie ein Elfenbeinspiegel aus dem 13. Jahrhundert, der an das Leben und Wirken der willensstarken Eleonore von Aquitanien erinnert, der Modetrend der parfümierten Handschuhe, der, ausgelöst durch Trendsetterin Katharina von Medici, Grasse von einer Stadt des Leders zu einer Stadt der Düfte machte oder Coco Chanel, die Frauenkleidung mit Taschen versah und für Furore sorgte – ein klares Statement gegen die historische Taschenlosigkeit der Frauen, denn eine praktische Hosentasche blieb ihnen über Jahrhunderte verwehrt. Ihre Habseligkeiten trugen Frauen in Stoffbeuteln bei sich, der sogenannten Kleidertasche, die umständlich zwischen die vielen Kleiderschichten geschnürt wurde.

Der Krieger ist eine Kriegerin

Es geht der Autorin auch um ein Überdenken der von uns manchmal allzu arglos übernommenen Annahmen über die Rolle der Frau in der Vergangenheit. Eines der schönsten Beispiele hierfür spielt weder in Frankreich noch in Deutschland. Es zeigt ganz wunderbar das beharrliche Festhalten an Rollenmustern, für das Männer, in diesem Fall Wissenschaftler, bereit sind, ihre eigenen Thesen über den Haufen zu werfen.

Im Kapitel Hnefatafl-Spiel geht es um kleine Kugeln aus Elch-Horn, die u. a. im Grab eines Wikinger-Kriegers lagen. Im 19. Jahrhundert wurde dieses Grab aus dem 10. Jahrhundert in Schweden entdeckt. Doch 2017 ergab ein DNA-Test, dass der Krieger mit den prächtigen Grabbeigaben wohl eine Kriegerin und sogar Militärstrategin war – woraufhin einige Wissenschaftler Zweifel an der bisherigen Lesart von Gräbern bekamen. Annabelle Hirsch merkt an dieser Stelle an, es könne auch sein, dass Wikinger das Konzept „Geschlecht“ einfach anders dachten, dass es nebensächlich war und nicht rollenbestimmend.

Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Ausgabe von 1949, © Kein & Aber

Mit Ausnahme der Nonnenkrone von Hildegard von Bingen findet man erst ab dem 20. Jahrhundert Objekte aus dem deutschen Kulturraum. Darunter eine Postkarte aus dem Ersten Weltkrieg, die Hexentanzmaske der deutschen Tänzerin Mary Wigman, ein Weltfrauentag-Anstecker von 1930 und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 mit dem schlichten, aber hart erkämpften Satz in Artikel 3 Absatz 2: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“

Mit ihrem Buch belegt Annabelle Hirsch an 100 oft unscheinbaren Gegenständen, Frauen haben in der Geschichte einen Platz eingenommen, sie haben Dinge bewegt, verändert und auch geprägt. Und haben dabei Spuren hinterlassen, die man sehen kann, wenn man denn will.

Annabelle Hirsch, Die Dinge.
Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten. Verlag Kein & Aber, Zürich, 2022

Interview mit Annabelle Hirsch

Wie entstand die Idee, eine Geschichte der Frauen über Objekte zu erzählen?

Zuerst war da mein Interesse für Frauengeschichte. Ich habe immer viel über Frauen und von Frauen gelesen. Mein Mann behauptet gerne, ich lese nur Frauenliteratur, was nicht stimmt. Ich ziehe oft um und suche mir in jeder neuen Stadt einer Frau aus der Vergangenheit und frage mich was sie dachte, was sie erhoffte. Mich interessieren mehr die Anekdoten und Details, sie nehmen Distanz und lassen mich tiefer in den Alltag von damals eintauchen.

Wer war die Frau aus der Geschichte für Sie in Paris?

Mit 17 Jahren war ich das erste Mal für eine längere Zeit in Paris. Es waren vor allem Simone de Beauvoir und Colette, die mich in dieser Zeit in den Bann zogen. Paris sehe ich noch heute durch ihre Brillen.

Welches Objekt hat Sie bei der Recherche am meisten beeindruckt?

Annabelle Hirsch, © Tanja Kernweiss

La Machine“, eine Geburtspuppe aus dem 18. Jahrhundert. Die Hebamme Madame du Coudray entwarf sie, tourte damit im Auftrag des Königs Louis XV. durch Frankreich und erklärte Frauen, wie Geburtshilfe funktioniert. Bis dahin gaben sich Frauen Wissen von Generation zu Generation weiter. Wie genau der weibliche Geburtsapparat aussieht, wussten die Frauen nicht, das sollte du Coudray mit ihrer „Machine“ ändern. Sie tat dies über 25 Jahre und schulte fast 2000 Frauen. Eine Nachbildung habe ich in Paris im Musée national dHistoire naturelle gesehen.

Wie gestaltete sich die Auswahl der Objekte? Haben Sie versucht, eine Balance zwischen den Kulturkreisen zu halten?

Im Verlauf der Recherche habe ich mich schon gefragt, ob ich nicht zu viel Frankreich in der Auswahl habe. Aber in Frankreich und England ist auch mehr passiert als in Deutschland und es ist besser aufgeschrieben worden. Fest steht aber auch, wenn ich nicht meine französischen Wurzeln hätte, wäre das Buch ganz anders geworden. Die Pille und das Korsett mussten drin sein, aber das Magazin Sur von Viktoria Ocampo hätte außer mir niemand reingebracht.  Zwischendurch wollte ich meine Lektorin überreden, 120 Objekte zu nehmen. Man findet immer bessere Sachen und gräbt sich weiter hinein. Die Tupperware zum Beispiel habe ich erst im letzten Monat hineingenommen und nun stürzt sich jeder darauf. Es gibt so viele Geschichten, die man nicht richtig kennt, es würde für einen zweiten Band reichen.

Um welches Jahrhundert würden Sie bei einer Zeitreise lieber einen Bogen machen?

Neugierig wäre ich auf alle und würde daher keines ausschließen wollen. Aber das 19. Jahrhundert war das Schrecklichste von allen. Auch, dass wir das 20. Jahrhundert so als Aufbruch empfinden, liegt meiner Meinung nach nur an dem ultraspießigen 19. Jahrhundert. Davon zehren wir immer noch und halten uns für fortschrittlich. Im 19. Jahrhundert gab es dramatische Veränderungen und viele Fiktionen sind bis heute in den Köpfen geblieben. Frauen machen dies, Männer mögen das. Ganz perfide wurde das Ideal der Mutterliebe etabliert und dass Frauen keinen Sex mögen, sickerte ebenfalls tief ein. Wir kämpfen heute mit Strukturen, die wir als Realität ansehen, aber sie sind nicht etwa seit der Antike so, sondern vielleicht seit 250 Jahren.

In welchem Jahrhundert hätte Sie gerne gelebt?

Definitiv im 18. Jahrhundert. Das war ein herrliches Jahrhundert für die Frauen der gehobenen Schicht. Die Frauen fingen an zu schreiben. Es war eine Phase der Selbsterkennung, auch durch das Briefe schreiben, ein echtes Umbruchjahrhundert.

Wird es Die Dinge auch auf Französisch geben?

Das steht leider noch nicht fest, aber ich hoffe es sehr.

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