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Restitution von Effekten aus Konzentrationslagern

Gestohlene Erinnerungen

Sabine Wachs

Schmuckstücke von Hélène Swaczyk [, die die Nationalsozialisten ihr 1944 abnahmen.], Urheber: Arolsen Archives

2. März 2023

In den Arolsen Archives in Nordhessen lagern bis heute mehr als 2000 Gegenstände von NS-Opfern aus Konzentrationslagern. Die Suche nach Angehörigen ist mühsam, doch immer wieder gelingt es, persönliche Gegenstände an Familien der Deportierten zu übergeben.

Der 23. Januar ist ein besonderer Tag für Irène Swaczyk und ihre Familie. Aus allen Ecken Frankreichs sind die Verwandten nach Paris gereist. Am Mittag treffen sich Irène, ihre beiden Schwestern, ihre Tochter, die Enkelin und Nichten im französischen Außenministerium in Paris. Heute erhalten sie die Gegenstände zurück, die einmal ihrer Mutter, Großmutter und Urgroßmutter gehörten: Schmuck, den die Nazis Hélène Swaczyk bei ihrer Einlieferung ins Konzentrationslager Ravensbrück geraubt haben. Die Familie ist aufgeregt. Im herrschaftlichen, mit Stuck besetzten Empfangssaal im Quai d’Orsay ist die Spannung zu spüren. Neben der Familie Swaczyk sind an diesem Tag noch drei weitere Familien eingeladen, die die Gegenstände ihrer Angehörigen im Empfang nehmen werden.

Unter den vielen Menschen im Saal sucht Irène Swaczyk nach Patrice Pauly. Sie ist die ehrenamtliche Mitarbeiterin der Arolsen Archives, die Irène im Sommer 2022 angerufen hat und ihr erzählte, dass in den deutschen Archiven Schmuckstücke lagern, die einst ihrer Mutter gehörten. Irène wollte erst gar nicht mit Patrice Pauly sprechen: „Ich dachte erst an einen schlechten Scherz oder an einen Betrug“, erinnert sie sich. Die Geschichte sei unglaublich gewesen. Patrice Pauly aber insistierte und die beiden Frauen begannen über die Vergangenheit von Irènes Mutter Hélène zu sprechen.

Von Polen über Frankreich in deutsche Gefangenschaft

An diesem Montag Ende Januar begegnen sich die beiden Frauen zum ersten Mal persönlich – mit einer herzlichen Umarmung. Irène Swaczyk dankt Patrice Pauly abermals. „Es ist eine ganz außergewöhnliche Arbeit, die die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Archive machen.“

Diese besondere Arbeit würdigen auch Laurence Boone, Staatsekretärin für Europa im französischen Außenministerium und ihre deutschen Kollegin Anna Lührmann. Sie und die Arolsen Archives haben die Familien eingeladen.

Vor der feierlichen Rückgabe der Gegenstände berichtet Floriane Azoulay, Leiterin der Archive, von den Opfern – auch von Hélène Swaczyk. Geboren wird sie 1921 in Polen, mit ihrem Mann lebt sie später in Frankreich. Er dient in der französischen Armee, gerät in deutsche Gefangenschaft und muss Zwangsarbeit in der Nähe von Berlin leisten. Um bei ihrem Mann zu sein, könnte Hélène als sogenannte freiwillige Arbeiterin nach Deutschland gegangen sein. Das zumindest vermuten die Mitarbeiter der Arolsen Archives. Am 8. April 1944, das wiederum belegen Dokumente, die in den Archiven lagern, wird Hélène Swaczyk von der Gestapo verhaftet und ins KZ Ravensbrück deportiert. Dort, erklärt Floriane Azoulay, wurden ihr die Gegenstände geraubt, die nun zurückgegeben werden.

Die Familie von Hélène Swaczyk nimmt die gestohlenen Erinnerungsstücke [am 23. Januar 2023 in Paris ] entgegen, Urheber: Ministère de l’Europe et des Affaires étrangères

Perfide Nazi-Bürokratie hilft heute bei der Recherche

Aufbewahrt wurden sie fast 80 Jahre lang in den Arolsen Archives. Mehr als 2000 von den Nazis gestohlene Objekte lagern dort noch immer. „Diese Gegenstände waren noch in den Original Umschlägen als sie nach dem Krieg zu uns nach Bad Arolsen kamen“, berichtet Charlotte Grossmann von den Archiven. „Auf den Umschlägen stand der Name und die Häftlingsnummer“, oft sei auch eine Beschreibung der in den Umschlägen enthaltenen Gegenstände beigefügt gewesen. Die perfide Nazi-Bürokratie sorgte außerdem dafür, dass den KZ-Häftlingen diese Umschläge von Lager zu Lager hinterher geschickt wurden und alles wurde fein säuberlich dokumentiert. „So können wir aufgrund der NS-Bürokratie nachvollziehen, wann die Person geboren wurde und wie wir diese finden können. Ausgehend von der Häftlingsnummer recherchieren wir in unserer großen Sammlung an Dokumenten. Mit der Nummer finden wir ein Geburtsdatum und weitere Informationen“, erklärt Charlotte Großmann. Das sei der Ausgangspunkt bei der Suche nach den Angehörigen.

Seit 2016 suchen Mitarbeiter der Archive nach Familien von NS-Opfern. 700 Familien konnten seitdem bereits gefunden werden. Meist sind es ehrenamtliche Mitarbeiter, die sich intensiv mit der Suche beschäftigen. Auf der Internetseite der Archive sind Suchanzeigen aufgeführt. Über eine solche Anzeige kam Patrice Pauly zur Suche nach Hélène Swaczyk, die unter ihrem polnischen Geburtsnamen Helena Swaczyk aufgeführt war. Es war nicht die erste Recherche von Patrice Pauly. Die Deutsch-Französin unterstützt die Arolsen Archives schon seit einigen Jahren und konnte in dieser Zeit auch schon Angehörige finden. Etliche Fälle, die sie bearbeitet hat, waren die junger Polinnen, die noch vor Kriegsbeginn nach Frankreich zogen. So war es auch bei Hélène Swaczyk.

Tabu-Thema in vielen Familien

Zusammen mit den Arolsen Archives veröffentlichte Patrice Pauly eine Suchanzeige auf Facebook mit einem Foto von Hélène. Dieser Post erreicht ihre Enkelin und so schließlich Hélènes älteste Tochter Irène.  Das erste Telefonat, das Patrice Pauly mit Irène führte, sei nicht einfach gewesen. Generell, erzählt die ehrenamtliche Mitarbeiterin der Arolsen Archives, sei die erste Kontaktaufnahme mit Angehörigen von NS-Opfern emotional immer eine Herausforderung – für alle Beteiligten. „Da ruft dich jemand an und erzählt dir, dass deine Angehörigen, dein Vater, deine Mutter, dein Onkel oder die Tante im Konzentrationslager waren.“

Nicht selten hat Patrice Pauly Angehörige am Telefon, die nichts über diesen dunklen Lebensabschnitt ihrer Verwandten wissen – oder wissen wollen. Dann insistiert sie, wie auch bei Irène Swaczyk, bittet darum wenigsten ihr Anliegen – die Rückgabe der von den Nazis gestohlenen Gegenstände – vorbringen zu dürfen. Bei Irène Swaczyk drang Patrice Pauly durch. Auch, weil Irène einen Teil der Geschichte ihrer Mutter kannte, obwohl die, so erzählt sie, nie offen darüber gesprochen habe: „Dass meine Mutter in einem Lager war, habe ich erfahren, als ich 30 war.“ Damals habe sie mit der Mutter eine alte Freundin in Polen besucht. Céline. Ein Mensch, erzählt Irène Swaczyk, der ihrer Mutter sehr wichtig war, eine Freundin, nach der sie auch eine ihrer Töchter benannt hat. „Wir waren bei Céline zuhause und meine Mutter sprach Polnisch mit ihr. Ich verstehe ein kleines bisschen Polnisch. Wir tranken Kaffee und aßen Kuchen. Und an der Wand hing ein Erinnerungsteller, darauf stand das Wort Birkenau. Ich habe dorthin geschaut und dann sagte Céline zu meiner Mutter: ‚Erinnerst du dich noch, als wir da gemeinsam waren?‘ Mir hat es den Boden unter den Füßen weggezogen.“ Irène habe ihre Mutter später danach gefragt, aber die habe nur abgewinkt und nie wieder über das Thema gesprochen.

Die Familiengeschichte ruht bis zum Anruf der Arolsen Archives im August 2022. Seit dem, erzählt Irène Swaczyk, haben sie und ihre Schwestern wieder angefangen, sich mit dem Schicksal der Mutter zu beschäftigen. Die Archive haben der Familie auch Dokumente aus den Konzentrationslagern übergeben, die den Namen ihrer Mutter enthalten. So lässt sich der Weg von Hélène Swaczyk von Berlin bis ins KZ Neuengamme, aus dem sie schließlich befreit wurde, nachverfolgen.

Gestohlene Erinnerungen in einer Wanderausstellung

Diese Wege der NS-Opfer und ihre Geschichten sind auch Gegenstand der Wanderausstellung „Stolen Memory“, die die Arolsen Archives 2020 ins Leben gerufen haben. Die Ausstellung, die schon Station in Polen, Belgien und Deutschland gemacht hat und bald auch in Frankreich zu sehen sein wird, erzählt die die Geschichte der geraubten Gegenstände. „Und damit natürlich auch die Geschichten der Personen, denen sie gehört haben und wie wir die Besitzer oder Angehörigen der Personen wiedergefunden haben“, erklärt Charlotte Grossmann von den Arolsen Archives. Sie hat „Stolen Memory“ mit konzipiert.

Die geraubten Gegenstände und ihre Besitzer stehen zudem exemplarisch für die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten. Und während es immer weniger Zeitzeugen gibt, die von diesem grausamen Regime berichten können, baut die Ausstellung über die Gegenstände und die Schicksale ihrer Besitzer neue Brücken in die Vergangenheit.

Staatssekretäring Laurence Boone bei der Restitutionszeremonie am 23. Januar in Paris, Urheber: Ministère de l’Europe et des Affaires étrangères

Auch von dieser Aufgabe der Arolsen Archives spricht Leiterin Floriane Azoulay bei der Feierstunde im französischen Außenministerium. Die Archive hätten ihren Auftrag in den vergangenen Jahren neu definiert. Neben der Dokumentation und der Suche nach Überlebenden und Hinterbliebenen von NS-Opfern wollen die Archive auch sensibilisieren. Sie wollen vor allem jüngeren Generationen eine Plattform bieten, sich mit der NS-Geschichte auseinanderzusetzen. Ausstellungen wie „Stolen Memory“ beruhen darauf, dass jeder, der interessiert ist, mitmachen kann. Für Lehrerinnen und Lehrer stellen die Arolsen Archives auf ihrer Website etwa Unterrichtsmaterialen zusammen, etwa zur Frage, wie die von den Nazis gestohlenen Gegenstände der Forschung helfen können, KZ-Biografien nachzuzeichnen und aufzuarbeiten. Schülerinnen und Schüler werden eingeladen, sie in den sozialen Medien an der Suche nach Angehörigen zu beteiligen.

Nach 77 Jahren kommt der Schmuck zurück

Im Quai d’Orsay in Paris liegen die Objekte, die übergeben werden, auf rotem Samt gebettet in einer Vitrine. Schon vor Beginn der kurzen Feierstunde konnten Irène Swaczyk und ihre Familie die Schmuckstücke ihrer Mutter betrachten. Nun halten sie sie endlich in den Händen. Stück für Stück nimmt Floriane Azoulay den Schmuck von Hélène Swaczyk aus der Vitrine und überreicht ihn den Töchtern. Ganz vorsichtig nimmt Irène Swaczyk eine feingliedrige Kette in die Hand, dann einen Ring, Ohrstecker und vier Hutnadeln mit Perlmuttkopf. Jede einzelne Hutnadel dreht sie in der Hand, betrachtet sie, bevor sie den Schmuck in ein blaues Kästchen legt. Ihre jüngere Schwester Anni steht neben ihr. Beide Frauen haben Tränen in den Augen: „Stellen Sie sich das vor. Uns wurde der Schmuck unserer Mutter nach 77 Jahren zurückgegeben. Das ist schon fast ein Wunder.“

Zur Autorin

Sabine Wachs wurde am 21. Oktober 1986 in Saarbrücken geboren und ist dort aufgewachsen. Nach ihrem Abi-Bac am Deutsch-Französischen Gymnasium und einem Auslandsaufenthalt in Neuseeland, studierte sie Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Europastudien im Doppeldiplom an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und am Institut d’Etudes Politiques in Lille. Nach ihrem deutsch-französischen Hochschulabschluss arbeitete sie beim Saarländischen Rundfunk, SR3 Saarlandwelle und begann im September 2013 das Volontariat. Ab März 2015 arbeitete Sabine Wachs als Reporterin für SR3 Saarlandwelle. Eines ihrer Schwerpunktthemen war die Frankreichberichterstattung über Kultur und Politik aus dem lothringischen Grenzgebiet. 2017 gewann sie den deutsch-französischen Journalistenpreis für ihr Hörfunk-Feature SOS im Mittelmeer. Von 2018 bis 2022 war Sabine Wachs als Korrespondentin im ARD-Hörfunkstudio Paris tätig, seit Anfang 2023 arbeitet sie wieder als Reporterin, Autorin und Redakteurin beim Saarländischen Rundfunk. Auch dort sind Frankreichthemen weiter fester Bestandteil ihrer Berichterstattung.

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