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Die Résistance in Frankreich

Ein dunkles Geheimnis der Résistance

Pierre Vignaud

Edmond Réveil im Gespräch mit La Montagne, Mai 2023 © Stéphanie Para

30. August 2023

Im Mai dieses Jahres brach die Aussage eines ehemaligen Widerstandskämpfers aus der Corrèze das Schweigen über den Tod von 46 deutschen Soldaten und einer Frau. Letzterer wurde Kollaboration mit dem Feind vorgeworfen. Die Soldaten waren im Juni 1944 in der Corrèze gefangengenommen und in einem Waldstück in Meymac hingerichtet worden. Fast 80 Jahre nach den Ereignissen haben die französischen und deutschen Behörden damit begonnen, die Leichen zu suchen und zu exhumieren. Dabei handelt es sich um die größte Aktion dieser Art in ganz Frankreich.

„Wir haben einen Fehler begangen. Kriegsgefangene zu töten, ist ein Verstoß gegen die Genfer Konvention. Aber wir sprachen nicht darüber. Die anderen Sektionen wussten es nicht. Das war eine böse Tat.“ Wenn Edmond Réveil, ein ehemaliger Widerstandskämpfer der FTP Francs-tireurs et Partisans (der sog. Freischärler und Partisanen), auf die Ereignisse im Juni 1944 zu sprechen kommt, sind seine Sätze kurz und prägnant und tragen das Gewicht eines fast 80 Jahre alten Schweigens in sich. Als er sich die Geschichte der Hinrichtung von 46 deutschen Soldaten und einer der Gestapo nahestehenden Frau wieder vergegenwärtigt, zwingt dieses Schuldgefühl sogar „Papillon“, so sein Tarnname im Maquis,dazu, sich mit dem Begriff „Kriegsverbrecher“ schmerzhaft auseinanderzusetzen.

Die Hitze und der Geruch von Blut

„Diese Gefangenen wurden am 12. Juni getötet. Die Kollaborateurin wurde von einer anderen Gruppe von Widerstandskämpfern gebracht. Wir wussten nicht, wer sie war. Aber niemand wollte sie töten, also musste das Los entscheiden, wer sie hinrichten sollte. Bei den anderen Gefangenen waren es Freiwillige. Die Frau wurde als 13. Gefangene getötet. Es herrschte eine Hitze! Es roch nach Blut…“, erinnert sich der ehemalige Freischärler, der damals erst 19 Jahre alt war.

Zu dieser traumatischen Vorstellung kommt die Erinnerung an das Verhalten von „Hannibal“, dem Anführer des Maquis-Lagers hinzu. Joseph Fertig, so sein richtiger Name, war für seine Härte bekannt. „Aber als ihm klar wurde, dass er sie töten musste, weinte er wie ein Kind. Er war Elsässer, also sprach er Deutsch, und er wandte sich persönlich an jeden einzelnen Gefangenen. Dann fragte er die Kameraden, welche von ihnen sich freiwillig meldeten, um die Befehle auszuführen. Jeder Maquisard musste einen Gefangenen töten. Unter den Jungs gab es einige, die nicht wollten, darunter auch ich. Die Gefangenen wurden getötet, wir warfen Kalk über sie und sprachen nie wieder darüber. Es ist definitiv kein Spaß, wissen Sie, jemanden zu erschießen…“, erklärt Edmond Réveil in einem Interview im Mai 2023.

Die Corrèze erreicht der Aufstand

Diese Geschehnisse ereignen sich in einem entscheidenden Moment in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs in der Corrèze. Im Juni 1944 „geht es turbulent zu, und die Lage ist ungewiss. Nach dem 6. Juni wusste die deutsche Armee eine Zeit lang nicht, ob die große Landung der Alliierten bevorstand oder ob es sich dabei um ein Ablenkungsmanöver handeln würde. Sie hielt daher eine starke Truppenpräsenz im Limousin vor (das als „Kleinrussland“ bezeichnet wurde), eine repressive und einschüchternde Präsenz, um dort die Maquisards für ihre eigenen Übergriffe verantwortlich zu machen. „Die Corrèze wurde vom Aufstand erfasst“, so Paul Estrade, Historiker und Autor von „Léon Lanot premier maquisard de Corrèze“ (Léon Lanot, erster Maquisard der Corrèze). Er selbst lehnt den Begriff Kriegsverbrechen aufgrund des Kontextes ab.

Brand der Mädchenschule in Tulle, 8. Juni 1944 © Archives municipales de Tulle

Der Aufstand erreichte seinen Höhepunkt am 7. und 8. Juni 1944, als die Widerstandskämpfer die Präfektur von Tulle angriffen, um die Stadt zu befreien. Ein echtes Symbol, fürwahr. Die deutschen Soldaten, die später in Meymac landeten, wurden während dieser Ereignisse gefangengenommen, insbesondere nach dem Brand der Mädchenschule in der Präfektur Corrèze, wo sich die deutschen Besatzungstruppen konzentriert hatten. Doch nach der plötzlichen Ankunft der SS-Division Das Reichin Tulle, die die Zivilbevölkerung gewaltsam unterdrückte, sind die Maquisards gezwungen, sich mit etwa 60 feindlichen Gefangenen zurückzuziehen. Widerstandskämpfer und Gefangene begannen einen Dutzende Kilometer langen Marsch unter der ständigen Bedrohung durch die Deutschen. Einer der Soldaten versucht zu fliehen und wird erschossen. Ein anderer, des Französischen mächtig, versucht, über ihre Freilassung zu verhandeln, doch die Maquisards lehnen das ab. Die Gefangenen werden der FTP-Gruppe von Meymac überantwortet: Etwa 50 Wehrmachtssoldaten treffen in dem Weiler Le Vert ein.

Die Beute erweist sich als Last

„Die Widerstandskämpfer versuchten erst gar nicht, Gefangene zu machen; denn sie wussten von vornherein, wie schwierig deren Ernährung und Beaufsichtigung und, ja, auch ihr Austausch sein würden. Eine solche ‚Beute‘ wäre keine Trophäe, sondern nur eine große Last“, analysiert Paul Estrade. Auch „Papillon“ erinnert sich, dass niemand darauf vorbereitet war. „Um einen Gefangenen pinkeln gehen zu lassen, mussten wir zwei von unseren Leuten dafür abstellen. Wir hatten weder die Verpflegung noch die finanziellen Mittel oder die Logistik dafür eingeplant. Aber wir mussten sie ernähren und bewachen.“

Auch die Angst vor Vergeltungsmaßnahmen ist in den Köpfen aller. Am 9. Juni werden in Tulle 99 Männer gehängt. In Ussel, 20 km von Meymac entfernt, werden am 10. Juni 47 Maquisards in einen Hinterhalt gelockt und getötet. Am selben Tag ermordet Das Reichin Oradour-sur-Glane 643 Opfer in dem Märtyrerdorf. „Man muss das Kriegsgeschehen von Meymac in seinem Gesamtzusammenhang betrachten und darf dabei Ussel nicht außer Acht lassen. Wenn 47 Jungs abgeschlachtet werden, macht es das vielleicht weniger hart, dem Befehl, Feinde zu erschießen, Folge zu leisten. Die letzten Wochen in der Corrèze waren sehr gewalttätig; es wurde auch gefoltert. Diese Gewalt hat Hass geschürt“, analysiert der Historiker Hervé Dupuy, der die Vorgänge von Meymac aufarbeitet.

Sich der Résistance anschließen oder sterben

Die Geisteshaltung, die er beschreibt, findet sich auch bei Louis Godefroid, dem interregionalen Militärkommandanten der FTP zur Zeit der Ereignisse. In der Sammlung von Zeugenaussagen von Widerstandskämpfern Maquis de Corrèze (1995), einem der wenigen historischen Werke, die sich mit diesen Ereignissen befassen, gibt er an, den Befehl zur Erschießung der deutschen Soldaten gegeben zu haben, nachdem er von den „abscheulichen Verbrechen“ in Tulle und Oradour erfahren hatte. „All diejenigen unter den Gefangenen, die sich gegen Hitler aussprechen, werden aufgefordert, sich uns anzuschließen. Alle anderen werden erschossen“, rechtfertigte er sich.  Sieben Soldaten werden daraufhin verschont, 46 andere und die junge Frau werden erschossen, nachdem sie sich selbst ihr eigenes Grab ausheben mussten. Die Leichen werden mit Kalk bestreut. Das Geheimnis wird vergraben. Gut gehütet.

Edmond Réveil im Gespräch mit La Montagne, Mai 2023 © Stéphanie Para

Eine Pflicht Frankreichs

2019. Edmond Réveil ist der letzte Überlebende des Zweiten Weltkriegs in Meymac. Bei einem Treffen der ANACR (Association nationale des anciens combattants et ami(e)s de la Résistance/Nationalverband der Kriegsveteranen sowie Freunde und Freundinnen der Résistance) vertraut er sich zur Gefangenenaffäre an. Seine Idee: den Ort, an dem diese Soldaten hingerichtet wurden, zu einer Gedenkstätte zu machen und ihre Familien darüber aufzuklären, was mit ihren Angehörigen seinerzeit geschah. Doch die Angelegenheit nimmt eine andere Wendung. „Frankreich hat Verpflichtungen gegenüber Deutschland, die sich aus der Genfer Konvention und dem Deutsch-Französischen Vertrag ergeben. Wir müssen die sterblichen Überreste an Deutschland übergeben; denn Deutschland allein entscheidet in eigener Verantwortung, wo sie letztendlich bestattet werden sollen“, erklärt Xavier Kompa, der Direktor des ONAC-VG (Office national des anciens combattants et des victimes de guerre/Nationalbehörde für Kriegsveteranen und Kriegsopfer).

Bereits zwischen 1967 und 1969 hatte eine erste, diskrete Exhumierung stattgefunden. Das Datum bleibt im vagen, da es davon kaum Spuren gibt. „Bei dieser ersten Exhumierung wurden elf Leichen geborgen, sieben davon konnten anhand ihrer Erkennungsmarken identifiziert werden“, erklärt Hervé Dupuy, der die Liste dieser Namen vom VDK (Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge) erhielt.

Das vom VDK entsandte Bodenradar vor Ort © Pierre Vignaud

Bei den anderen vier exhumierten Soldaten steht „Unbekannter deutscher Soldat“. In dem Wald, wo sie aufgefunden wurden, war ein zehnjähriger Dorfbewohner zugegen, André Nirelli, der die Schule schwänzte, um bei den noch nicht abgeschlossenen Arbeiten dabei zu sein. Dank seiner Aussage konnte die ungefähre Lage der geheimen Grabstelle ausfindig gemacht werden. Nur dass die ehemalige Heidelandschaft inzwischen zu einem riesigen Nadelwald geworden war. Im Juni 2023 sondierte ein vom VDK entsandtes Bodenradar den Untergrund. Im August folgen zehn Tage Ausgrabung auf einer Fläche von 10 mal 45 Metern. Etwa 30 Bäume werden gefällt, um die Arbeit der Archäologen und Bagger zu erleichtern. Es werden jedoch keine Knochen freigelegt. Nur militärische Artefakte, Patronenhülsen und Münzen. „Das ONACVG und der VDK werden alle gesammelten Bodenradardaten analysieren, nach möglichen, bisher unbekannten Archivdokumenten suchen und, falls möglich, auch das dreidimensionale Laserscanning, die sogenannte LIDAR-Technologie, zur Analyse der Topografie des Bereichs einsetzen. Sobald neue Erkenntnisse die genauere Lokalisierung der sterblichen Überreste ermöglichen, werden diese exhumiert werden“, kündigt die Präfektur des Départements Corrèze an. Der Wald von Meymac hat noch nicht alle seine Geheimnisse preisgegeben.

Übersetzung: Norbert Heikamp

Der Autor

© Pierre Vignaud

Pierre Vignaud ist Journalist in der Redaktion von La Montagne in Brive, Corrèze, wo er insbesondere für die Rubriken Panorama und Justizberichterstattung verantwortlich zeichnet. Im Mai letzten Jahres trug er zur Veröffentlichung der Aussagen von Edmond Réveil bei. Anschließend veröffentlichte er eine Reihe von Artikeln über die Geschichte der deutschen Soldaten, die im Juni 1944 in Meymac hingerichtet wurden, und begleitete persönlich auch die Grabungen mithilfe des Bodenradars.

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Mehr zum Thema:

„Folge 52 – Fast 80 Jahre später – Meymac und die Suche nach ermordeten Wehrmachtssoldaten“. Mit Tanja Stelzer und Andreas Noll. Franko-viel 52 (16. November 2023), Folge 52 – Fast 80 Jahre später – Meymac und die Suche nach ermordeten Wehrmachtssoldaten – Franko-viel – Der Frankreich-Podcast (podigee.io)

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