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Massaker von Tulle

Tulle findet seine vergessenen Märtyrer wieder

Pierre Vignaud

Memorial am Hochplatz von Cueille, 9. Juni 2024 (Copyright: Pierre Vignaud)

11. Juni 2024

99 gehängt, 149 deportiert, von denen 101 nie zurückkehrten. Das ist die Bilanz des am 9. Juni 1944 von den Soldaten der 2. SS-Panzerdivision „Das Reich“ in Tulle begangenen Massakers. 80 Jahre später könnte sich diese Bilanz noch um ein Dutzend Namen erhöhen.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind die Zeremonien am 9. Juni in Tulle (Corrèze) immer gleich. Ein stiller Zug setzt sich vom Bahnhof aus in Bewegung und führt zunächst durch das Viertel Souilhac. Geflochtene Blumen schmücken die Balkone und erinnern an die Seile, die 80 Jahre zuvor von den Soldaten der 2. SS-Panzerdivision „Das Reich“ befestigt wurden, um daran 99 Männer zu aufzuhängen. Die Prozession führt anschließend am Viertel der sogenannten Manufacture d’Armes vorbei, wo die Männer aussortiert worden waren. Einige Geiseln konnten nach Hause zurückkehren, die anderen wurden gehängt oder deportiert. Die, die nicht getötet wurden, zwang man zuzusehen. Die Nazis wollten, dass diese Bilder sich tief ins Bewusstsein einbrannten. 80 Jahre später ist die Emotion immer noch da. Sie ist lebhaft. Intensiv.

Die schweigende Masse von Familien und Einwohnern begibt sich schließlich zum Hochplatz von Cueille, wo die Leichen der Märtyrer mit Kalk bedeckt und dann verscharrt wurden – ohne ein würdevolles Begräbnis. Um ihr Verbrechen zu verschleiern, mussten die Deutschen schnell handeln. Tags drauf wütete die Division in Oradour-sur-Glane.

99 gehängt und 311 deportiert

„An diesem Tag wurden 99 Menschen gehängt und 311 deportiert. Die Deportierten wurden nach Limoges gebracht, wo weiter aussortiert wurde. Von dort schickten die Nazis 149 nach Dachau; von denen kehrten nur 48 zurück“, fasst Roland Gonieau zusammen. Er ist Vorsitzender des Komitees der Märtyrer von Tulle, das sich dafür einsetzt, das Andenken an die 200 Opfer aus Tulle zu bewahren.

Der Zug am 9. Juni 2024 (Copyright: Pierre Vignaud)

80 Jahre nach den Ereignissen wird sich diese in den Granit des Haut-lieu de Cueille gravierte Zahl schon bald ändern. „Als wir der Öffentlichkeit das Programm für den 80. Jahrestag des Massakers von Tulle präsentierten, traten Cousins und Großcousins an uns heran, deren Angehörige ebenfalls getötet worden waren. Dies geschah vor allem während der Recherchen, die wir anstellten, um Medaillons mit den Gesichtern der Märtyrer anzufertigen. Dabei handelte es sich um Familien aus Montpellier oder Marseille, die wir gar nicht kannten. Denn damals wurden nicht nur Bewohner von Tulle umgebracht“, erklärt Roland Gonieau.

Elf Namen, die aus der Vergessenheit auftauchen

Wie viele sind es und wer sind diese vergessenen Märtyrer? Nicolas Giner, Leiter des Stadtarchivs von Tulle, recherchierte über diese Männer, die zwischen der Corrèze und dem Lager Dachau ihr Leben verloren. „Elf Namen waren bis dahin nicht unter den erfassten Opfern. Wir sind sicher, dass mindestens acht von ihnen in der Waffenfabrik in Tulle zugegen waren, als die Geiseln aussortiert wurden. Sie wurden alle deportiert“, erzählt er. „Alle Toten verdienen es, geehrt zu werden, aber maßgeblich für uns ist, wer von den Nazis vor der Waffenfabrik in Tulle aussortiert wurde“, sagt Roland Gonieau.

Diese acht vergessenen Männer haben ganz unterschiedliche Lebenswege hinter sich. Drei von ihnen wurden am 8. Juni in der kleinen Gemeinde Seilhac nördlich von Tulle von der SS-Panzerdivision „Das Reich“ aufgegriffen. „Es handelte sich um François Bournazel, André Tintignac und Henri Fayat. Sie wurden zusammen mit den anderen Männern am 9. Juni in die Manufaktur getrieben. Die SS-Division hielt sich nicht nur in der Stadt am Sitz der Präfektur auf; ihre Männer durchstreiften zu diesem Zeitpunkt auch die Umgebung. Dann ist da noch Marcel Gaud, der während des Transports starb. Er war ein Arbeiter in der Manufaktur von Saint-Étienne und wurde während des Krieges nach Tulle geschickt. Zwei weitere Gehängte teilten sein Schicksal“, erinnert sich Nicolas Giner.

Anhand ihrer Beschreibung wird deutlich, dass diese nicht aus der Stadt stammenden Männer in Wirklichkeit kaum Chancen hatten, wie die anderen Geiseln befreit zu werden, um die sich die Gemeinde kümmerte. Sie galten als „unwichtig für das Leben in der Kommune“ und waren den Honoratioren gar nicht bekannt.

Eine bei 101 eingefrorene Bilanz

Zu den Vergessenen gehört auch Jules Alter, Truppenführer bei den Éclaireurs Israélites de France (Israelitische Pfadfinder Frankreichs). Er wurde am 9. Juni in der Schule, in der er unterrichtete, aufgegriffen und sollte den „Todestransport“ zwischen Compiègne und Dachau nicht überleben. Wie 2162 andere in 24 Viehwaggons zusammengepferchte Gefangene, hatte er versucht, mit einem Laib Brot für vier Tage und einem halben Fass Wasser bei drückender Hitze zu überleben. Fatale Lebensbedingungen. 530 Männer erlitten bei der Deportation am 2. Juli 1944 dasselbe Schicksal. „Jules Alter und auch Marcel Gaud waren schon in den 1990er Jahren Gegenstand von Nachforschungen des Vereins Peuple et Culture. Sie waren demnach nicht gänzlich unbekannt. Eine vor zehn Jahren angefertigte historische Arbeit über alle Deportierten ergab, dass ihre Zahl in Wirklichkeit höher war als die offiziellen Zahlen“, fügt Nicolas Giner hinzu.

Warum ließ man den Zähler dann lange Zeit bei 101 stehen? „Das ist eine gute Frage“, sagt der Leiter des Archivs von Tulle, „denn in einigen Fällen verfügen wir über Korrespondenz zwischen der Stadt und den Familien aus dem Jahr 1944. Die Bilanz des Massakers von Tulle wurde erst nach dem Krieg erstellt. Man beließ es dabei. Man wollte nicht mehr daran rühren, aus Respekt, aus Scham“, analysiert Nicolas Giner. Die Bilanz spiegelt sozusagen die ein für alle Mal festgelegte Gedenkzeremonie wider. 

Die Erinnerungsarbeit entwickelt sich weiter

Emmanuel Macron in Cueille, 10. Juni 2024 (Copyright: Imago/Agnès Gaudin/La Montagne)

Auch die Schwierigkeit der Nachforschungen mag diese Form des Stillstands erklären. Einige Deportierte starben auf dem Transport zwischen Compiègne und Dachau, wie André Delavie, ein weiterer dieser Vergessenen. Mehrere wurden bei einer Bombardierung in Poitiers am 13. Juni 1944 getötet, wieder andere in Dachau. All diese Umstände erleichtern die Arbeit der Forscher nicht gerade. Diese Schwierigkeit zeigt sich vor allem an drei weiteren Namen, bei denen Zweifel bestehen bleiben. Es handelt sich um drei Personen aus der Region Corrèze: Marcel Bordes, Louis-Pierre Borie und Victor Joseph Brette. „Wir wissen nicht, ob sie zum Zeitpunkt der Razzia in Tulle waren. All diese Deportierten wurden nach Limoges verbracht, wo ein zweites Mal aussortiert wurde. Einige Geiseln aus Tulle wurden zu diesem Zeitpunkt freigelassen, andere Gefangene wiederum, die nicht aus Tulle stammten, wurden mit demselben Konvoi auch deportiert“.

Zum 80. Jahrestag gedachte Tulle erneut seiner Märtyrer. Doch in diesem Jahr waren neben den Namen, die am Hochplatz von Cueille verlesen wurden, auch die Gesichter derjenigen zu sehen, die ihr Leben verloren hatten. Die Erinnerung an das Massaker entwickelt sich weiter.

Das Ziel für die Stadt und das Märtyrerkomitee besteht nun darin, die Recherchen abzuschließen und eine neue Bilanz vorzulegen. „Wir sind nicht davor gefeit, auch andere noch zu vergessen“, gesteht Nicolas Giner. „Aber es bewegt sich etwas, um Licht in das Dunkel dieser Personen zu bringen. Diese Nachforschungen stellen den Kern der Geschichte nicht in Frage, die ja dieselbe bleibt. Aber es soll all denen Gerechtigkeit widerfahren, die es verdient haben“. Ein Streben nach Gerechtigkeit im Dienste einer lebendigen, intensiven und tief eingebrannten Erinnerung.

Übersetzung: Norbert Heikamp

Der Autor

Pierre Vignaud ist Journalist in der Redaktion von La Montagne in Brive, Corrèze, wo er insbesondere für die Rubrik Verschiedenes / Justiz zuständig ist. Im Mai letzten Jahres trug er dazu bei, die Aussage von Edmond Réveil aufzudecken. Anschließend veröffentlichte er eine Reihe von Artikeln über die Geschichte der deutschen Soldaten, die im Juni 1944 in Meymac hingerichtet wurden.

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