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Französische Essgewohnheiten

À table !

Martin Vogler

Seit 1901 schönstes Bahnhofsrestaurant der Welt: Le Train Bleu in der Pariser Gare de Lyon, © Adobe Stock

22. August 2020

Im Land mit der „besten Küche der Welt“, von der Unesco 2010 zum Weltkulturerbe ernannt, haben sich die Essgewohnheiten schleichend aber radikal verändert. In Frankreich sterben die üppigen, vielgängigen Menüs aus.

Wer sich vor 30 Jahren im französischen Restaurant erdreistete, nur ein Hauptgericht zu bestellen, entlarvte sich meist sogar mittags gnadenlos als kulturloser Tourist. Mindestens dreigängige, besser fünfgängige Menüs waren in Mittelklasse-Lokalen üblich. Heute ist das anders. Zeit ist knapper und der Mensch gesundheitsbewusster geworden. Zwar bieten die meisten Restaurants weiterhin Drei-Gänge-Menüs an – und das oft zu einem günstigen Preis. Beispiel: Vorspeise, Hauptgang und Käse oder Dessert für 28 Euro. Wer nur zwei Gänge möchte, bezahlt zwei Euro weniger. Vor allem Frauen oder Berufstätige in ihrer kürzer gewordenen Mittagspause nutzen diese Möglichkeit. Ganz ohne Stirnrunzeln des Servicepersonals.

„Das große Fressen“ ist vorbei

Der Trend zum kleineren Menü steht ganz im Gegensatz zu früheren Zeiten. So sagt man Frankreichs Sonnenkönig Ludwig XIV. nach, bei einer Mahlzeit bis zu 400 Austern verzehrt zu haben. Hier dürfte allerdings ein bisschen legendenhafte Übertreibung mitspielen. Und seine Untertanen sollen zwar ebenfalls große Mengen zu sich genommen haben, aber wenig exklusiv.

Noch vor 100 Jahren waren Menüs mit mehr als zehn Gängen in französischen Restaurants verbreitet. Alte Speisekarten beweisen das und lassen Assoziationen zum legendären Film Das große Fressen von 1973 entstehen. Im Geburtshaus des Meisterkochs Auguste Escoffier, im westlich von Nizza gelegenen Villeneuve-Loubet Village befindet sich in einem liebevoll gestalteten kleinen Museum eine beeindruckende Sammlung solch appetitanregender Dokumente.

Austern sind in Frankreich für jedermann erschwinglich. Foto: Tommaso Cantelli, Unsplash

Hors d‘œuvre

Ende des vergangenen Jahrhunderts war in Mittelklasselokalen das fünfgängige Menü normal. Nach dem damals noch häufiger als heute eingenommenen Aperitif – die Promilleregeln für Autofahrer wurden sehr viel laxer gehandhabt als heutzutage – ging es mit einem hors d’œuvre los. Häufig gab es Rohkost-Salate, Pastete, Schinken, Eier mit Mayonnaise oder Meeresfrüchte. Vor allem im Burgund konnten es auch Schnecken in Knoblauchbutter sein – natürlich im Dutzend! In bürgerlichen Restaurants besonders beeindruckend waren die heute – lange vor Corona-Regeln – fast ausgestorbenen Vorspeise-Wagen, die neben den Tisch gestellt wurden und von denen sich jeder Gast selbst bedienen durfte.

Entrées

Der zweite Gang – l‘entrée – war oft Fisch. Dabei konnte es passieren, dass der wohlmeinende Kellner mit der augenzwinkernden Bemerkung, die Forellen seien aber heute wirklich sehr klein, dem verblüfften Gast gleich zwei Fische auftischte. Auch gewöhnungsbedürftige Spezialitäten wie Lammhirn oder Froschschenkel wurden gerne als entrée serviert.

Plats

Der Hauptgang in solchen fünfgängigen Menüs bestand in der Regel aus Fleisch. Oft Kurzgebratenes wie Entrecôte, gerne Lammhaxe oder auch Coq au vin, also Hahn in einer meist schweren Rotwein-Sauce. Die Beilagen – les légumes – spielten damals eine untergeordnete Rolle. Etwas Gemüse und Kartoffeln genügten. In sehr traditionellen Lokalen geschah es deshalb gelegentlich sogar, dass die Pommes frites erst nach dem Fleisch als eigener Gang serviert wurden. Die Speisenden konnten sich so besser auf das Fleisch konzentrieren.

Fromages

Der vierte Gang galt dem Käse. Wer ihn heute bestellt, bekommt entweder einfach drei Stückchen auf einem Teller serviert. Oder man kann sich, in teureren Restaurants, aus der gepflegten Auswahl eines speziellen Käsewagens etwas vorlegen lassen. Früher hingegen war es in Mittelklasselokalen üblich, dass eine Holzplatte mit zahlreichen Käsen zur Selbstbedienung auf den Tisch gestellt wurde. Es blieb dem Anstand der Gäste überlassen, sich nicht allzu üppig gütlich zu tun.

Espresso heißt auf Französisch café. Foto: Adobe Stock

Desserts

Normalerweise runden Desserts das Essen ab. Klassiker wie crème caramel, mousse au chocolat oder île flotante (Schnee-Eier in Vanillesauce) genießen hohe Gunst. Und natürlich sollte nach der Mahlzeit ein Espresso – un café – nicht fehlen.

Französisches Paradox

Solche fünfgängigen Menüs waren ausbaufähig, so wie etwa 1990 im Restaurant eines kleinen Hotels im bretonischen Hafenstädtchen Douarnenez. Ein Gast hatte an mehreren Abenden ein fünfgängiges Menü gegessen, das jedes Mal ausgezeichnet und unglaublich preiswert war. Weil er gerne Fischsuppe isst, diese mehrmals an anderen Tischen gesehen hatte, sie aber auf der Karte nicht fand, sprach er die Serviererin beim Bestellen darauf an. Die beschied: Kein Problem, wer will, bekommt vor dem ersten Gang zusätzlich Suppe serviert. Dieses Sechs-Gang-Menü gab es selbstverständlich ohne Aufpreis.

Wer glaubt, bei solchen Essgewohnheiten, die auch zu Hause nicht viel anders waren, hätten alle Franzosen Übergewicht gehabt, irrt. Dank des entspannten Essens zu festen Zeiten und dem weitgehenden Verzicht auf Zwischenmahlzeiten blieben die meisten schlank. Trotz des fettreichen Essens und des damit verbundenen hohen Alkoholkonsums leben Franzosen nämlich relativ lange und erleiden selten einen Herzinfarkt. Ursache dafür soll das medizinisch umstrittene „Französische Paradox“ sein, das vor allem auf der die Gesundheit fördernden Wirkung des Weins beruht. Der Schauspieler und Weinberg-Besitzer Gérard Depardieu allerdings dürfte ähnlich übertreiben wie einst der Sonnenkönig, wenn er angeblich bis zu 14 Flaschen Alkohol jeden Tag konsumiert. „Und wir hören seine Leber schreien“, titelte Der Spiegel online.

Erst in den vergangenen Jahren scheinen auch die Französinnen und Franzosen zuzulegen: wohl ein Tribut des sich leider auch in Frankreich verbreitenden Fastfood. Angesichts der letzten verfügbaren Statistik stehen Französinnen und Franzosen im Durchschnitt jedoch immer noch besser da als Deutsche: Männer wiegen bei 1,79 m 83,3 kg (Deutschland: 1,80 m, 88,8 kg) und Frauen bei 1,65 m 66,4 kg (Deutschland: 1,66, 71,6 kg). Vor Corona. Denn die Pandemie war für die Figur keine gute Zeit: Die im Vergleich zu Deutschland sehr strenge und langanhaltende häusliche Quarantäne sowie der damit einhergehende Frust wurden offensichtlich mittels Kalorien erträglicher gemacht.

Ein traditionelles französisches Restaurant in der Provinz, Foto: PxHere

Wahrung der Tradition

Trotz des Trends zu kleineren Menüs besteht vor allem in Durchschnittslokalen weiterhin ein qualitativer Unterschied zwischen französischen und deutschen Restaurants. Geschmacksarme Schweineschnitzel mit dicker Panade etwa, mit einer Mischung aus Gurken- und Kartoffelsalat serviert, sind auf Frankreichs Tellern undenkbar.

In der gehobenen Gastronomie hingegen können sich deutsche Spitzenköche durchaus mit ihren französischen Kollegen messen: 2022 wurden im Guide Michelin insgesamt 326 Restaurants in Deutschland mit Sternen ausgezeichnet; es steht damit an zweiter Stelle hinter Frankreich (627). Die Gerichte im Luxus-Segment sind zwar hüben wie drüben leichter geworden, aber zumindest in der französischen Gourmet-Küche sind sehr viele Gänge weiterhin üblich. Oft handelt es sich um Degustations-Menüs, gerne mit überraschender Speisefolge, dank Kleinstportionen leicht zu bewältigen.

Und in der Familie? Hier wird seltener als früher gekocht. Dennoch ist das gemeinsame, mehrgängige Essen in Frankreich nicht passé und wird vor allem sonntags serviert. Wer nicht das Glück hat, privat eingeladen zu sein, kann das in den Restaurants beobachten: Am Sonntagmittag zelebrieren Familien gerne generationenübergreifend ein mehrstündiges Essen, das bis 16 oder gar 17 Uhr dauern kann. Abends bleiben dann abseits der Touristengebiete die Lokale meist zu – es käme eh kaum jemand.

Linktipps:

Savoir-vivre

In französischen Restaurants gelten andere Spielregeln als in Deutschland. Wer die berücksichtigt, kann den Besuch besser genießen:

  • Man sucht sich, außer in Bars und Cafés, niemals selbst einen Tisch aus, sondern wird platziert.
  • Reservierungen sind in beliebten Lokalen und vor allem seit den Corona-Einschränkungen sehr zu empfehlen.
  • Nach der Serviererin oder dem Kellner ruft man nicht mehr mit „Mademoiselle!“ oder „Garçon!“. Wenn es mit freundlichem Blickkontakt nicht klappt: „Pardon Monsieur!“ oder „Pardon Madame!“ verwenden oder einfach „S’il vous plaît!“.
  • Kaffee (Espresso) trinkt man in Frankreich nicht zum Dessert, sondern danach. Das gilt auch, wenn es Kuchen gibt.
  • Kinder sind in Frankreich zumeist an längere Restaurantaufenthalte gewöhnt und benehmen sich entsprechend. Herumrennen oder Lärmen in Restaurants kommt nicht gut an.
  • Man zahlt gemeinsam. Der Wunsch nach Einzelabrechnung sorgt für Irritation.
  • Trinkgeld ist zwar offiziell in der Rechnung enthalten. Trotzdem sind je nach Zufriedenheit wie in Deutschland rund zehn Prozent angebracht. Dabei sollte man nicht aufrunden, sondern das Trinkgeld am besten nach dem Bezahlen in bar auf dem Tisch bzw. einem Tellerchen liegen lassen.

Dialog Dialogue

7 Kommentare/Commentaires

  1. En France, on trouve á midi trés souvent des plats du jour á partir de 9 euros, des petits menus sympas á 12, – 15 euros… et ouf, on ne mange pas encore en marchant ! Et il est vrai que les repas durent moins longtemps mais le plus souvent avec hors d’oeuvre, dessert et biensûr fromage… Il est vrai que la facon de manger en Allemagne et en France est tout à fait différente ! ps bon appétit… et bonne année !

  2. Vive la différence ! Wo sollen sich kulturelle Unterschiede zeigen, wenn nicht beim Essen? Franzosen behandeln Lebensmittel mit Wertschätzung, Kenntnissen, Freude und Genuß. Für Deutsche gehen von Lebensmitteln eher Gefahren als Freuden aus. Franzosen dürfen das Essen genießen und brauchen nicht ständig ein schlechtes Gewissen zu haben – auch nicht, wenn sie mittags ein Glas Wein trinken.

    In Frankreich fand ich es einfach abzunehmen. Merkwürdig? Wenn man bei der nächsten Mahlzeit wieder Gutes zu essen bekommt, muss man nicht, wenn’s schmeckt, maßlos alles in sich reinschaufeln. Französische Kinder lernen den Umgang mit Speisen: Du brauchst es nicht aufzuessen, aber Du musst es probieren. Bei der Familienmahlzeit spricht man über das, was auf dem Teller liegt. Geschmack muss man lernen – kann man aber nicht, wenn man nur mit Fast Food sozialisiert wird.

    Die Reihe der Unterschiede ließe sich noch lange fortsetzen. Nur eins noch: auch bei einem Essen mit Freunden ist die Tischordnung und die Planung der Tischgespräche genau so wichtig, wie die sorgfältige Zusammenstellung der Speisen, denn es handelt sich nicht um eine nach Kalorien, Nahrungsbestandteilen, Diätvorschriften und ideologischen Gesichtspunkten technisch konstruierte Nahrungsaufnahme, sondern um ein soziales Erlebnis, Freude und Genuss.

    Zur Empfehlung: die kulturellen Unterschiede bzgl. der Funktion des Essens werden meisterlich von Tanja Blixen in ihrer Erzählung Babettes Fest beschrieben (die Verfilmung mit Stéphane Audran ist ebenso wunderbar).

  3. Je recommande le livre du gastrosophe Peter Peter, Vive la cuisine, eine Kulturgeschichte der französischen Küche. Quant à la légende des 400 huîtres englouties par le Roi-Soleil, il s‘agit bien évidemment d´une légende. Il est vrai que le monarque adorait les huîtres. Comme ces dernières sont riches en purine, il souffrait de crises de goutte extrêmement douloureuses. Attention aux huîtres ! En ce qui concerne le vin, il y a un dossier très intéressant dans les archives de l´ancienne revue Dokumente/Documents : In vino veritas.

  4. Danke für diesen schönen Bericht! Beim Lesen bekomme ich eine Pfütze im Mund 🤣. Ich bin immer wieder erstaunt, dass offensichtlich auch in der Mittagspause Wein getrunken wird und ich mich frage, ob mittags keine Alkoholkontrollen durchgeführt werden. 🤔
    Leider gibt es auch in Frankreich zunehmend Fast-Food-Ketten. Ich käme nie auf die Idee, dort zu essen, lieber kaufe ich mir auf die Schnelle ein leckeres Baguette und Käse. 🧀

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