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Französische Klein- und Mittelstädte

Stadt, Land, Meer

Wolfgang O. Hugo

La Rochelle, tour de la Lanterne und tour de la Chaîne, © trabantos, Shutterstock

15. Dezember 2020

Die meisten erwachsenen Französinnen und Franzosen würden mittlerweile gerne in Klein- und Mittelstädten leben – ein durch die Corona-Krise beschleunigter Prozess.

Die Sehnsuchtsorte liegen oft am Atlantik, heißen La Rochelle, Vannes, Lorient oder Saint-Malo und sind kleine und mittelgroße, überschaubare Städte mit bis zu 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Immer mehr Französinnen und Franzosen folgen diesem Trend: Fast ein Viertel in über 100.000-Einwohner-Städten würden ihre Wohnorte am liebsten verlassen – von den unter 35jährigen sogar mehr als ein Drittel. Der Exodus hat bereits begonnen, am stärksten trifft er Paris: Zwischen den beiden letzten Volkszählungen von 2011 und 2016 verlor die französische Hauptstadt intra muros 59.000 der einst 2,249 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Die Tendenz im 12-Millionen-Großraum insgesamt: steigend.  

Flucht aus den Großstädten

Dieses Ergebnis einer repräsentativen Umfrage des Pariser Meinungs- und Marktforschungsinstituts IFOP (Institut français d‘opinion publique) wurde im Herbst 2020 von Jérôme Fourquet vorgestellt, der 2019 mit seinem Buch L’Archipel français Aufsehen erregt hatte. Er beschreibt Frankreich darin als zerrissene Nation, deren Einwohnerinnen und Einwohner auf unterschiedlichen Inselchen (îlots) leben und sich gegenseitig ignorieren. Der Umfragepapst, 1973 in Le Mans geboren, scheut sich dabei nicht, den Pariser Eliten Ignoranz zu unterstellen; sie seien losgelöst von der Lebenswirklichkeit und den sozialen Problemen eines großen Teils der Bevölkerung.

Rieux-Volvestre, © Iakov Filimonov, Shutterstock

Auch die Internet-Plattform Vivrovert („Im Grünen leben“) trifft den Zeitgeist, und ihr „Erfinder“ Dominique Valentin geht noch einen Schritt weiter: Er empfiehlt gleich das Leben auf dem flachen Land (la France rurale). Aufgewachsen in einem Dorf in den Ardennen, ließ er sich selbst aus Überzeugung in Rieux-Volvestre nieder, einem 31.000-Einwohner-Städtchen 50 km nördlich von Toulouse. 2012 gründete er Relais d’Entreprises, das erste Netz von Drittorten und Coworking-Räumen in ländlichem und periurbanem Raum. Die seit der Corona-Krise rasante Entwicklung der Arbeit im Homeoffice (télétravail) sieht er als Beschleuniger für die vielfach möglich gewordene Trennung von Firmensitz, Arbeitsplatz und Wohnort – warum nicht gleich im Grünen?

Schon der Journalist Alphonse Allais, 1875 in Honfleur geboren und 1905 gestorben in Paris, träumte davon, Städte aufgrund der höheren Lebensqualität auf dem Land zu bauen: „On devrait construire les villes à la campagne car l‘air y est plus pur !“ (Man sollte Städte auf dem Land errichten, denn da ist die Luft reiner!). Luftverschmutzung ist nur ein Aspekt. Hinzu kommen heutzutage u. a. ernsthafte Verkehrs- und Umweltprobleme, Lärm und ein deutlich höheres Preisniveau.

Verbesserung der Infrastruktur

Der Bürgermeister des Pariser Vororts Neuilly-sur-Seine, Christophe Fromantin, beschäftigt sich schon länger mit der Stadt-Land-Thematik in Frankreich und plädiert nicht erst seit der Corona-Krise für eine neue Aufteilung des Landes. Für ihn gehört die Zukunft Städten zwischen 20.000 und 120.000 Einwohnern: 2018 hat er in seinem Buch Travailler là où nous voulons vivre (Da arbeiten, wo wir leben wollen) deutlich gemacht, dass er das derzeitige urbane Modell für überholt hält. Er schlägt für Frankreich stattdessen 350 Mittelstädte und etwa zehn Metropolen vor.

Achilles Warnant hat für die Fondation Jean-Jaurès zum Thema geforscht. Ergebnis: das Land brauche „Städte verschiedener Größe“. Als Gewinner sieht er Städte wie Quimper, La Rochelle, Dax oder Bayonne sowie Perpignan, Chambéry, Gap, Narbonne u. a.

Das 2017 aufgelegte Förderprogramm der Regierung ur de ville, mit dem 222 Mittelstädte wie Aurillac, Blois, Rochefort, Bayonne, Basse-Terre oder Grasse attraktiver gemacht werden sollen, ist mit einem Volumen von fünf Milliarden Euro innerhalb von fünf Jahren bereits ein wegweisender Schritt in diese Richtung. Immerhin wohnt bereits ein Viertel der französischen Bevölkerung in Mittelstädten wie diesen.

In der Corona-Pandemie sind Coworking-Arbeitsplätze wie hier in Amiens zugunsten des Homeoffice vorübergehend verwaist, © matchoffice.com

Gute Verkehrsanbindung

Städte wie Caen (Slogan „Ist es nicht Zeit, ein neues Leben zu beginnen?“), 230 km nordwestlich, oder Amiens („Coworking im open space“), 120 km nördlich von Paris, bemühen sich aktiv um Neubürgerinnen und Neubürger, von denen laut Jérôme Fourquet bereits 500 das Gesicht einer Provinzstadt verändern können. Gesucht werden vor allem Familien mit Kindern, denn häufig sind es nicht (mehr) Berufstätige, die aus den großen Städten fliehen – schließlich fehlen nicht zuletzt genügend Arbeitsplätze in der Provinz.

Die Immobilienpreise jedenfalls sind in der Regel nach wie vor weitaus günstiger als in den Metropolregionen. Positiv schlagen auch gute Verkehrsanbindungen zu Buche, bei denen der Ausbau des Streckennetzes für die Hochgeschwindigkeitszüge trains à grande vitesse (TGV) entscheidenden Anteil hat (die Achsen Paris-Bordeaux in zwei Stunden, Paris-Marseille in drei). Der Anschluss von Amiens ist für 2025 geplant.

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