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Deutsch-Französisches Jugendwerk

Blick über den Tellerrand

Martin Vogler

© Jennifer Sanchez

15. November 2020

Jugendaustausch lebt von persönlichen Begegnungen. Das wissen Anne Tallineau und Tobias Bütow dank eigener Erfahrungen allzu gut. Aber bereits kurz nach Aufnahme ihrer neuen Tätigkeiten ergaben sich für die französische Generalsekretärin und den deutschen Generalsekretär des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) wegen der Corona-Krise völlig neue Herausforderungen, auch im Hinblick auf die Zukunft des DFJW.

Tobias Bütow, seit 1. März 2019 im Amt, arbeitete nach seinem Studium der Geschichts- und Politikwissenschaften unter anderem als Langzeit-Dozent am Europa-Institut CIFE (Centre International de Formation Européene) in Nizza, und war von 2015 bis 2019 Gründungsdirektor des CIFE-Mittelmeerprogramms. In Nizza übernahm er neben anderen Aufgaben den Vorsitz des Centre Culturel Franco-Allemand.

Anne Tallineau studierte Jura und zog es zunächst in die Filmbranche. 1994 ging sie für 15 Jahre nach Deutschland, wo sie zuerst bei der Berlinale, dann als Referentin für audiovisuelle Medien der Französischen Botschaft und als Frankreich-Referentin bei German Films arbeitete. Danach war sie unter anderem im Kabinett des damaligen französischen Außenministers Laurent Fabius als Sonderberaterin für Kultur, Bildung und Forschung tätig. 2014 wechselte sie als Generaldirektorin zum Institut français, seit 1. Januar 2020 ist sie beim DFJW.

Herr Bütow, als 14-Jähriger waren Sie erstmals in Frankreich – in Agde. Das geschah im Rahmen eines vom Deutsch-Französischen Jugendwerk (DFJW) geförderten Jugendaustauschs. Inwieweit hat diese persönliche Erfahrung Ihr damaliges Weltbild und Ihr künftiges Handeln beeinflusst?

Tobias Bütow: Frankreich hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Wenige Jahre nach dem Mauerfall war nicht nur der Sprung in das Familien- und Schulleben eines anderen Landes bereichernd, sondern auch die Rolle als „Gastgeber“. Europa hielt Einzug in mein Leben. Heute bestärkt mich dieser Austausch unbeabsichtigt in einer Überzeugung: Jugendbegegnungen funktionieren sehr gut ohne Flugzeug. Mehr als 20 Stunden war unsere Schulklasse mit dem Bus quer durch Europa gereist. Ich erinnere mich an stundenlange Skatspiele, Walkman-Musik, Liebesbriefe, Französisch-Vokabeln und wenig Schlaf. Die Pädagogik der Mobilität funktioniert auch klimafreundlich sehr gut.

Frau Tallineau, Sie haben 15 Jahre in Deutschland gelebt. Empfanden sie 1994 den Wechsel von Paris nach Berlin für Sie schwierig oder sofort bereichernd?

Anne Tallineau: Ich fand es sehr bereichernd, obwohl ich kein Wort Deutsch sprach und es vor Ort am Goethe-Institut in Berlin lernen musste. Dabei habe ich entdeckt, dass, wenn man sich in einer anderen Sprache ausdrückt, automatisch die kulturellen Referenzen dieser Sprache aufnimmt. Sie werden in gewisser Weise eine andere Person oder besser gesagt: eine neue Person. Es war ein sehr aufregendes Abenteuer im Berlin der 90er Jahre, ich fand die ständige Veränderung dieser Stadt einfach toll.

Was wird sich mit der noch relativ neuen Doppelspitze beim DFJW ändern?

Anne Tallineau: Zu zweit an der Spitze zu stehen ist ein bereicherndes Erlebnis! Wir sind ständig im Dialog. Und auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind – was völlig normal ist – wir finden immer eine Lösung, und wir haben gemeinsam, dass uns die Jugend und das DFJW am Herzen liegen.

Tobias Bütow:  Natürlich möchte unser Tandem die großen Erfolge der vergangenen Jahrzehnte fortführen und deshalb müssen wir auch manch neuen Weg gehen, beispielsweise in Form einer Richtlinien-Reform. Jugendaustausch sollte noch stärker ein Angebot für alle jungen Menschen werden. Die Corona-Krise bremst kurzfristig, was der Vertrag von Aachen langfristig gestärkt hat: den Ausbau von Jugendaustausch. Nach der Gesundheitskrise wird es mehr denn je darum gehen, so vielen jungen Menschen wie möglich das Nachbarland wieder erfahrbar zu machen. Neu ist für unsere Internationale Organisation auch der Deutsch-Französische Bürgerfonds, der im April 2020, mitten in der Corona-Krise, als Leuchtturmprojekt des Vertrages von Aachen startete, um Städtepartnerschaften und Bürgerinitiativen zu unterstützen.

Zumindest in der Politik gelten Doppelspitzen häufig als kompliziert. Versuchen Sie, möglichst alles gemeinsam zu entscheiden, oder pflegen Sie eine klare Aufgabenteilung? Und wie haben Sie in Corona-Zeiten zusammengefunden?

Anne Tallineau: Gemeinsame Entscheidungen sind genauso wichtig wie die Aufgabenteilung, die durch die Statuten des DFJW vorgesehen sind. Wir diskutieren gemeinsam über die Strategie, was zu lebhaften und leidenschaftlichen Diskussionen führt.

Tobias Bütow:  Es ist ein Glücksfall, ergänzende Blickwinkel zu einer gemeinsamen, supranationalen Perspektive verdichten zu können. Im operativen Alltag, wie im strategischen Grundsatz. Während Corona glichen die Telefon- und Video-Konferenzen zwischen den Standorten Paris und Berlin einem Live-Ticker, der es unserem Leitungsteam und uns möglich machte, schnell auf die dynamische Krisen-Situation in beiden Ländern zu reagieren.

In normalen Zeiten unterstützt das DFJW pro Jahr rund 9000 Programme für fast 200.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zwischen drei und 30 Jahren. Wie haben sich diese Zahlen im Corona-Jahr 2020 entwickelt?

Tobias Bütow: Natürlich hat die Corona-Krise den Jugendaustausch und die internationale Jugendarbeit stark eingeschränkt. Wir mussten schnell reagieren, um die Programmfördermöglichkeiten und den Austausch der Jugendlichen an die neuen Rahmenbedingungen anzupassen. Von nun an können digitale und hybride Begegnungen mit mehr Fördergeld unterstützt werden. In Sorge waren und sind wir um gemeinnützige Vereine der außerschulischen Jugendarbeit, die ihre Einnahmen projektbasiert erwirtschaften. Diese Träger setzen einen wichtigen Teil der Jugendbegegnungen um. Wir versuchen, bestmöglich zu unterstützen. Was unsere eigenen Programme angeht, konnten wir bisweilen einen Zuwachs der Anmeldezahlen beobachten! 20 Prozent mehr Schülerinnen und Schüler haben sich zum Beispiel für das Schuljahr 2021/22 zum Schüleraustauschprogramm „Voltaire“ angemeldet. Junge Menschen sehnen sich mehr denn je nach dem Blick über den Tellerrand.

Digitale Begegnungen sind ein guter und pragmatischer Ausweg. Aber persönliche Kontakte können sie nur bedingt ersetzen. Wie gehen Sie mit dieser Herausforderung um?

Anne Tallineau: Wir sind uns natürlich bewusst, dass virtuelle Begegnungen einen realen Aufenthalt im Partnerland oder einen Schüleraustausch nicht ersetzen können. Nichtsdestotrotz sehen wir die Digitalisierung nicht nur als Übergangslösung, sondern als langfristige Stärkung. Viel zu lange hinkte die Jugendarbeit der digitalen Welt der Jugendlichen hinterher! Mit den neuen virtuellen und hybriden Begegnungen erreichen wir die Jugendlichen auch online.

Wenn Sie zwei, drei Jahre in die Zukunft blicken: Wie werden die Erfahrungen aus der Corona-Zeit die Arbeit des DFJW dann verändert haben? Und glauben Sie, dass die Pandemie sogar einen positiven Schub für Veränderungsprozesse verursacht haben könnte?

Tobias Bütow: In zweieinhalb Jahren feiert das DFJW seinen 60. Geburtstag. Der Lernprozess des Jahres 2020 ist einzigartig – sei es in puncto Geschwindigkeit der Digitalisierung, aber auch hinsichtlich Resilienz und Kreativität unserer Partner. Unser Auftrag ist es, im Sinne des Elysée-Vertrages und des Vertrages von Aachen Jugendbegegnungen wieder auszubauen. Wenn wir im Sommer 2023 zurückblicken, werden wir hoffentlich feststellen, dass die deutsch-französischen Beziehungen gestärkt aus der Gesundheitskrise hervorgegangen sind. Deutschland und Frankreich merken doch aktuell wie notwendig europäischer Zusammenhalt ist. Und so geht es auch jungen Menschen.

Als das DFJW in den 60er-Jahren seine Tätigkeit aufnahm, war das deutsch-französische Verhältnis noch stark von Kriegserinnerungen und der angeblichen „Erbfeindschaft“ geprägt. Denken Sie, dass diese Hypotheken überwunden sind?

Anne Tallineau: Als Charles de Gaulle und Konrad Adenauer 1963 das DFJW gründeten, haben Sie den Grundstein für eine deutsch-französische Freundschaft gelegt, die manchen Jugendlichen heute vielleicht normal oder unspektakulär erscheint. Begriffe wie „Erbfeindschaft“ gehören der Vergangenheit an und dennoch ist es uns wichtig, die Jugendlichen von heute daran zu erinnern, was hinter uns liegt.

Wie werden sich die grundsätzlichen Ziele des DFJW im beginnenden Jahrzehnt verändern?

Tobias Bütow:  Das grundsätzliche Ziel des DFJW ist seit 1963 unverändert: Den Jugendaustausch zwischen Deutschland, Frankreich und mit der europäischen oder euro-mediterranen Nachbarschaft bestmöglich zu fördern. Thematisch stehen Europa, Nachhaltigkeit und Klimaschutz, der Ausbau regionaler Partnerschaften, die Stärkung und Qualitätssicherung der Jugendarbeit sowie die Digitalisierung auf der Agenda. Nach der Corona-Krise wird die Wiederbelebung deutsch-französischer Sportbegegnungen, aber auch Politische Bildung eine gewachsene Rolle spielen. 

Grundsätzlich gilt: Nicht jedem jungen Menschen ist Europa-Kompetenz und Mehrsprachigkeit in die Wiege gelegt. Doch Europa ist für jeden jungen Menschen eine einzigartige Perspektive. Diese soll erfahrbar werden, für junge Menschen und für unsere Gesellschaften. Denn die Chancen und Risiken des 21. Jahrhunderts können wir nur gemeinsam meistern: Denken Sie an die Suche nach einem Impfstoff, Umweltschutz und Klimawandel, Migration, die Digitalisierung oder eine friedliche EU-Nachbarschaft. Wir brauchen einander. Und das ist auch gut so.

Das DFJW weitet seine Aktivitäten auf Länder in Mittel- und Südosteuropa und den Mittelmeerraum aus. Wie passt das zum Grundgedanken, die Verbindung zwischen jungen Menschen in Deutschland und Frankreich auszubauen und deren gegenseitiges Verständnis zu fördern?

Anne Tallineau: Die Unterstützung der europäischen Idee durch Förderung von Projekten mit gesellschaftspolitischen Thematiken ist eine unserer wichtigsten Prioritäten im DFJW. Bereits die Gründungstexte aus dem Jahr 1963 stellen unsere Aufgabe in einen europäischen und internationalen Zusammenhang. Seit den siebziger Jahren öffnen wir schrittweise unsere Programme für Drittländer und setzen uns für die europäische und internationale Zusammenarbeit ein. Dabei steht für uns vor allem der interkulturelle Dialog, das gegenseitige Verstehen und Voneinander-Lernen im Vordergrund. Andere Länder können im gleichen Maße sich von der Arbeit des DFJW inspirieren lassen, neue Verständigungsprozesse und Versöhnungsarbeit lernen, so wie wir von den diesen Ländern lernen können! Deutsche und französische Jugendliche bekommen durch die Begegnungen mit der neuen Kultur europäische Werte wie Demokratie, Solidarität und Toleranz vermittelt.

Bereits in Ihrer Berliner Zeit engagierten Sie, Frau Tallineau, sich intensiv für die Vermittlung deutscher und französischer Kultur. Was hat sie im Kulturbereich in Deutschland am meisten beeindruckt?

Anne Tallineau:  Ich war schon immer beeindruckt vom offenen und einladenden Geist in Deutschland. Als ich anfing, in einer Filmproduktionsfirma (Regina Ziegler Filmproduktion) zu arbeiten, habe ich mehr Deutsch gebrabbelt, als ich es sprach. Und mir wurde trotzdem vertraut!

Dass Sie, Herr Bütow, aufgrund Ihrer beruflichen Erfahrungen eine besonders enge Beziehung zu Nizza pflegen, ist bekannt. Welche weiteren Städte und Regionen in Frankreich mögen Sie ebenfalls besonders?

Tobias Bütow:  Als ich zum DFJW ging, schrieb der Nice Matin: „Le plus Nicois des Allemands“. Ein schöneres Kompliment kann diese Stadt, mit einer so bewegten deutsch-französischen Geschichte, kaum vergeben. Frankreich erschließt sich mir vor allem aus der „Provinz“. Sei es das Elsass mit Strasbourg, dem Herzen der europäischen Demokratie, Oradour-sur-Glane, dem Tiefpunkt deutsch-französischer Geschichte, die erhabenen Pyrenäen, die Atlantik und Mittelmeer verbinden, oder Marseille, die Metropole am Mittelmeer, die davon zeugt, dass Europas Zukunft von Süden gedacht werden muss. 

Herr Bütow, wenn Sie die Augen schließen und an Frankreich denken: Wie sieht das Bild aus, das Sie spontan vor sich sehen?

Tobias Bütow:  Der Atlantik. Schon beim Einatmen der Meeresluft setzt die Erholung ein.

Frau Tallineau, wenn Sie die Augen schließen und an Deutschland denken: Wie sieht das Bild aus, das Sie spontan vor sich sehen?

Anne Tallineau: Ich sehe die Berge Bayerns im Winter, die Berliner Seen im Sommer, den Zoo-Palast der Berliner Filmfestspiele und meine Berliner Freundinnen!

Das Deutsch-Französische Jugendwerk

Das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW) hat die Aufgabe, die Verbindungen zwischen jungen Menschen in Deutschland und Frankreich auszubauen und ihr gegenseitiges Verständnis zu vertiefen. Das DFJW verfügt über Standorte in Paris und Berlin und eine Außenstelle in Saarbrücken. Die Gründung erfolgte 1963 im Rahmen des Élysée-Vertrags. Finanziert wird das DFJW durch einen gemeinsamen Fonds der Regierungen beider Länder. 2019 standen 29,5 Millionen Euro zur Verfügung.

Das DFJW fördert u. a. Schüler- und Studierendenaustausch, Sprachkurse, Partnerschaften von Städten und Regionen, Sportbegegnungen, Praktika und Austausch im Berufsbereich, Stipendien für Fachseminare und Forschungsarbeiten. Seit 1963 hat das DFJW mehr als neun Millionen jungen Menschen aus Deutschland und Frankreich die Teilnahme an mehr als 376.000 Austauschprogrammen ermöglicht.

An der Spitze des DFJW steht ein Verwaltungsrat, Vorsitzende sind Franziska Giffey, deutsche Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, und Jean-Michel Blanquer, französischer Minister für Bildungs-, Jugend- und Sport. Das Generalsekretariat ist ausführendes Organ des Verwaltungsrats.

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