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Integrationskurse

Diversität = Bereicherung

Karin Fischer

© Fotomontage: Shutterstock

12. Juli 2020

Eine Sprache zu lernen, heißt immer auch, sich mit der Kultur eines Landes auseinanderzusetzen. So simpel dieser Satz klingt, so kompliziert ist die Umsetzung. Insbesondere dann, wenn die Lernenden einen völlig anderen kulturellen Hintergrund haben, wie es z. B. in deutschen Integrationskursen der Fall ist.

Wie jeden Tag kommt die Irakerin Fatma (Name geändert), 28, mindestens eine Viertelstunde zu spät zum Integrationskurs und beginnt, ihre Mitlernerinnen und -lerner zu begrüßen und sich nach deren Befinden zu erkundigen. Dass sie damit den laufenden Unterricht stört, kommt ihr gar nicht in den Sinn. „Ich bin doch nur ein paar Minuten zu spät; das ist doch nicht schlimm!“ Schließlich wolle sie nur höflich sein.

Interkulturelle Kompetenz

Die unterschiedliche „Interpretation“ von Pünktlichkeit oder auch ein anderes Verständnis von Höflichkeit bilden das Thema „interkulturelle Differenzen“ nur unzureichend ab. Interkulturelles Lernen mit Zuwanderinnen und Zuwanderern in Integrationskursen ist – frei nach Theodor Fontane – ein „weites Feld“ und vor allem keine Einbahnstraße. Oft gilt es nicht nur für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die aus verschiedensten Regionen bzw. Krisengebieten kommen, Unterschiede zu erkennen und zu überdenken, sondern mindestens genauso für die Lehrkraft. „Warum leben manche Deutsche lieber alleine mit einem Hund in einer großen Wohnung, als eine Familie zu haben?“, „Welches Hobby ich habe? Was meinen Sie damit? Ich muss putzen, kochen und meine sechs Kinder versorgen.“

Fatma absolviert einen „normalen“ Integrationskurs, der aus zwei Teilen besteht: 600 Unterrichtseinheiten umfasst der Sprachkurs und weitere 100 Unterrichtseinheiten der Orientierungskurs, in dessen Rahmen Kenntnisse über Staat, Gesellschaft, Geschichte usw. vermittelt werden. 2018 besuchten über 200 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Kurse.

Zusätzlich 300 Unterrichtsstunden fallen bei den Alphabetisierungskursen an. Vor zwei Jahren lernten ca. 66 000 Menschen, die auch in ihrer Heimatsprache des Schreibens und Lesens nicht mächtig waren, in Deutschland die lateinischen Schriftzeichen. Kurse für Zweitschriftlerner, die eine Schriftsprache wie etwa Arabisch, aber nicht das deutsche Alphabet beherrschen, besuchten rund 6 800 (Quelle: Statista 2020).

In einem Integrationskurs, © inlingua Osnabrück

Es geht also zum einen um Landeskunde sowie sprachliche Kompetenz – die Befähigung, einfache Alltagssituationen zu bewältigen, Formulare auf einem Amt auszufüllen, sich um einen Job zu bewerben, sich vorzustellen usw. Eine wesentliche Voraussetzung für geglückte Kommunikation ist zum anderen die Sensibilisierung für Lebenskonzepte und Wertevorstellungen, die möglicherweise kulturell unterschiedlich besetzt sind. Wenn der Spracherwerb lediglich als reine Übersetzung verstanden wird, sind Kommunikationsprobleme und Missverständnisse unvermeidbar. So steht die interkulturelle Kompetenz als Lernziel mit an vorderster Stelle, um Migrantinnen und Migranten „zu gesellschaftlicher Teilhabe und Chancengleichheit“ zu befähigen. Das jedenfalls besagt das Rahmencurriculum, das das Goethe-Institut im Auftrag des Bundesinnenministeriums 2006 (!) entwickelt hat.

Verbindung zur eigenen Erfahrungs- und Sprachwelt

Heißt das, es werden neben der Verwendung von Wechselpräpositionen und der Konjugation unregelmäßiger Verben „Benimm-Regeln“ für Deutschland unterrichtet? Keineswegs! Diversität wird als Bereicherung und Potenzial gesehen. Lehrmaterialien sind dahingehend angelegt, dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer „wiederfinden“ und eine Verbindung zur eigenen Erfahrungs- und Sprachwelt ziehen. Fotos in den Unterrichtsmaterialien zeigen unterschiedlichste Menschen und Situationen aus allen Teilen der Welt. Die Figuren in den Büchern heißen entsprechend nicht nur Sandra oder Michael, sondern Yasin, Ashley usw. Texte und Aufgaben regen gleichermaßen dazu an, kulturelle Unterschiede und eigene Erfahrungen zu reflektieren, z. B. zum Thema Ausbildung: „Wie habe ich Schule und Ausbildung in meiner Heimat erlebt? Wie ist das in Deutschland?“, „Was gefällt mir besser?“, „Wie kann ich in Deutschland eine Ausbildung machen?“ oder „Welche Schulform soll ich für meine Kinder wählen?“

Der Gedanke dahinter: Um in einem Land in jeder Hinsicht „anzukommen“, gilt es, die eigene kulturelle Prägung zu erkennen, sich über persönliche Vorbehalte und Werte klar zu werden sowie Differenzen zu reflektieren. Erst dann kann man die andere bzw. neue Kultur verstehen und in Folge akzeptieren.

Fatmas Deutschkenntnisse werden am Ende des Integrationskurses mit dem Deutschtest für Zuwanderer (DTZ) geprüft. Ebenso muss sie ihr Wissen zur Landeskunde mit einem Multiple-Choice-Test nachweisen. Ob und welche Entwicklungen sie auf der interkulturellen Ebene gemacht hat, wird vor allem sie selbst merken. Wie viele Eltern ist die dreifache Mutter mit der Tatsache konfrontiert, dass ihre Kinder fließend Deutsch, aber kaum noch Arabisch sprechen und durch Kindergarten bzw. Schule komplett in der deutschen Kultur verankert sind. Auch wenn der Integrationskurs beendet ist – das interkulturelle Lernen wird Zuwandererinnen und Zuwanderer wie Fatma wohl ein Leben lang beschäftigen.

Karin Fischer leitet seit 2018 Integrations- und Alphabetisierungskurse in Leverkusen.

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