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Simone de Beauvoir

Oh, Simone!

Julia Korbik

Das Stammcafé von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre im Pariser Quartier Latin, © Shutterstock

2. April 2021

Im Sommer 1946 begann die 38-jährige Simone de Beauvoir in Paris mit einem neuen Projekt. Sie wollte ihre Autobiografie schreiben und zunächst danach fragen, was es für sie bedeutet, eine Frau zu sein.

Mit der Antwort darauf, so glaubte Beauvoir, würde sie schnell fertig sein, denn: „Gewiss bedauerte ich nicht, eine Frau zu sein; ich zog im Gegenteil große Befriedigung daraus.“ Ihr Geschlecht habe für sie nie eine Rolle gespielt, erklärte sie ihrem Partner Jean-Paul Sartre. Doch der gab zu bedenken: „Trotzdem sind Sie nicht so erzogen worden wie ein Junge: Das muss man genauer untersuchen.“ Also untersuchte Beauvoir – und machte eine, für sie, erstaunliche Entdeckung: „Diese Welt ist eine Männerwelt, meine Jugend wurde mit Mythen gespeist, die von Männern erfunden worden waren, und ich hatte keineswegs so darauf reagiert, als wenn ich ein Junge gewesen wäre.“ Kurzerhand stürzte sie sich in die Recherchen für einen längeren Essay über die Lage der Frau, der 1949 unter dem Titel Le Deuxième Sexe (Das andere Geschlecht) erschien.

Viel zitiert, wenig gelesen

Heute, 35 Jahre nach ihrem Tod, wird Simone de Beauvoir oft auf diesen – feministischen – Aspekt ihres Werks reduziert. Oder auf die Tatsache, dass sie die Partnerin eines berühmten Mannes, Jean-Paul Sartre, war. Nach und nach ist Beauvoir zu einer Autorin geworden, die sehr viel zitiert – „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ –, aber wenig gelesen wird. Sie ist mehr Mythos als Realität, man traut sich oft nicht richtig an sie heran. Dabei lohnt es sich, Simone de Beauvoir neu oder wieder zu entdecken: als Schriftstellerin, als Philosophin (auch wenn Beauvoir diese Bezeichnung für sich ablehnte), als Feministin, als Mensch. Weil sie die von Sartre abstrakt gedachte Philosophie des Existenzialismus in ihrem Schreiben lebendig werden ließ. Weil sie manchmal so herzerweichend poetisch und dann wiederum ganz nüchtern die Irrungen und Wirrungen des menschlichen Daseins schilderte. Weil sie eine eigenständige Denkerin war, und ihre Art, Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen, auch heute noch aktuell ist.

Tochter aus gutem Hause

Beauvoir selbst stellte fest: „Mein Werk ist mein Leben.“ Anders gesagt: Ihr Leben und Werk lassen sich nicht getrennt voneinander betrachten, so sehr waren sie ineinander verwoben. Dass aus der Tochter aus gutem Hause eine berühmte Intellektuelle werden würde, war dabei nicht unbedingt abzusehen. Beauvoir wurde am 9. Januar 1908 in Paris geboren. Sie und ihre jüngere Schwester Hélène wuchsen in einem bürgerlichen Elternhaus auf, mit eigenem Dienstmädchen und ausgeprägtem Klassenbewusstsein. Die gesellschaftlichen Ambitionen der Familie überstiegen die vorhandenen finanziellen Mittel jedoch bei weitem, man lebte hauptsächlich von einer Erbschaft.

Mit diesem angenehmen Leben war es 1917 vorbei: Beauvoirs Vater Georges, der in russische Aktien investiert hatte, verlor während der Oktoberrevolution einen Großteil seines Vermögens. Die Beauvoirs gehörten nun zu den ‚neuen Armen‘, was bedeutete, Georges würde seinen Töchtern keine angemessene Mitgift zahlen können. Ungerührt verkündete er ihnen: „Heiraten, meine Kleinen (…) werdet ihr freilich nicht. Ihr habt keine Mitgift, da heißt es arbeiten.“

Beauvoir entschied sich dazu, Lehrerin zu werden. Philosophielehrerin, um genau zu sein, denn als Teenager hatte Beauvoir ihren katholischen Glauben verloren und sich auf der Suche nach Antworten auf die großen Fragen des Lebens der Philosophie zugewandt – für sie ein Instrument, vermeintliche Gegebenheiten kritisch zu hinterfragen. Während ihres Philosophiestudiums an der Sorbonne lernte Beauvoir 1929 ihren Kommilitonen Jean-Paul Sartre kennen, klein, schlau und von der Intelligenz des „Bibers“ – so Beauvoirs Spitzname – begeistert.

Aus den beiden wurde ein Paar, allerdings kein gewöhnliches: Ihre Liebe sahen sie als „notwendige Liebe“ (amour nécessaire), doch daneben gab es eben auch die „Zufallslieben“ (amours contingents), von denen beide reichlich Gebrauch machen sollten. Beauvoir und Sartre vereinbarten außerdem, sich einander immer alles zu sagen und sich nie anzulügen. Während ihrer Partnerschaft, die bis zu Sartres Tod 1980 anhielt, lebten die beiden stets getrennt, teilten sich nie einen Haushalt. Ihr Zusammensein basierte auf Freiheit und richtete sich gegen die traditionell-bürgerlichen Beziehungsmodelle.

Eine Frage der Moral

Julia Korbik, © Lars Mensel

Freiheit, nicht nur in der Liebe, wurde zum entscheidenden Thema in Beauvoirs Leben. Während des Zweiten Weltkriegs, im besetzten Paris, erkannte Beauvoir, „dass mein Schicksal mit dem aller anderen verknüpft war. Die Freiheit, die Unterdrückung, das Glück und Leid der Menschen berührten mich zutiefst.“ Sie, die bis zu diesem Zeitpunkt, genau wie Sartre, stets die individuelle Freiheit betont und verbindliche Grundsätze moralische verworfen hatte, sorgte sich nun zum ersten Mal, was ihr Handeln oder Nichthandeln für andere bedeutete.

Für Beauvoir ging es nun darum anzuerkennen, dass die Menschheit aus vielen vereinzelten Freiheiten besteht, und trotzdem eine Verbundenheit zwischen diesen Freiheiten sowie eine dadurch begründete Moral nicht auszuschließen. Diese Moral basierte für sie auf dem absoluten Willen zur Freiheit, für sich und andere: „Frei sein wollen bedeutet wollen, dass auch die anderen frei sind.“ Der Mensch, so Beauvoir, muss sich aktiv einbringen, sich engagieren und es auch anderen ermöglichen, ihre Freiheit zu gebrauchen. Immer wieder verteidigte sie den Existenzialismus – als dessen Hauptvertreter sie und Sartre galten – gegen den Vorwurf, er biete keine wirklichen Werte, weil er subjektiv und individualistisch sei.

Richtung Freiheit

Vor allem die Freiheit der Frauen beschäftigte Beauvoir. In Das andere Geschlecht stellte sie fest, dass Biologie kein Schicksal ist, und es keine durch die Anatomie bestimmte „weibliche Essenz“ gibt, die Frauen bestimmte Verhaltensweisen, ein bestimmtes Leben auferlegt. Und war sie nicht selbst ein Beweis dafür? Sie ließ ihr Geburtsmilieu und die damit verbundenen Erwartungen zurück, ohne zu wissen, worauf sie ihr Leben stattdessen aufbauen sollte. Auf der Suche nach einem eigenen Lebensmodell konnte Beauvoir kaum auf Vorbilder zurückgreifen: Den Weg, den sie ging, musste sie durch Denken und Handeln selbst schaffen. Doch wohin dieser Weg führte, war stets klar: Richtung Freiheit. Die eigene, aber auch die der anderen.

Julia Korbik, Oh, Simone! Warum wir Beauvoir wiederentdecken sollten. Rowohlt, Hamburg, 2017

Aktuelles von Julia Korbik

Kunst und harte Arbeit

Als 1953 die englische Übersetzung von Das andere Geschlecht in den USA erschien, entwickelte sie sich dort schnell zum Bestseller. Heute ist jedoch klar, dass diese Übersetzung – von Howard M. Parshley, einem emeritierten Zoologie-Professor – recht freizügig gekürzt worden war. Hinzu kamen zahlreiche falsche Übersetzungen philosophischer Begriffe. Das Ergebnis war, dass die existenzialistische, also philosophische Dimension des Buches in der englischen Übersetzung verschleiert wurde.

Ich selbst habe mit der Übersetzung meines Buches Oh, Simone! sehr viel mehr Glück gehabt: Julie Tirard hat es umsichtig und feinfühlig ins Französische übertragen und während des Arbeitsprozesses immer wieder mit mir Rücksprache gehalten. Eine besondere Herausforderung waren Wortspiele, die im Französischen angepasst und geändert werden mussten. So fasse ich an einer Stelle Simone de Beauvoirs Romane jeweils in einem Satz zusammen: Sie kam und blieb beispielsweise beschreibe ich als „Verhängnisvolle ménage à trois im Paris der 1930er (oder: Drei sind einer zu viel)“. Julie Tirard hatte die Idee, im Französischen mit Hashtags zu arbeiten, um das Spielerische und Lustige dieser Beschreibungen zu betonen: „Un ménage à trois malheureux dans le Paris des années 1930 (#adeuxcestmieux)“.

Übersetzen ist eine Kunst und harte Arbeit – wie schön, wenn man sich als Autorin sich selbst und seinen Stil so genau in einer anderen Sprache wiederfindet!

Julia Korbik, Oh, Simone ! Penser, aimer, lutter avec Simone de Beauvoir. La ville brûle, Montreuil, 2020

Dialog Dialogue

1 Kommentare/Commentaires

  1. C’est vrai, j’avoue que je connais surtout les citations concernant Simone de Beauvoir et que je n’ai lu aucun de ses livres. Merci, Julia, vous m’avez bien motivée à enfin le faire.

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