Gérard Le Gouic
Die Harfe Armorikas
21. Dezember 2019
Der bretonische Schriftsteller Gérard Le Gouic ist in Deutschland und auch Frankreich ein eher unbeschriebenes Blatt. Das umfangreiche Werk des mittlerweile 84-Jährigen lässt sich nicht auf Folklore oder Lokalkolorit reduzieren, zeigt aber die Bretagne authentisch.
Anders als oft zu lesen ist Gérard Le Gouic 1936 nicht in der Bretagne, sondern in Paris geboren. Seit 50 Jahren jedoch lebt er, wo seine Eltern ursprünglich herkommen: im Departement Finistère. Seine frühe Pariser Zeit, die Erfahrung seiner Kindheit in den 1940er Jahren, hat er in einer komprimierten Erzählung (Le Grand Pays, 1997) beschrieben; überhaupt kommen, wenn er Prosa schreibt – im Grunde nicht sein Hauptbetätigungsfeld – vor allem biografische Momente zur Geltung.
Telen Arvor
Der kleine bretonische Ort Kernevel unweit von Pont-Aven, wo Le Gouic seit 1976 versteckt in einem ebenso alten wie beeindruckenden Manoir mittlerweile alleine lebt, war nie nur ein Rückzugsort. Nach seinem Militärdienst, der ihn 1958 – dem Jahr, in dem auch sein erster Gedichtband erschien – nach Médéa in Algerien verschlug, ging er 1959 als Kaufmann erneut und diesmal für zehn Jahre in mehrere afrikanische Länder (Kongo, Tschad, Kamerun u. a.). Seine dortigen Erfahrungen erzählt er in Les Pays chauds (2014).
1969 kam er zurück in die Bretagne; in Quimper betrieb er lange Zeit in unmittelbarer Nähe der Kathedrale Saint-Corentin einen Souvenirladen für Keramik, Faïencen und Steingut.
Er nannte ihn Telen Arvor (la Harpe d’Armorique / die Harfe Armorikas) – wie seinen eigenen Verlag, in dem er zahlreiche Bücher, vor allem aber seine Gedichte herausgab. Sein Werk wurde von der Kritik bereits früh positiv aufgenommen – und auch ausgezeichnet: 1973 erhielt er den Prix Bretagne für den Band Poèmes de mon vivant, 1980 den Prix Artaud für Géographie du fleuve. Bereits in 15 Sprachen übersetzt, erfolgte 2019 seitens eines tunesischen Verlegers die Übertragung einiger seiner Gedichte ins Arabische. Sie lassen die Bretagne mit ihrem Möwengeschrei, ihren Weiden, ihren Apfelbäumen, ihren Pferden und nicht zuletzt den Wind in Vagues d’un blanc net oder Pèlerinages de pluie geradezu sinnlich erleben – auch wenn es Le Gouic um Poesie und nicht um Lokalkolorit geht.
Sein bekanntestes Langgedicht, das Poème de l’île et du sel (Insel und Salz; 1977), liegt mittlerweile mit 7000 Exemplaren in 10. Auflage vor und ist eines seiner wenigen Bücher, die auch ins Deutsche übersetzt wurden. Ein Auszug:
„Ici/ tout prend goût de sel:/ le vent, l’herbe, la pluie,/ même les cahiers et l’encre des écoliers./ Ici/ le sel est noir/ quand l’océan s’assombrit,/ rouille et blanc/ quand la brise bleuit.“
„Hier/ nimmt alles Salzgeschmack an:/ Wind Gras, Regen,/ sogar die Hefte/ und die Tinte der Schulkinder./ Hier/ ist das Salz schwarz,/ wenn der Ozean sich verfinstert,/ rostbraun und weiß/ wenn der Meerwind aufblaut.“)
Deutscher Herausgeber ist der Betragneliebhaber, Schriftsteller, Poet und Verleger Fritz Werf, der Anfang der 1990er Jahre in Andernach für seinen eigenen Verlag drei Bücher Le Gouics übersetzte, darunter auch eine Zusammenstellung von Aphorismen, die sich aus mehreren Büchern speist.
Journal intime
Gérard le Gouic ist ein unprätentiös auftretender, zurückhaltender, aber auch witziger Mann, er besitzt bis heute keinen PC, erst recht hat er keinen Zugang zum Internet. Seine Texte tippt er seit über sechzig Jahren in eine alte, analoge Schreibmaschine. Neben Gedichten und Erzählungen treibt ihn die kontinuierliche Arbeit an einem Tagebuch voran, das ausdrücklich als „journal intime“ daherkommt und keine schnöden Tagesabläufe unter präzisen Daten auflistet.
Sechs Bände liegen bislang vor, der siebte soll bald folgen. Egal, wo man da aufschlägt: Le Gouic zeigt sich stets als minutiöser Beobachter, der in meist kurz gefassten Sätzen den kleineren Kuriositäten des Alltags nachgeht und den Finger gerne auf jene Paradoxien legt, mit denen wir uns wie selbstverständlich arrangiert haben – oder für die wir blind geworden sind. Mitunter denkt man da ein bisschen an die Maximen von La Rochefoucauld oder an Lichtenbergs aphoristische „Sudelbücher“, die Ähnlichkeit aber speist sich vor allem aus der Diktion.
Auch Haikus oder Epigramme können formale Optionen sein. Blättert man etwa in seinem Journal de ma boutique (1987), stößt man immer wieder auf Aperçus und Bonmots, deren leicht maliziöse Hintergründigkeit wahlweise zum Schmunzeln oder zum Nachdenken einladen:
„J’aime la saison de la chasse. Un tireur parfois en abat un autre.“ („Ich liebe die Jagdsaison. Manchmal erlegt ein Jäger einen anderen.“ Übersetzung: Fritz Werf)
„On a l’étérnité derrière soi. Devant, on ne sait pas.“ („Die Ewigkeit haben wir hinter uns. Was vor uns liegt, wissen wir nicht.“)
Lyrik und Prosaminiaturen
Auf die Frage, ob er ein Buch aus seinem an die vierzig Einzeltitel umfassenden Gesamtwerk als sein „Hauptwerk“ bezeichnen würde, schüttelt er den Kopf: alles ziehe seine Wertigkeit aus dem poetischen Grundgedanken, der sich natürlich in den Gedichten, aber auch in den Prosaminiaturen manifestiere, die man als qualitativ gleichwertig begreifen dürfe. Das Journal verschweigt freilich die Enttäuschungen nicht, die sein Schreiben eine Zeit lang begleiteten, Wunden, geschlagen aus der lange ausgebliebenen Wertschätzung seines Werks.
Was nun die Verbundenheit mit der Bretagne angeht: ja, sie zeigt sich überall in seinem Werk, doch nicht im Sinne klischeehafter Wohlfühlmomente à la Bannalec (siehe Bretonische Klischees) sondern als ein „port d‘attache“ (Heimathafen) seiner kreativen Ideen, seiner Vorlieben und Stimmungen. Gérard Le Gouic versteht es auf subtile Weise, das Bukolische der Bretagne einzufangen und gelten zu lassen, zum Beispiel in einem Gedicht aus dem Zyklus Les bateaux en bouteille (1985):
A toute autre saison/ je préfère l’automne/ sur mon pays de fougères et de pommes./
Les cheminées fument,/ les portes sont ouvertes,/ on entend le vent qui grésille/ sous les bottes d’oignons, de laurier,/ on entend le bois de hêtre/ qui prend le sabotier à témoin,/ l’ancien marin des mers du sud/ qui crache dans ses mains par habitude./
Dans les cuisines et les celliers/ quand le brouillard a l’ápaisseur/ de ce qui n’existe pas,/ mon pays se sent vaincu/ parce qu’il n’a d’autre histoire/ que celle de ses invivables tentations/ et de ses moqueuses pluies.
„Jeder anderen Jahreszeit/ ziehe ich den Herbst vor/ in meinem Land aus Farnkraut und Äpfeln./
Die Kamine rauchen/ die Tore sind geöffnet/ man vernimmt den rauschenden Wind/ unter den Zwiebel– und Lorbeerbünden,/ man hört das Buchenholz/ das den Holzschuhmacher zum Zeugen nimmt/ jenen ehemaligen Seemann der Südmeere/ der aus Gewohnheit in die Hände sich spuckt./
In den Küchen und Vorratsräumen/ wenn der Nebel die Dicke alles Nichtexistierenden annimmt/ fühlt sich mein Land bezwungen/ weil es keine andere Geschichte hat/ als die ihrer unerträglichen Verlockungen/ und die ihres spottlustigen Regens.“
Auswahlbibliographie:
- Poème de l’île et du sel, Telen Arvor, Quimper 1977; Insel und Salz. Gedicht, übersetzt von Fritz Werf, Atelier Verlag, Andernach, 1991
- Aux vents bretons qui emportent, Récits. Éd. des Montagnes Noires, Gourin 2017
- Pendant l’agonie la vente continue, Journal intime, Telen Arvor. Quimper 2003
- Aphorismen / Aphorismes, Französisch / Deutsch, übersetzt von Fritz Werf, Atelier Verlag, Andernach 1994
Bretonische Klischees
Unter dem Pseudonym Jean-Luc Bannalec schreibt der ehemalige Verlegerische Geschäftsführer der S. Fischer Verlage, Jörg Bong, mit großem Erfolg in Deutschland (und übersetzt auch in Frankreich) seit 2012 (Bretonische Verhältnisse) Krimis, die ausschließlich in der Bretagne spielen, mehrfach verfilmt und sogar im französischen Fernsehen gezeigt wurden. Inzwischen hat „Kommissar Dupin“ seinen achten Fall (Bretonisches Vermächtnis) gelöst.
Die Masche funktioniert; das kolportierte Bretagne-Bild (inklusive lokaler Kochrezepte) indes ist voller Klischees und Superlative – man könnte meinen, die Tourismusbranche habe ihre Finger im Spiel: spektakuläre Wetterphänomene, prächtige Sonnenuntergänge, paradiesische Strände, fantastisches Licht – all das kann selbst bei heftigsten Stürmen keinen Einheimischen beeindrucken („Kein Bretone ließ sich wegen des Wetters von irgendetwas Wichtigem abhalten“, Bretonisches Vermächtnis).
Das literarische Muster ist denkbar einfach: ein Mord geschieht vor malerischer Kulisse, böse Machenschaften, weitere Morde und falsche Fährten bringen den mitunter etwas erratisch wirkenden Kommissar lange an seine Grenzen – bis er am Ende eine erfolgreiche Ermittlungsarbeit präsentieren kann.
Für Leserinnen und Leser, die sich auf ihren Bretagne–Urlaub freuen, ihre Vorstellungen von der Bretagne bestätigt haben oder in Erinnerungen schwelgen wollen, ist dies womöglich eine empfehlenswerte Lektüre: ihre Erwartungen an Handlung und Kulisse werden nicht enttäuscht.
Alle anderen sind mit dem authentischeren Bretagne-Bild Gérard Le Gouics besser aufgehoben.
Thomas Laux
Bravo an Thomas Laux, der den Lesern mit Gérard Le Gouic einen höchst interessanten Zeitgenossen und Autor vorstellt. Une vraie découverte ! In manchem erinnert er an Pierre-Jakez Hélias, der gleichzeitig Literatur, Brauchtum und Annäherung an die Bretagne gefördert hat. Zu der Aussage von Thomas Laux „Erwartungen an Handlung und Kulisse werden (von Bannalec) nicht enttäuscht“: Das stimmt, was man von den Verfilmungen des ZDF nicht unbedingt behaupten kann. Dennoch: Ohne Bannalec wäre ich 2018 wohl nicht nach Concarneau zurückgekehrt, eine Stadt, die ich seit 1975 kenne.