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75. Filmfestspiele von Cannes

Dreieck der Traurigkeit

Pauline Sachs

© Paramount Pictures Corporation – Jim Carrey, The Truman Show de Peter Weir / Graphisme © Hartland Villa

29. Mai 2022

Die goldene Palme geht 2022 an den sozialkritischen Film Triangle of Sadness (Dreieck der Traurigkeit) von Ruben Östlund. Im Wettbewerb um den begehrten Filmpreis gab es ein breites Spektrum – nicht preisgekrönter – französischer Filme; deutsche Filme spielten beim 75. Filmfestival von Cannes so gut wie keine Rolle.

Triangle of Sadness ist der Gewinnerfilm der 75. Ausgabe der Filmfestspiele von Cannes. Ruben Östlund taucht satirisch ein in die Welt der Superreichen und lässt Oligarchen und Influencer Schiffbruch mit einer Luxusyacht erleiden. Nach The square (2017) ist dies bereits die zweite Goldene Palme für die bissigen Sozialkritiken des schwedischen Regisseurs.

Glamour und Glitzer – das beschreibt auch die Gäste des Festivals, die an der Côte d’Azur sehen und gesehen werden möchten. Nach den Corona-bedingten Einschränkungen ist das Filmfestival dieses Jahr in seiner vollen Pracht und vor allem als Präsenzveranstaltung zurück. Doch der Krieg in der Ukraine trübt die Feierlaune an der Croisette.

Allgegenwärtiger Krieg

„Wird das Kino schweigen oder darüber reden?“, fragt der ukrainische Präsident Volodomyr Selensky in einer überraschenden Videobotschaft während der Eröffnung der Festspiele am 17. Mai. Er appelliert an Jury und Publikum, das Leid in der Ukraine nicht zu vergessen. Und ruft Filmschaffende dazu auf, Diktatoren gegenüber Position zu beziehen: „Wir brauchen einen neuen Chaplin, der beweist, dass das Kino heutzutage nicht schweigt.“

Den Krieg nicht zu verschweigen – das fordert auch die ukrainische Femenaktivistin, die bei der Premiere von Dreitausend Jahre Sehnsucht (George Miller) den roten Teppich stürmt: Mit blutverschmiertem Slip und den Worten „Hört auf, uns zu vergewaltigen“ auf der nackten Brust macht sie auf die Gewalt der russischen Soldaten aufmerksam. Butterfly Vision des Ukrainers Maksym Nakonechnyi und der Dokumentarfilm Mariupolis 2 des Anfang April im Donbass getöteten litauischen Regisseurs Mantas Kvedaravicius thematisieren den Krieg in der Ukraine. Der Kreml-kritische Regisseur Kirill Serebrennikov stellt seinen Film Tchaikovsky’s Wife vor – der einzige russische Beitrag in diesem Jahr.

Der große Preis der Jury Grand Prix, die zweitwichtigste Auszeichnung des Wettbewerbs, geht in diesem Jahr zu gleichen Teilen an den jungen belgischen Regisseur Lukas Dhont für sein Coming-of-Age-Drama Close und die französische Regie-Ikone Claire Denis für den romantischen Thriller Stars at Noon.

Coupez !

Schon vor Beginn der Festivals spielt der Krieg in der Ukraine eine Rolle: Die Zombiekomödie des französischen Regisseurs Michel Hazanavicius sollte eigentlich Z (comme Z) heißen das Symbol für den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Nach Beschwerden aus der Ukraine wird der Film in Coupez ! („Schnitt!“) umbenannt.

Der neue Titel spielt auf den Filmschnitt an – das Thema dieses Eröffnungsfilms außerhalb des Wettbewerbs, basierend auf dem japanischen Film One Cut to the Dead (2017). Im ersten Teil ist eine halbe Stunde lang ein trashiger Horrorfilm zu sehen. Während eines Drehs für einen Zombiefilm tauchen plötzlich „echte Untote“ auf und ein blutiges Massaker mit Martial-Arts-Einlagen à la Kill Bill nimmt seinen Lauf.

Coupez ! ist die Ekel-Karikatur einer verschwenderischen Splatter-Orgie. Erst am Ende wird klar: Die Komödie ist eine Liebeserklärung an das Filmemachen.

Stars at Noon

„Ich bin US-Journalistin. Morgen fahre ich nach Hause. Oder übermorgen.“ Diese Sätze, so vermutet man, hat Trish (Margaret Qualley) schon oft gesagt. Sie hat weder Geld noch Papiere und sitzt wohl in Nicaragua fest (gedreht wurde aber wegen der aktuellen politischen Situation in Panama). Einst eine Journalistin mit Idealen kommt sie heute nur über die Runden, indem sie sich für Militärs prostituiert.

In einer Hotelbar trifft sie den gutaussehenden Briten Daniel (Joe Alwyn), der ihr verspricht, sie sicher aus dem Land zu bringen. Er gibt vor, für eine Ölfirma zu arbeiten. Doch warum hat er eine Waffe in seinem Zimmer? Eine gefährliche Reise in Richtung Grenze beginnt, inklusive Schusswechsel, kurzgeschlossener Autos und bestochener CIA-Mitarbeiter. Und eine gefährliche Romanze wie in einem Werbespot.

Denis’ Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Denis Johnson (1986), der die Nicaraguanische Revolution thematisiert; er spielt unmittelbar vor den Wahlen 2021 in der Corona-Pandemie. Der geopolitische Hintergrund ist jedoch wenig konkret und tritt hinter der atmosphärischen Erzählung der Begegnung zwischen Trish und Daniel voller Sex, Lügen und Intrigen zurück.

Der Schwerpunkt auf das Atmosphärische und Immersive ohne klaren Erzählfaden und geopolitische Verortung ist für manche Kritik eine Schwäche des Films. Wie in anderen Filmen von Claire Denis (z. B. Highlife, 2018, mit Robert Pattinson) setzt sich Stars at Noon mit den Themen Macht und Körperlichkeit auseinander. Dieser Film aber sei verwirrend und ohne Zusammenhang erzählt, die Dialoge teils unverständlich, zudem würden in den 2 Stunden 17 Minuten Längen auftreten.

Nur drei Monate nachdem Claire Denis auf der Berlinale 2022 für Avec amour et acharnement (Mit Liebe und Unerbittlichkeit) den Silbernen Bären gewann, ist Stars at Noon ihr zweiter preisgekrönter Film auf einem großen internationalen Filmfestival in diesem Jahr.

Corsage

„Sissi“-Verfilmungen gibt es viele. Doch Corsage (Korsett) wirft einen neuen Blick auf das Leben der Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn. Die österreichische Regisseurin Marie Kreutzner konzentriert sich auf einen Scheidepunkt in ihrem Leben: Sissi ist vierzig Jahre alt, für damalige Verhältnisse eine alte Frau. Sie muss sich damit auseinandersetzen, nicht mehr dem Bild zu entsprechen, das die Gesellschaft von ihr hat – und stellt sich die Frage, ob sie sich überhaupt noch in das enge Korsett der an sie gerichteten Erwartungen zwängen will.

Sissi wird als freiheitsliebende und unangepasste Frau gezeigt: Bei einem Bankett raucht sie – ein Fauxpas sondergleichen. Und dem viel zu engen Spielraum, den das Korsett ihr lässt, entflieht sie durch intensive sportliche Betätigung: Sie reitet, schwimmt und läuft, wie es für eine Frau im 19. Jahrhundert äußert unüblich war. Sie lebt ihr Leben so, wie sie selbst es will – ganz gleich was ihr Mann Kaiser Franz-Joseph davon hält. Er selbst hat damit zu kämpfen, sich stets und ständig den gesellschaftlichen Erwartungen zu beugen – und verlangt das Gleiche von seiner Frau.

Historische Fakten mischen sich mit der Fantasie der Regisseurin. Und die pompösen Kostüme des kaiserlichen Hofes treffen auf Anachronismen, etwa auf ein modernes Boot oder einen Traktor. Soll sagen: Sissi war ihrer Zeit um Welten voraus.

Die luxemburgische Schauspielerin Vicky Krieps verkörpert die feministische, fast schon anarchistische Sissi voller Energie. Für den Film, der in der renommierten Nebenreihe Un certain regard lief, wird sie als beste Darstellerin ausgezeichnet.

Weitere französische Filme in Cannes

Frère et sœur, Arnaud Desplechin

Un petit frère, Léonor

Les amandiers, Valeria Bruni-Tedeschi

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