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Lost Places in Frankreich

Morbider Charme

Martin Vogler

Ein seit langem verlassener Raum, © Shutterstock

18. September 2022

Die weltweite Fangemeinde von verlassenen Orten und Gebäuden, Lost Places, wächst auch in Frankreich und Deutschland permanent – eine Szene, die den Zauber vergessener und teils unheimlicher Lokalitäten aufspürt, mit geradezu mythischen Fotos dokumentiert – und sie somit bewahrt.

Vor allem in Frankreich ist mit seinen mehr als 40.000 Burgen, Schlössern und Herrenhäusern, von denen viele leer stehen, das Angebot riesig. Die Fans dringen dort – manchmal legal, oft auch illegal – ein, sammeln Eindrücke und geben sie innerhalb der Szene weiter. Dem Reiz französischer Lost Places erliegen besonders Deutsche.

Ein Ehrenkodex verlangt, die Standorte nicht zu nennen. Denn zur Leidenschaft dieses ungewöhnlichen Hobbys gehört es, selbst – etwa bei Google-Maps – potentielle Zielorte ausfindig zu machen. Auch soll so Trittbrettfahrern, die mit weniger Empathie ausgestattet sind, ihr zerstörerisches Tun erschwert werden.

Genius loci

Solche „Vandalen“ feiern gerne wilde Feste in verlassenen Gebäuden oder an versteckten Orten, demolieren vieles oder stehlen Wertvolles. All das lehnen die Freunde der Lost Places ab: Sie möchten vielmehr den authentischen Geist bewahren, ihm nachspüren und ihre Eindrücke mit Gleichgesinnten teilen. Wobei auch sie sich häufig zumindest am Rande der Legalität bewegen, Stichwort: Hausfriedensbruch.

Ein seit längerem verlassenes Haus, © Shutterstock

Die Spanne der Lost Places in Frankreich ist groß: Von einst normalen Wohngebäuden bis hin zu verlassenen Schlössern für die sich seit Jahrzehnten niemand mehr zuständig zu fühlen scheint. Die Fans sind entzückt, wenn zum Beispiel noch Geschirr auf Tischen steht, oder Kleidung im Schrank hängt. Je persönlicher, desto besser! Aber auch profane vergessene Gebäude wie Fabriken, Bürogebäude, Bahnhöfe oder Krankenhäuser können Lost Places sein. Ebenso wie im Wald vergessene Fahrzeuge, Tunnel oder sogar verlassene Flugzeuge – die Auswahl scheint grenzenlos. Allen gemein ist lediglich, dass die Objekte nicht mehr in Betrieb sein dürfen. Und: man muss sie finden.

Domaine les Tuileries

Ein Beispiel, dessen Standort ausnahmsweise öffentlich bekannt ist, weil die Regionalzeitung L’Est Républicain häufig darüber berichtet hat, liegt in der Franche-Comté. Wenn man von Belfort aus in Richtung Burgund anstelle der Autobahn die Nationalstraße genommen hat, erinnert man sich möglicherweise an eine mit rund 60 Einwohnern kleinsten Gemeinden Frankreichs: In Pont sur L’Ognon wurde man nämlich – bevor die Umgehungsstraße gebaut wurde – durch eine 90-Grad-Abbiegung und eine Brücke über den Ognon ausgebremst.

Oberhalb dieses Flusses thront ein Lost Place der Extraklasse. Dort sollte 1994 auf 30 Hektar, wo zuvor bestenfalls kleine Tanzveranstaltungen stattgefunden haben, unter dem Motto „Paris 1900“ ein riesiger Freizeitpark entstehen. Doch die Domaine les Tuileries ging mitsamt dem Restaurant Jules Verne nie in Betrieb; der vermögende Bauherr verlor Millionen und verarmte. Auch wenn sich im Lokal noch Reste des Geschirrs finden, kann man hier nur noch bedingt dem Geist von einst nachspüren: Weil der Ort öffentlich bekannt ist, wurde in den halbfertigen Hotelanlagen, Mühlengebäuden, am Triumphbogen und den Türmen viel zerstört.

Maison Prothèse

© Birgit Peters

Fast völlig unberührt hingegen, aber extrem makaber ist eine Location, die eine leidenschaftliche Freundin vergessener Orte, Birgit Peters, „Maison Prothèse“ getauft hat. Zum Standort verrät sie nur, dass er sich irgendwo in Frankreich befindet. In dem stetig verfallenden Gebäude stehen Beinprothesen, wie sie, so ihre Recherchen, für Verwundete des ersten Weltkriegs gedacht waren. Folglich geriet das Anwesen wahrscheinlich bereits vor über 100 Jahren in Vergessenheit.

Von Spinnweben überzogen stehen dort Möbel, liegen Bücher auf Kaminsimsen, hängen Bilder an den Wänden und sogar der Tisch ist noch gedeckt. Auf einem Doppelbett sitzt seit Jahrzehnten eine Puppe, vor einem Sessel stehen Prothesen, Flaschen mit ungewissem Inhalt stehen auf Borden: Eine faszinierende Mischung, die auf den ersten Blick so wirkt, als hätten die Bewohner soeben erst das Gebäude verlassen, auf den zweiten Blick sieht man Verfall, Schmutz, und man spürt den Wind, der durch die eingeschlagenen Fenster pfeift.

Birgit Peters – die zahlreiche Lost Places kennt – sagt, sie wisse nicht, wie oft sie sich schon dort aufgehalten hat, aber sie komme nicht von diesem Gebäude los. „Ich bin immer noch hin und weg und gedanklich in einer anderen Zeit.“ Auf ihrer Facebook-Seite „Birgit’s Fotoarchiv“ hat sie zahlreiche Eindrücke und Fotos von Lost Places gepostet.

Fantasiebezeichnungen wie „Maison Prothèse“, mit denen Standorte identifiziert, aber geheim gehalten werden können, sind in der Lost-Places-Szene übrigens keine Seltenheit. „Escort Maison“ oder „Maison escalier spirale“ – letztere natürlich wegen ihrer Wendeltreppe – sind zwei weitere Beispiele dafür.

Château de Mennechet

In einem Land wie Frankreich ist die Auswahl an verlassenen Schlössern naturgemäß riesig. Ein sehenswertes Beispiel, dessen Standort ebenfalls bekannt ist, steht im 1200-Einwohner-Ort Chiry-Ourscamp nördlich von Paris im Departement Oise. Das Schloss heißt Mennechet und wurde 1881 erbaut. Bilder von 1919 zeigen, wie imposant und riesig es mit 60 Metern Länge und 40 Metern Höhe ist. Allerdings wurde es nie fertiggestellt, erhielt nie Türen und Fenster. Nach dem Tod des Bauherren Alphonse Mennechet de Barival begann 1903 der durch Kriegsschäden beschleunigte Verfall. Der Schlossturm wurde 1914 gesprengt. Heute ist Schloss Mennechet zwar von einem Park umgeben und wurde 2011 sogar als monument historique eingestuft, der Zustand des Bauwerks selbst ist jedoch weiterhin kritisch, das Betreten nicht ungefährlich.

Château Sécession

Ein markantes Beispiel für ein älteres Schloss ist Château Sécession in der Nähe des Flusses Somme. Das erste Schloss dort, aus dem 12. Jahrhundert, brannte im 30-jährigen-Krieg ab, bereits 1751 aber entstand an gleicher Stelle ein neues. Mit den beiden Weltkriegen begann dessen Verfall: Es stand jahrzehntelang leer, erlebte mehrere Eigentümerwechsel und Ende des zwanzigsten Jahrhunderts stürzten die ersten Decken ein. Entsprechend groß ist der morbide Charme, den es ausübt.

Zeche Simon

Bodenständiger muten hingegen Besuche in früheren Industrieanlagen an. Im lothringischen Forbach stehen zum Beispiel die Gebäude der ehemaligen Puits Simon mit ihren fünf Schächten (Fotos der Fördertürme auf EuroIndustrie; weitere Bilder auf mogroache).Von 1907 bis 1997 wurde hier Steinkohle gefördert. Doch ihre Glanzzeit ist – genau wie die der gesamten Stahlindustrie der Region – lange vorbei. Das zertrümmerte Rundbogenfenster der als Kathedrale bezeichneten Maschinenhalle hat jedoch nichts an Faszination verloren. Und in der Halle finden sich noch riesige Schaltpulte und Armaturen – ein Paradies für Technikbegeisterte.

Traurige Berühmtheit erlangte die Grube 1985, als bei einer Gasexplosion 22 Bergleute ihr Leben ließen und 103 verletzt wurden.

Oradour-sur-Glane

Ein besonderer verlassener Ort, für den weder „morbider Charme“ noch „Faszination“ zutreffend sind, ist Oradour-sur-Glane. Es handelt sich nicht nur um Gebäude, sondern ein ganzes Dorf, das in Frankreich für das Grauen des zweiten Weltkrieges steht. Nach Partisanenangriffen zerstörte die SS-Panzerdivision „Das Reich“ am 10. Juni 1944 den gesamten Ort und ermordete fast alle Einwohnerinnen und Einwohner.

Spätestens 2013 wurde eine breite Öffentlichkeit auf Oradour-sur-Glane aufmerksam, als der damalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck und der französische Staatspräsident François Hollande Hand in Hand der Geschehnisse gedachten (cf. Gérard Foussier, Mut und Demut, in: Dokumente/Documents 4/2013) und damit an Helmut Kohl und François Mitterrand in Verdun erinnerten. Der alte Ort ist vollständig Ruine, Mahnmal und Museum; auf der anderen Seite des Friedhofs entstand nach dem Krieg eine neue Ansiedlung.

Linktipp:
rottenplaces, Magazin rund um verfallene Bauwerke, Denkmalschutz und Industriekultur : Oradour-sur-Glane

Weitere Lost Places in Frankreich:
Urbexworld (36); lost-places-com (67)

Buchempfehlung:
Stefan Hefele, Felix Röser, Hilke Maunder, Temps perdu, Reise zu Frankreichs vergessenen Orten. Verlag Frederking & Thaler, München, Oktober 2022  

Insider-Austausch in sozialen Netzwerken

  • „Ich finde es immer wieder schade, dass so etwas einfach vergammelt, weil es keiner haben will oder darf.“
  • „An einem heißen Nachmittag in Frankreich erwartet uns dieses Haus mit offenen Türen und Fenstern. Lang ist es her, dass hier eine Runde Schach gespielt wurde und man gemütlich im Wohnzimmer zusammensaß.“
  • „Eine atemberaubende Architektur.“
  • „Man sollte immer mindestens zu zweit gehen. Alleine ist es einfach zu gefährlich.“
  • „Was man definitiv nicht vergessen sollte, ist ein Multitool, mit dem man die Chance hat, eine zugefallene Tür zu öffnen.“
  • „Das Wichtigste: Hinterlasse den LP (Anm. Lost Place) so, als wenn Du nie da gewesen bist.“
  • „Lag da der Teppich noch, wo die Frau drauf starb?“
  • „Wenn Du erwischt wirst, versuche zu flitzen. Wann das nicht klappt, erkläre Dich sachlich und offen. Zeige denen, dass Du nichts zerstört oder hast mitgehen lassen, außer Deinen Fotos.“
  • „Ich finde es immer so schade, dass die Vandalen alle Klamotten rausreißen, die ganzen Unterlagen verteilen und Dinge kaputt machen. Echt traurig.“
  • „Vermeide es, in der Dunkelheit mit einer Taschenlampe durch einen Spot zu laufen. Viele Nachbarn verhalten sich wie Hilfspolizisten, und ältere Menschen mögen es gar nicht, wenn man im Dunkeln Taschenlampenlicht in einem Haus sieht.“
  • „Adrenalin muss irgendwie dabei sein, sonst könnte man ja auch gleich in ein Museum gehen.“



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