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Sempé (1932–2022)

Nachruf und Hommage

Wolf Jöckel

Fresque Sempé, Detail, September 2022, Foto: Wolf Jöckel

15. September 2022

Am 11.8.2022 ist der Karikaturist und Zeichner Jean-Jacques Sempé kurz vor seinem 90. Geburtstag gestorben: Für mich Anlass, einen Blick auf zwei – mir besonders liebe – seiner wunderbaren Paris-Zeichnungen zu werfen und dann das große Wandbild zu seinen Ehren in der rue Froissard im 3. Arrondissement vorzustellen.

Das große Wandbild Fresque Sempé in der rue Froissart, Foto: Wolf Jöckel

Es gibt ein Bild, das, wie Andreas Platthaus in seinem Nachruf in der FAZ vom 12.8. schreibt, die Kunst von Sempé auf den Punkt bringt; „Eine Ansicht von Saint-Sulpice, nur wenige Fußminuten entfernt von seinem Appartement, aber nicht der monumentalen Kirche mit ihrem weltberühmten Delacroix-Altarbild des mit dem Engel ringenden Jakob, sondern des baumbestandenen Vorplatzes, um den Passanten und Motorradfahrer kreisen – ‚Paris comme elle faut‘. Und ganz oben überm Häuserrand der Platzbebauung reckt sich auf dem halbmetergroßen Blatt die moderne Tour Montparnasse in den Himmel. Dieses Hochhaus empfand Sempé als Gruß seiner ersten an die zweite Lieblingsstadt, an New York.“ (Zeichnung auf MutualArt; zum Altarbild von Delacroix)

Der Platz, von dem aus diese Perspektive sich öffnet, ist – etwas erhöht – das Café de la Mairie. Dort sitzen wir gerne nach einem Chorkonzert, an dem ich – wie zuletzt ein paar Tage vor dem Tod Sempés – teilnehmen durfte. In diesem Café hatte sich auch der französische Schriftsteller Georges Perec niedergelassen, um ein kleines außergewöhnliches Büchlein über diesen Platz zu schreiben: Tentative d’épuisement d’un lieu parisien (Versuch, einen Pariser Platz zu erfassen).

An drei aufeinanderfolgenden Tagen hatte Perec alles aufgeschrieben, was er beobachtete: gewöhnliche, eigentliche unbedeutende Dinge des täglichen Lebens. Der volle Bus Nummer 96, der vorbeifährt, ein Mann, der die Kirche verlässt, das Geräusch der vom Wind bewegten Blätter, die Tauben auf dem Platz, zwei kleine Hunde „genre Milou“ (der Hund Tintins) und so weiter – auf 41 Seiten: „Die tausend unbeachteten kleinen Details, die das Leben in einer großen Stadt ausmachen“, wie es auf dem Klappentext des Buches heißt. Dort wird eine Parallele zu den Beobachtungen Monets an der Kathedrale von Rouen hergestellt: „Un regard, une perception humaine, unique, vibrante, impressioniste, variable“ (Ein Blick, eine menschliche Wahrnehmung, einzigartig, leidenschaftlich, impressionistisch, veränderbar). Passt das nicht auch zu Sempé?

Die Dächer von Paris

© Unsplash, Valentin B. Kremer

Eine andere Zeichnung mit einem für uns ganz persönlichem Bezug ist diese Ansicht auf die typischen Pariser Zinkdächer mit ihren kleinen tönernen Kaminschloten. Es gibt sogar Bemühungen die „toits de Paris“ in das immaterielle UNESCO-Welterbe aufzunehmen. Sempé wirft aber einen ganz besonderen und für ihn charakteristischen Blick (cf. pinterest) darauf.

Da haben es sich zwei auf dem Dach – über einem der typischen Dachfenster, den sogenannten œils de boeuf, gemütlich gemacht und genießen die Sonne … Wäre da nicht die Frau oben in einem der früher für die Hausangestellten bestimmten bonne-Zimmer unter dem Dach, die gerade ihr Spülwasser in den Ausguss schüttet. Und wäre da nicht das Leck in der Dachrinne … Wie treffend! Wir können davon ein Lied singen: In unserem kleinen Appartement unter den Dächern von Paris haben wir schon zweimal einen Wasserschaden gehabt wegen eines Lecks im Zinkdach. Beim zweiten Mal habe ich den von der Hausverwaltung zur Reparatur engagierten Dachdecker (couvreur-zingueur) etwas entnervt gefragt, ob wir denn nun damit rechnen könnten, von weiteren Wasserschäden verschont zu bleiben. Da zuckte er nur mit seinen Achseln: Wer könne das schon wissen … les toits de Paris …

Fresque Sempé

In der Rue Froissard, Foto: Ville de Paris / François Grunberg

Aber nun zum Wandbild Sempés in der rue Froissard im 3. Arrondissement von Paris: Als dieses Wandbild entstand – eingeweiht wurde es im Februar 2019 – war Sempé schon 86 Jahre alt, also etwas zu alt dafür, ein solches monumentales Wandbild zu erstellen, das bis auf eine Höhe von 10 Meter heranreicht. Die Aufgabe wurde also Jean-Marie Havan übertragen (cf. YouTube-Video), einem Maler mit 40-jähriger Berufserfahrung.

Der erzählt: „Seit meiner Jugend war ich ein Fan von Sempé. Also war ich glücklich über diesen Auftrag. Meine größte Angst war, es könne ihm nicht gefallen. Ich habe deshalb zuerst lange und ausführlich seine Art zu zeichnen und zu malen studiert und eine ganze Reihe von Kopien der originalen Zeichnung angefertigt, bevor ich mich an die Arbeit gemacht habe.“

Eine besondere Schwierigkeit bestand darin, dass dieses Original 50 mal 30 cm maß, die Mauer aber 4,5 mal 6,5 Meter, die kleine Zeichnung musste also entsprechend vergrößert werden, dabei aber ihren ursprünglichen Charakter bewahren.

Eine andere Schwierigkeit bestand darin, dass es sich bei  dem Original um ein Aquarell  handelte und Havan versuchen musste, auch diese Technik auf die Hauswand zu übertragen. Dazu kam, dass diese Wand nicht ganz glatt war, was entsprechende Anpassungen erforderlich machte.

200 Stunden arbeitete Havan an seinem Werk. Sempé hat ihn dabei besucht. Er sei zufrieden gewesem gewesen und und habe dem Bild seinen Segen gegeben, so dass es auch mit seinem Signum versehen werden konnte.

Freiheit auf dem Fahrrad: Sempé-Münze von 2014

Dass Sempé gerade dieses Motiv für das Pariser Wandbild ausgewählt hat, ist sicherlich seiner großen Leidenschaft, dem Fahrradfahren, zu verdanken. In seinem Leben und Werk spielt das Fahrrad ja eine bedeutende Rolle. Für Sempé war das Fahrradfahren „ein einfaches Mittel, frei zu sein. Du nimmst deine Hände vom Lenker und kannst fahren, wohin du willst.“

Die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, hat dieses Thema bei der Einweihung des Wandbildes natürlich gerne aufgenommen, will sie doch – mit einer bei französischen Politikern verbreiteten Großmäuligkeit – Paris zur „capitale mondiale du vélo“, zur „Welthauptstadt des Fahrrads“, machen. In ihrer Rede betonte sie deshalb auch die Rolle des Fahrrads für die Stadt Paris, wo die Abhängigkeit vom Auto geringer sei als anderswo, und sie rühmte dann auch gleich ihre (in der Tat beeindruckende) Bilanz bei der Schaffung von Fahrradwegen in der Stadt.

Le petit Nicolas erschien erst nach dem Tod von Sempé auf dem Wandbild, Foto: Wolf Jöckel

Aber es geht bei der Zeichnung / dem Wandbild ja nicht einfach nur um ein Lob des Fahrradfahrens, sondern es geht auch um (fehlende) Kommunikation: Die Fahrradfahrerin und der Fahrradfahrer fahren aneinander vorbei. Sie fahren zwar aus unterschiedlichen Richtungen kommend genau aufeinander zu, aber dann biegt der jeweilige Weg ab, sie sehen sich nicht an, fahren in entgegengesetzter Richtung weiter … Das ist Sempé.

Und das ist sein petit Nicolas, sein kleiner Nick. Der wurde – vermutlich von Jean-Marie Havan – nach dem Tod Sempés dem Wandbild hinzugefügt und weint seinem Schöpfer eine Träne nach. Eine schönere und anrührendere Würdigung Sempés kann es kaum geben.

Dieser und weitere Beiträge auf meinem Paris und Frankreich Blog

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