NS-Vergangenheit in der Gegenwart
Kein Ende in Sicht
4. September 2023
Eine Familie aus München verbringt ihren Sommerurlaub an der französischen Atlantikküste in Lacanau-Océan. Surfen, Segeln, Fahrradfahren und Stunden am Meer bescheren traumhafte Wochen. Bis eines Nachmittags der 18-jährige Sohn am Strand eine Entdeckung macht und die NS-Zeit die Gegenwart einholt.
Warum tauchte auf einmal dieses verfluchte Dreieck in der Ferne am Strand auf?
Eigentlich war es eine Pyramide, spitz ragten die Kanten in die Höhe.
Gräulich schimmernd, irgendwie schmutzig, diffus farbig.
Ich wünschte es wäre eine Pyramide. Ich habe es allen mehrfach eingeredet.
Jakob ist dann hingejoggt.
Ein Bunker, Mama, kein Strandhaus aus Beton. Er grinste.
Meterdicke Wände, gewisse Öffnungen, die ihre Bestimmung nicht leugneten.
Das Wort Bunker entzündete in Arthur mit seinen 11 Jahren ein Feuerwerk bunter Fantasien. Wer, wo, was, wann? Wieso hier?
Was war passiert?
Peter erzählte in seiner ausgiebigen Professorenart von der Besatzung Frankreichs durch die Deutschen während des 2. Weltkriegs, Fynn und Jakob ergänzten. Ich schwieg über lange Strecken, fügte ein „Kaum vorstellbar, welcher Wahn die Menschen angetrieben, aufgerieben hat“ hinzu.
Der Sog der Geschichte ist stärker
Tage später – wieder ein langer Strandspaziergang. Die Brandung, die Wellen, der weite Atlantik, alles unwirklich grandios und schön, friedlich, trotz der gigantischen Ausmaße. Wasser, Himmel und Strand strömen ins Unendliche.
Wir erreichen den Bunker. Wir könnten ihn links liegen lassen. Geht natürlich nicht. Die Neugier und der Sog der Geschichte treiben uns durch den Sand zu diesem Betonskelett.
Ich werde unwillkürlich unruhig. Das Adrenalin pulsiert im Blut, die Sinne sind gespannt und meine Antennen weit ausgefahren, mein kompletter Körper in Habachtstellung.
Ein deutscher Bunker wird zum Spielball der Gezeiten
Wir sagen nichts. Eine erste Erleichterung, und ich frage mich, warum es eigentlich eine ist. Der massive Bau hat sich seitlich um ca. 90 Grad gedreht und in die Höhe um ca. 45 Grad in den Boden gesenkt. Ist einfach weggekippt, in den Sand gesackt, meterweise. Das heißt, das Meer hat den Koloss bewegt. Was für eine Ewigkeit errichtet wurde, verkommt zum Spielball der Gezeiten und der Geschichte. Ein tonnenschwerer Spielball, wohlgemerkt.
An allen Wänden prangen grelle Graffitizeichnungen und Malereien. Eine Seite ragt spitz in den Himmel, woraus sich die Pyramidenform ergibt. Wie ein Wimpel des Hohns wurde eine Metallstange am höchsten Punkt hineingerammt, dunkelrote Lumpen hängen schlapp herunter. Noch etwas Plüschiges ist daran befestigt, was ich nicht genauer erkennen und identifizieren kann.
Wir gehen um die erste Kante. Sofort starrt uns die leere Luke wie ein totes rechteckiges Auge an. Das Grauen in Lauerposition. Der stumme Blick eines verwesenden Zyklopen. Er stiert uns an, der Schießstand. Jetzt eine Höhle im Sand. Zwei Ecken weiter, der Eingang in den Bunker, ebenfalls halb im Sand vergraben.
Man könnte ohne Hindernisse hineinkrabbeln oder hinaufklettern, die eine Flanke der Pyramide als Rampe nutzen.
Auf keinen Fall will ich das tun. Auch nicht diesen Betonkoloss berühren.
Das Licht am Strand in den frühen Abendstunden ist verlockend, es verzaubert von Westen her das Grünblau der Wellen. Die zischende Brandung leuchtet, fesselt unseren Blick. Wir vergessen die Zeit. Weiße Gischt tanzt, kräuselt sich zu kunstvollen Stickereien am nassen Strand. Immer anders, immer neu.
Wir waten durch die Brandung, lassen uns von den ersten Wellen sprudelnd überrollen, Kopf und Haare überschwemmen. Schaukeln. Das Wasser ist kühl, spült alles Schwere ab, streichelt das Bedrückende, das an unseren Körpern klebt. Wunden, die schreien, wollen gestillt werden.
Auch junge deutsche Soldaten hat der NS-Wahn an den Atlantikwall geführt
Die Sonne wandert in den Abend. Also raus aus dem Wasser. Obwohl es uns so sanft schmeichelt. Es fällt mir schwer. Ich will das Wasser, das Schützende, das Reinigende nicht verlassen.
Wir gehen auf den Bunker zu. Wir lassen uns mit jedem Schritt im Wind trocknen. Das Dreieck stemmt sich brutal gegen die Schönheit der Landschaft.
Ob die Männer, die hier stationiert waren, genau wie wir die Klamotten abgeworfen haben und ins Meer gerannt sind? Ob sie den Ozean mit der gleichen Begeisterung wie wir wahrgenommen haben? Haben sie den Zauber des Lichts und die Kraft des Atlantiks tief in ihrer Seele gespürt, so wie ich es tue?
Mein ältester Sohn Jakob ist 18. 18-jährige wurden damals eingezogen. Vielleicht war einer hier, ein Hans, ein Fritz, ein Konrad, ein Wolfgang. Junge Kerle, die nicht so recht wussten, wen und was eigentlich sie hier am Atlantikwall bei Bordeaux verteidigten.
Das Vaterland, das tausendjährige Reich, die NS-Diktatur, die deutsche Herrenrasse?
Die Begriffe und die Katastrophen dahinter höhlen sich aus mit dem Blick auf das türkisschimmernde Meer, auf die silberleuchtende Weite, die zur Freiheit aufruft. Wild mäandern rasant schnelle Gedanken durch meinen Kopf.
Waren sie immer zu zweit im Wachdienst? Anzunehmen. Wie viele Stunden?
Acht? Zehn? Sind sie durch die Pinienwälder bis zu den letzten Dünen mit dem Motorrad gefahren? Oder mit dem Lastwagen, einem Geländewagen?
Vielleicht mussten sie auch laufen. Haben dabei geraucht. Gelacht. Oder Angst gehabt vor Überfällen der Einheimischen.
Was haben sie gedacht, gefühlt, als sie hier waren, genau wie wir?
Hat sie die Landschaft ebenso verführt? Oder vielleicht eine französische Frau, ein französischer Mann? Das andere Essen, die Austern, der Wein?
Was war Heimat noch wert an diesem Ort, der Grenzenlosigkeit bedeutet? Das MG schrumpft auf Sandkorngröße, die eigene Stimme trägt der Wind davon wie ein Nichts.
Im Winter – keine Heizung im Bunker. Atlantische Stürme, peitschender Regen, Kleider, die nie mehr trocknen. Vor Kälte taube Füße und Hände. Schmerzen überall.
Scheißkrieg. Scheißkrieg. Scheißkrieg.
Warum bin ich hier? Warum muss ich hier sein? Ich hangle mich von Zigarettenstummel zu Zigarettenstummel. Jeder Zug ein Aufglimmen verordneten Verlorenseins. Der Rhythmus ihrer immer viel zu kurzen Dauer misst die Stunden dieser ins Unendliche treibenden Sinnlosigkeit, zerstückelt die Ewigkeit des systemischen Dahinsiechens bis zur Ablösung. Das war wohl gemeint mit dem tausendjährigen Reich. Dazwischen ein paar Schluck Fusel. Ekliges Zeugs, das Einzige, was man hier kriegen kann. Um zu überleben.
Um diese Stunden zu überleben, im Stadium des Vegetierens. Prähuman. Wie eine Amphibie, die in der Evolution noch nicht gecheckt hat, dass sie hier nichts, aber auch gar nichts zu suchen hat.
Nur verrecken kann man hier
Nur das. Und nichts gewinnen. Schon gar keinen Krieg.
Nach Hause will ich. Nach Hause. Zwei Worte, die mein Mantra sind. Zwei Worte, die die Kälte in diesem Betongrab gefühlt um ein Grad erwärmen. Die den beißenden Wind in meinem Gesicht sekundenweise unterbrechen. Die ich mit meiner Angst hinunterschlucke, um sie bloß nicht zu verlieren. Ich inhaliere sie mit jedem Zug an der Kippe, ich spüre sie, sobald ich einen Zentimeter Haut unter der nassen Uniform berühre. Als Kind wurde ich gestreichelt, liebkost, gewärmt, auf den Schoß genommen. Meine Haut hat jede Berührung gespeichert. Ich kann mit meinen Fingern das Nach-Hause auf meinem Körper ertasten, für kürzeste Augenblicke.
Kein Ende in Sicht.
Vor mir nur Sand. Und Strand. Und Wellen, die nicht aufhören, Wellen zu sein.
Peter und ich kommen eine Stunde später bei den Kindern am Strand an. War klar. Fynn und Arthur sind schon aufgebrochen und kochen was zu Hause. Jakob genießt noch die Abendsonne auf seinem Körper. Die enganliegende Badehose betont seine muskulösen Formen. Mein Körper, mein Tempel. Seine Worte. Ich sehe ihn und muss an Hans, Fritz, Konrad und Wolfgang denken. Sie könnten seine Freunde sein, allesamt Tempelbrüder, jetzt mit ihm frische Zigaretten drehen, eine letzte Runde auf dem Surfbrett den Wellen hinterherjagen, dann ein paar Flaschen Bier leeren. 5 junge Männer, die sich kraftvoll und kopflos in ihr Leben stürzen.
Im Abendrot packen wir unsere Handtücher und die Stranddecke ein. Schütteln Sand aus den Taschen. Nach Hause.
Im Süden ragt die hellgraue Pyramidenspitze in den pastellfarbenen Himmel. Ein winziger Fleck. Verdammt. Vergeblich. Sie ist immer noch zu sehen. Ich wünschte, sie wäre verschwunden.
Und so bleibt sie in mir. All meine Versuche, sie in Erinnerungslücken versinken zu lassen, misslingen. Sie bleibt. Über tausend Kilometer entfernt, 80 Jahre später. Und ist mit meinen Worten genau dorthin gereist, wo Hans, Fritz, Konrad und Wolfgang herkamen. Nach Hause.
Zur Autorin
Die studierte Musikerin Julia Schölzel leitete in München ein Kollektiv für zeitgenössische Musik. Als Autorin und Moderatorin arbeitet sie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und hat verschiedene Hörbücher veröffentlicht. Zudem gibt sie Lehrkräftefortbildungen und unterstützt als Coach Schulen und Unternehmen im Bereich Achtsamkeit und Teambuilding. Aufgrund ihrer eigenen Familiengeschichte setzt sie sich seit ihrer Kindheit mit der NS-Vergangenheit in Europa auseinander.
Zum Nachdenken anregender, poetischer Bericht