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Französisches Kino

Auf dem Weg zum Wesentlichen

Martina Meister

© X-Verleih

20. Oktober 2023

Über eine Million Zuschauer haben in Frankreich „Auf dem Weg“ gesehen, die Verfilmung des autobiographischen Bestsellers von Sylvain Tesson, der nach einem lebensgefährlichen Sturz die Prognosen der Ärzte widerlegt und 1300 Kilometer durch eine Postkartenlandschaft vom Mercantour bis in die Normandie zurücklegt. Regisseur Denis Imbert wollte keine Tourismuswerbung für Frankreich machen. Aber wie das Buch ist auch der Film, der am 30. November in Deutschland startet, eine Einladung, sich auf den Weg zu machen.

„Manche Männer wollen Geschichte machen. Wir ziehen es vor, in der Geografie zu verschwinden.“ Dieser Satz von Sylvain Tesson steht wie ein Motto über Denis Imberts Film „Auf dem Weg“. Es ist der Hauptdarsteller, Jean Dujardin, der ihn in sein Tagebuch schreibt und dessen Stimme aus dem Off erklingt. Der Satz gibt den Ton der Verfilmung von Tessons autobiographischem Buch an. Aber was heißt das genau, „in der Geografie verschwinden“? Der Film beginnt mit diesem Rätsel.  

Pierre, ein Schriftsteller und Frauenheld, klettert betrunken die Fassade eines Chalets im Alpenort Chamonix hoch, verliert den Halt und stürzt ab. Acht Meter. 26 Brüche. Einmal aus dem wochenlangen, künstlichen Koma erwacht, wird ihm mitgeteilt, dass er vermutlich nie wieder wird laufen können. Ein Art Todesurteil für einen Schriftsteller, der Bücher über seine Abenteuer am anderen Ende der Welt schreibt. Pierre, gespielt von Oscarpreisträger Dujardin, beschließt noch auf dem Krankenbett, komplett zu genesen und Frankreich zu durchqueren, die dünn besiedelte „Diagonale der Leere“, wie sie von Politikwissenschaftlern und Wahlforschern genannt wird: 1300 Kilometer zu Fuß vom Südosten in den Nordwesten, trotz Schmerzen und Rekonvaleszenz, Sur les chemins noirs, wie der Film im Original heißt, auf schwarzen Wegen.

Das sind nicht die mit Farben markierten GR-Wanderwege der Grande Randonnée, sondern die feinen schwarzen Linien auf den Wanderkarten, fast unsichtbar, dünn wie ein Haar, „mit zufällig wechselnder Begehbarkeit“, steht als Charakterisierung in der Legende. Es sind Wege, auf denen man sich verlaufen kann. Schwarz ist aber auch das Gemüt des Protagonisten, der sich dieser Anstrengung aussetzt, um mit seinem vorherigen Leben abzurechnen, um körperlich und seelisch zu genesen. „Diesen Sturz bereue ich noch lange, denn bis dahin war mein Körper eine Maschine, die es mir erlaubt hatte, auf der Überholspur zu leben. Acht Meter reichten, um 50 Jahre zu altern“, notiert Tesson. 

© X-Verleih

Glück durch Entbehrung  

Im Film heißt der zerbrochene Held nicht Sylvain, sondern Pierre. Dujardin spielt diesen Menschen, der von der Überholspur des Lebens auf die Resterampe der Körperlichkeit wechselt und auf einen Schlag auf Schneckentempo zurückschalten muss, mit überraschender Tiefe. Physisch ähnelt er Tesson nicht, aber es gelingt Dujardin, diesen Existenzbruch nachzuempfinden und in sich hineinzuhören, als wäre er dieser seelisch und körperlich zerbrochene Mensch.  

Tesson ist in Frankreich ein stiller Superstar, nicht nur ein einfacher Schriftsteller, sondern Abenteurer und Schriftsteller, Forscher und Schriftsteller, eine Figur, wie sie in Deutschland nach Alexander von Humboldt eigentlich verschwunden ist. Seine Bücher wurden anfangs nur zögerlich ins Deutsche übersetzt, inzwischen hat sich Tesson aber mit „Der Schneeleopard“ auch im Nachbarland einen Namen gemacht. In seiner Heimat sind seine poetischen Reiseberichte allesamt Bestseller, die Auflagen von bis zu einer halben Million Exemplaren erreichen. Wer sie liest, darf von Freiheit träumen, von einem Leben ohne Zwänge, ohne Bildschirme und Internet, aber voller Entbehrungen, Anstrengungen und vor allem Glücksgefühlen. Es ist ein lesendes Aussteigen für die Zeit einer Lektüre.

Tesson pflegte bis zu seinem Unfall die Kirchtürme von Notre-Dame hochzuklettern und kehrte auch in seine Dachwohnung im Quartier Latin in der Regel über die Regenrinne zurück. In seiner autobiographischen Erzählung, die 2017 unter dem Titel „Auf versunkenen Wegen“ auf Deutsch erschienen ist, erzählt er seine Genesung nach einem Sturz, den er fast nicht überlebt hätte, und die Durchquerung Frankreichs, das der Weltenbummler bislang links liegen gelassen hatte. „Ich musste durch die Welt reisen und von einem Dach fallen, um zu begreifen, dass ich hier, vor meinen Augen, in einem Land so nah, dessen letzte Winkel mir unbekannt waren, über ein Netz von ländlichen Wegen verfügte, die zu Geheimnissen führen, die absolute Stille genießen und auf zauberhafte Weise leer sind“, notiert Tesson. 

© X-Verleih

Ein Film ohne Plot, aber mit Geschichte 

Die freie Adaptation seines Buches ist ein mutiges Unterfangen. Wie bei der ersten Verfilmung, „In den Wäldern Sibiriens“, war Tesson auch dieses Mal skeptisch. Es gebe in seinen Büchern keinen richtigen Plot, kaum Figuren, in dem ersten nur einen depressiven Alkoholiker, der aus dem Fenster seiner sibirischen Hütte schaut, im zweiten einen Hinkenden, der sich durch Frankreichs Gestrüpp schleppt, „alles beruht auf der Metamorphose des Schauspielers“, so Tesson im Interview mit Figaro-Magazine. Dann fügt diesen schönen Satz hinzu: „Primordial ist die Geopoetik, also der Einfluss einer Landschaft auf eine Seele über die Vermittlung des Gesichts.“

Nicht in die Geschichte einzugehen, sondern in der Geografie zu verschwinden, heißt für Tesson schlicht: die Logik der modernen Gesellschaft verweigern, die Ehe, das Kinderkriegen, die geregelte Arbeit, dafür mit der Geschichte der Landschaft verschmelzen, ihre geografische Geschichte verinnerlichen. „Das Wichtigste hatte ich zurückbekommen“, bemerkt der Ich-Erzähler und Protagonist des Films: „Das Recht, abzuhauen und die Braut zu erobern, die einen nie enttäuscht: Die Freiheit.“ 

Menschliche Geopoetik statt trister Geopolitik  

„Auf dem Weg“ ist eine großartige Einladung, von der Geopolitik Pause zu machen und in die Geopoetik Tessons einzutauchen. Denn auf Dujardins Gesicht, der den Film so gut wie allein bestreitet, vollzieht sich die Metamorphose des grimmigen Einzelgängers, der seine Seele der Natur öffnet, um sie wieder seinen Mitmenschen öffnen zu können. Er teilt kurze Strecken seines Abenteuers mit seinem besten Freund und seiner Schwester, begegnet einem Mönch, einem anderen Wanderer und verarbeitet den Tod seiner Mutter. Das Knistern des Feuers, das Geräusch knirschender Wege, der schwere Atem des Wanderers werden zu menschlichen Stimmen.

© X-Verleih

Französische Kritiker haben bemängelt, dass man Dujardin mit seiner athletischen Statur das Trauma von Unfall und Koma nicht richtig abnehmen kann. Aber es ist genau die zauberhafte Seelen-Metamorphose durch die Schönheit des Naturspektakels, die man auf seinem vernarbten Gesicht ablesen kann. Er kämpft auf Geröllhängen um das Gleichgewicht, krümmt sich vor Schmerzen, wenn sich die Brüche wieder melden, und vergießt am Ende Tränen der Freude, wenn er vor dem Wunderbau des Mont Saint-Michel ankommt. „Ich bin ein Outdoor-Schauspieler, ich habe etwas vom Labrador“, sagt er scherzend und erzählt im Telefoninterview mit „Dokumente“, dass er die Natur mehr als die Stadt braucht. Gerade ist er von einer Wanderung mit Uralt-Freunden aus dem Zentralmassiv zurückgekehrt, die er seit seiner Zeit als Pfadfinder kennt. 

Der Luxus der Flucht 

© X-Verleih

Regisseur Imbert wollte keinen Werbefilm für Frankreich machen. „Ich liebe die Natur“, beteuerte er im Interview, aber er habe keine Postkartenidylle zeigen wollen, sondern „eine Reise ins eigene Innere“. Imbert blendet aber die Zivilisation im Film bewusst aus. Nur hin und wieder durchquert Pierre Dörfer, wandert an Windkraftanlagen vorbei oder überquert einen Verkehrskreisel, an dem der Bürgermeister eine Banderole befestigt hat, weil er verzweifelt nach einem Allgemeinmediziner sucht. Die sogenannte „Diagonale der Leere“ ist durch die Landflucht entstanden. Ihre Kehrseite ist, dass diejenigen, die geblieben sind, keine Arbeit haben, dass sie schlecht ans Verkehrssystem angeschlossen sind, dass Schulen schließen und das nächste Krankenhaus eine Stunde Autofahrt entfernt ist.  

Von der Erhabenheit der Berge des Mercantour in den südfranzösischen Alpen über die Kuhweiden des Cantals, die Vulkanlandschaft des Zentralmassivs bis hin zu den Salzwiesen der Normandie entfaltet der Regisseur eine atemberaubende Landschaft vor den Augen der Zuschauer auf der Leinwand, unberührt und einsam, zugleich erhaben und unbehaust. Der Film wird Frankreichliebhabern das Herz erwärmen und Naturfreunden Lust macht, den Rucksack zu packen.

„Auf dem Weg“ ist ein Lobgesang auf die Schönheit der Natur, eine Ode an die Freiheit und die Möglichkeit einer Existenz jenseits vorbestimmter Wege, über den Luxus der Flucht in Wälder und Täler, in die Fiktion, in die Bibliotheken und Kinos der Welt. 

„Auf dem Weg“. Regie Denis Imbert. Mit Jean Dujardin in der Hauptrolle. Deutscher Kinostart: 30. November 

Die Autorin

© Martina Meister

Martina Meister arbeitet seit über zwanzig Jahren als Korrespondentin aus Frankreich, anfangs schrieb sie vorwiegend über kulturelle, kulturpolitische und gesellschaftliche Themen, seit 2015 ist sie politische Korrespondentin von WELT & WELT AM SONNTAG. Sie hat François Duby aus dem Französischen übersetzt, das Onlinemagazin „Mad about Paris“ gegründet und ist Autorin des Buches „Filou oder glücklich mit Hund“.

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