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Kultur und Politik

Wenn Kultur politisch wird

Ein Gespräch mit Emmanuel Wallon

Copyright: AdobeStock

05. April 2024

Die aktuellen internationalen Konflikte, ob in der Ukraine oder in Nahost, beschäftigen auch die Kulturwelt. Dabei gibt es eine lange Tradition von politischem Engagement Kunstschaffender in Frankreich und Deutschland. Fragen an den Professor der politischen Soziologie Emmanuel Wallon.


dokdoc: In jüngster Zeit haben sich zahlreiche Akteure aus Kunst und Kultur zu politischen Themen geäußert, insbesondere zu den Kriegen gegen die Ukraine und in Gaza. Bei öffentlichen Veranstaltungen wie der Verleihung der französischen Filmpreise Césars oder der Berlinale, bezogen sie mit Worten und Symbolen Stellung. Welches Verhältnis hat die Kulturwelt derzeit zur Politik?

Emmanuel Wallon: Die Politisierung der Kulturszene geht weit in die Geschichte zurück, aber es handelt sich heute nicht mehr um die gleichen Akteure und die gleichen Milieus. Künstler, die sowieso schon Zugang zu Mikros und Kameras haben, fällt es leicht, mit ihren Standpunkten medial in Erscheinung zu treten. Aber auch Bühnenkünstler vom Theater, der Straßenkunst, der Tanz-, Musik- oder Chanson-Szene engagieren sich. Bei Letzteren ist eine auch tiefergehende Beschäftigung mit politischen Fragen zu beobachten, die über die tagesaktuellen Kontroversen hinausgeht. Diese Künstler verarbeiten auf sensible, körperliche Art die Gefühle, die durch eine internationale oder politische Lage ausgelöst werden, die als ungerecht empfunden wird. Sie arbeiten darüber hinaus im Kollektiv und in direkter Konfrontation mit dem Publikum. Es gibt bei einer Motivation, sich zu engagieren, auch die Möglichkeit, originelle Formen für sich zu finden.

dokdoc: In den meisten Fällen kann man die politischen Positionen aus der Kunstszene dem linken Spektrum zuordnen. Woher kommt dieses mehrheitlich linke Denken? 

Emmanuel Wallon: Links zu sein, bedeutet nicht unbedingt, die gleichen Positionen zur internationalen Politik zu teilen. Die französische Linke ist geteilt, sogar zerstritten, was die Unterstützung der Ukraine angeht. Aber in der Mythologie des Kunstschaffenden von Beginn der Renaissance, besonders aber in der Romantik, in Frankreich und in Deutschland, entwickelte sich die Vorstellung, dass der Künstler außerhalb der Norm stehen müsse. Das Individuum erhebt sich gegen die bestehende Ordnung, gegen die herrschenden Konventionen und gegen die Routinen und Standards seines Berufes. Es gab immer und es gibt bis heute auch Stimmen und Schreibende auf der rechten Seite, auch wenn die weit weniger von der Kritik gefeiert werden. Stimmen, die die bestehende Ordnung verteidigen oder gar auf Seiten nationalistischer oder faschistischer Parteien stehen. Dennoch steht das Künstlermilieu soziologisch betrachtet eher links, wenn man es mit anderen Kategorien der Bevölkerung vergleicht.

dokdoc: In Deutschland und in Frankreich geht es immer wieder um die Frage, wer dazu berechtigt ist, die kulturelle Identität zu repräsentieren. Zuletzt gab es Debatten um die neue „Miss Germany“, die iranische Wurzeln hat. Und in Frankreich sorgte die schwarze, franko-malische Sängerin Aya Nakaruma für Aufruhr, weil sie bei der Olympia-Eröffnungszeremonie ein Lied von Edith Piaf singen soll. Warum diese andauernden Debatten?

Emmanuel Wallon: Es ist beunruhigend, wie schwer sich die politischen Eliten und die Medienwelt in Frankreich noch immer mit Fragen der Identität tun. Als seien Generationen von Einwanderern nie integriert worden und als sei die Bedeutung einer postkolonialen Gesellschaft noch immer nicht verstanden worden. Dennoch hat sich die Art und Weise, wie die Streitigkeiten im Radio und Fernsehen aufgebauscht werden durch das Aufkommen der sozialen Medien verändert. Einerseits beschleunigen die sozialen Medien die Debatten und es kommt dann andererseits zu einer größeren Polarisierung der Print- und Rundfunkmedien, die zudem von großen Mediengruppen kontrolliert werden. Der Geschäftsmann Vincent Bolloré ist dabei der hartnäckigste und erfolgreichste darin, eine nationalistische Ideologie zu verbreiten. Die Debatten funktionieren nach der Logik des Zusammenstoßes. Das zeigt der Moderator Cyril Hanouna in seiner Show auf dem Sender C8. Ihm geht es hauptsächlich darum, möglichst gegensätzliche, extreme, beinahe karikaturenhafte Meinungen aufeinandertreffen zu lassen.

Beim Streit um die eingebürgerte Sängerin Aya Nakaruma fällt auf, dass die ganze Debatte sich weder um ihren musikalischen Stil oder um die Qualität ihres Gesangs dreht, sondern in erster Linie um ihre Herkunft aus Mali. Es klingt ein starker rassistischer Unterton durch. Bei der Gelegenheit täte es gut die wunderschöne Darbietung von Jessye Norman (eine schwarze US-amerikanische Opernsängerin) bei der 200-Jahrfeier der französischen Revolution zu erwähnen, die zuvor ebenso Proteste hervorgerufen hatten, die jedoch verstummten, angesichts der außergewöhnlichen Darbietung, der Bühnenpräsenz und der Stimmer der Interpretin.

Copyright: Emmanuel Wallon

dokdoc: Wenn man nach Deutschland blickt, hat man den Eindruck, dass Künstler weniger an politischen Debatten teilnehmen. Wie beurteilen sie das Verhältnis von Kultur und Politik auf der anderen Seite des Rheins?

Emmanuel Wallon: Es fällt schon schwer, derzeit in Deutschland einen Bertolt Brecht, einen Günter Grass oder einen Heiner Müller auszumachen. Ich glaube, es herrscht eine Art Selbstzensur, die mit der schmerzhaften Vergangenheit des Nazi-Regimes verbunden ist. Die öffentliche Sphäre (im Sinne von Habermas) ist fragmentiert, was sich durch die Verteilung von Zuständigkeiten auf die Städte und Bundesländer erklären lässt. Daher gibt es kein kulturelles Zentrum, nicht mal Berlin ist eine solches. Ganz anders Paris als Paradebeispiel der Zentralisierung. Verstärkt wird diese Vorherrschaft der französischen Hauptstadt durch ihre tonangebende, nationale Presse, ihre Architektur, ihren Urbanismus und natürlich die Präsenz von „Bühnen“ im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Deutschland hat im Gegensatz dazu eine föderale Tradition und ist erst seit 1990 wiedervereinigt, so kommt es dort nicht zu diesem Verstärkungseffekt. Dieses Übergreifen der Kultur auf die Politik und der Politik auf die Kultur ist typisch französisch.

Ich beobachte aber zwei Debatten, die sich in Frankreich und in Deutschland ähneln.

Zum einen ist da die Frage des Postkolonialismus, vielmehr die Frage, ob man die Diversität und den Pluralismus, der heute in beiden Ländern herrscht, akzeptiert. Es gibt zahlreiche Studien darüber, wie wenig die unterschiedlichen Teile der Bevölkerung auf den Bühnen und auf Bildschirmen vertreten sind. Deshalb werden in beiden Ländern andere Auswahlverfahren diskutiert, für die Musikschulen, die Theater, die Filmhochschulen, für Orchester und so weiter.

Zum anderen gibt es die #metoo-Bewegung. In beiden Ländern ist das Bewusstsein für das Thema gewachsen und es findet in den gleichen Milieus, in den gleichen Sphären statt. Ich glaube persönlich nicht daran, dass die Theater- oder die Filmwelt frauenfeindlicher und gewalttätiger ist als zum Beispiel die Universität, das Krankenhaus, die Industrie oder Landwirtschaft. Aber Fälle von Missbrauch bekommen mehr Beachtung, der Protest wird schneller öffentlich und die Zuschauer projizieren sich direkter in die Personen, die männliche Dominanz verkörpern und auch in deren Opfer.

dokdoc: Zwei Phänomene tauchen in der letzten Zeit immer wieder auf, die mit der internationalen Konfliktlage zusammenhängen: Antiamerikanismus und Antisemitismus. Warum sind diese Themen so konfliktbeladen unter französischen Kulturschaffenden?

Nicht nur eine Frage der Sicherheit: jüdisches Leben in Frankreich (Eingangstür der Synagogue de la Roquette im 11. Arrondissement in Paris) (Copyright: Adobe Stock)

Emmanuel Wallon: In Frankreich war der Antiamerikanismus immer schon komplex und bunt gemischt. Eine Art von Hass-Liebe, die mit der Geschichte beider Länder zu tun hat. Wenn die Franzosen sich damit brüsten Lafayette zur Rettung der amerikanischen Revolution geschickt zu haben und dankbar sind für die Opfer, die Amerika bereit war, bei der Befreiung Frankreichs 1944-1945 zu spielen, so nehmen die Franzosen dennoch Anstoß an der US-amerikanischen Vorherrschaft. In den kulturellen Milieus herrscht eine Ambivalenz. Schon früh kamen amerikanische Independent-Künstler nach Frankreich, die außerhalb des Mainstreams standen, sei es aus dem Jazz-Bereich oder aus Hollywood.

Was den Antisemitismus angeht, besteht die Besonderheit der französischen Gesellschaft darin, dass es eine bedeutende jüdische Gemeinde gibt und gleichzeitig einen großen Bevölkerungsanteil von Nachfahren aus der arabisch-muslimischen Welt. Dieses nahe Beieinander verschärft die starke Sensibilität in vielen gesellschaftlichen Bereichen gegenüber all dem, was zwischen Israel und Palästina, im Westjordanland und im Gazastreifen passiert. Daraus entsteht noch immer eine Form der Instrumentalisierung, die Debatte wird teils karikaturenhaft geführt. So findet man kein Gehör mehr, wenn man die Hamas als das bezeichnet, was sie ist, nämlich eine terroristische Organisation, die Gräueltaten begeht und gleichzeitig auch die Situation der Palästinenser anspricht, die im Gazastreifen gefangen sind. Hier ist ein Volk kollektiv in seiner Existenz bedroht: Das Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag (das von Südafrika angerufen wurde), der die Regierung Netanjahus aufgefordert hat, jeden Akt des Völkermords zu verhindern, ist meiner Ansicht nach gerechtfertigt. Die Politik der verbrannten Erde bedroht nicht nur das palästinensische Volk, sondern mit ihr wird Israels Zukunft schwer belastet sein.

Die Fragen stellte Romy Straßenburg

Unser Gast

Emmanuel Wallon ist Professor für politische Soziologie an der Universität Paris Nanterre. Er ist spezialisiert auf die Recherche zur Kulturpolitik und das Verhältnis von Kunst und den herrschenden Machtverhältnissen. Er blickt auf die Kulturpolitik in Frankreich und Europa, auf die Dezentralisierung und die Kulturdiplomatie. Seine Arbeiten beleuchten die Kultursoziologie im Bereich des Theaters und der Bühnenkunst. Er kommt regelmäßig in den Medien zu Wort, um aktuelle, kulturelle Phänomene zu analysieren.

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