Template: single.php

Michel Houellebecq

Schlimmer geht immer

Jörg-Manfred Unger

Michel Houellebecq 2019 auf dem 67. Internationalen Filmfestival in San Sebastian, © picture alliance / Geisler-Fotopress / Clemens Niehaus/Geisler-Fotopress

21. Januar 2021

Nach der Corona-Pandemie werde die Welt „ein bisschen schlechter“ sein, so die pessimistische Prognose von Michel Houellebecq – Autor der umstrittenen Bestseller-Romane Plattform, Elementarteilchen, Unterwerfung u. a.und Titel seines neuesten ins Deutsche übersetzten Buches.

In den Neuen Interventionen (nach denen von 1998 und 2009), ein Sammelband von Essays, Gesprächen, Interviews, Vorworten etc. aus den Jahren 2003 (!) bis 2020, mit 200 Seiten nur ein Teil der französischen Originalausgabe Interventions 2020,  finden sich nicht nur Binsenwahrheiten wie: „Erstens strengt Innovation an. Jede Routine, gut oder schlecht, hat den Vorteil routinemäßig abzulaufen und also mit minimalem Aufwand betrieben werden zu können. Aller Konservativismus wurzelt in intellektueller Faulheit.“ (Der Konservativismus, Quelle des Fortschritts, 2003).

Tausendsassa, Provokateur und Enfant terrible

Im Gespräch mit Frédéric Beigbeder (2014) kokettiert das Enfant terrible der französischen Literatur mit seinem „Ruf als Tausendsassa“. Auf die Frage „Hat es Dir Spaß gemacht, in Guillaume Nicloux‘ Film Die Entführung des Michel Houellebecq Dich selbst zu spielen?“ lautet seine Antwort: „Das ist lustig, weil die Entführer ihrer Geisel irgendwann überdrüssig sind. Eine Art umgekehrtes Stockholm-Syndrom.“

„Selten“ gehe es Houellebecq, 64, laut Covertext „um Politik, ab und an um Literatur, meist um gesellschaftlich Relevantes“. Seine politischen Aussagen – die oft provozieren (z. B. Donald Trump ist ein guter Präsident, 2019) – indes sind, nun ja, zumindest diskussionswürdig. Handelt es sich dabei um gezielte Provokation à la Urs Allemann beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt? Oder um Provokation um der Provokation willen? Schließlich weiß Houellebecq, was sein Publikum von ihm erwartet.

Deutliches Unbehagen

„Wer außer ihm (Anm. Rachid Amirou) sollte mir Anekdoten erzählen wie jene erstaunliche von diesem Dorf im Departement Var, dessen Bewohner (größtenteils Rentner) von der Gemeindeverwaltung eine bescheidene Vergütung dafür erhalten, dass sie ihre Häuser verlassen, ihren Pastis trinken und eine Runde Boule spielen, wenn die Touristenbusse durch ihren Ort fahren? Letztlich also dafür, dass sie genau ihre übliche Lebensweise beibehalten.“

Das Boule-Spiel (La partie de pétanque) : Théodore Dallari, Präsident des Clubs Chez Théo, Marseille, Bouches-du-Rhône, © Marc Lathuillière

Diese Geschichte findet in gleich zwei der Beiträge Erwähnung: in Der Verlorene Text, 2012, und in Ein Heilmittel gegen die Daseinserschöpfung, 2014, dem Vorwort zum Bildband Musée national des Fotografen Marc Lathuillière: „Man muss sagen, dass unsere erste Reaktion darauf ein deutliches Unbehagen ist; es kommt uns vor, als würden diese provenzalischen Opis behandelt wie die Giraffenfrauen im Norden Thailands oder wie die Navajos in New Mexico, die ihre Regentänze für Armleuchter in Greyhound-Bussen aufführen müssen; es kommt uns vor, wie eine Art Angriff auf die Menschenwürde. In den Fotografien von Marc Lathuillière überträgt sich dieses Unbehagen auf besonders harsche Weise.“

Gedanken über Gott und die Welt

Im Gespräch mit Marin de Viry und Valérie Toranian (2015) spricht Houellebecq über seinen Roman Unterwerfung („,Keine Wirkung auf die Welt zu haben‘ fasst es gut zusammen. Die Welt kann nichts für Dich tun, und Du kannst nichts für sie tun.“), über Joris-Karl Huysmans und Joseph de Maitre, über Buddhismus und Taoismus – und er zeigt Sympathien für „einen ausgewogenen Katholizismus“, ohne selbst konvertieren zu wollen, denn: „Ich bin zu alt.“ Über Frauen sagt er: „Die Frauen entscheiden alles. Sie entscheiden über den Beginn einer Beziehung, sie entscheiden über ihr Ende, sie entscheiden, ob es ein Kind gibt oder nicht. Der Mann ist seltsam passiv.“

Seine „Ungefährlichkeit“ begründet „Menschenfeind“, „Nihilist“ und „Weltekelpaket“ Houellebecq (David Hugendick in Die Zeit), der sich übrigens selbst keineswegs als Nihilist sieht („Ich bin kein Nihilist, im Gegenteil, ich bin ein Konservativer wie Benoît Duteurtre“), mit der Feststellung „Es stimmt, dass ich kein Revolutionär bin“. „Der Gedanke, die Gesellschaft könnte um mein Glück bemüht sein, ruft in mir keine Sympathie hervor.“ Houellebecq sollte man sich anders als Camus‘ Sisyphos nicht als glücklichen Menschen vorstellen, was er auch bestätigt: „Glücklich, da würde ich eher zum Nein tendieren. Ich habe nur Bruchstücke des Glücks erlebt. Augenblicke der Freude.“ Immerhin sagt er auch: „Ich glaube an die Liebe!“

Im Interview mit Agathe Novak-Lechevalier (2017) äußert sich der Atheist („Ich werde nie glauben, ich werde immer zweifeln“) einmal mehr zu Religionen („Es gibt eine absolute Moral, die von den Religionen unabhängig und ihnen überlegen ist“); im Gespräch mit Geoffroy Lejeune (2019) geht es darum „was die katholische Kirche tun sollte, um ihren alten Glanz wiederzugewinnen und unsere beschädigte Zivilisation wiederherzustellen“.

Offenes Hintertürchen

Houellebecq  wird im Umschlagtext mit den Worten zitiert „Eine weitere Ausgabe wird es nicht geben. Ich verspreche nicht unbedingt mit dem Denken aufzuhören, aber meine Gedanken und Meinungen der Öffentlichkeit mitzuteilen, es sei denn, es besteht eine ernsthafte moralische Dringlichkeit“ (etwa, wenn es um die – von ihm vehement abgelehnte – legalisierte Sterbehilfe geht, die er 2019 nach dem Tod des Wachkoma-Patienten Vincent Lambert thematisiert: Den Fall Vincent Lambert hätte es nicht geben dürfen) – so als ahne die „Nervensäge“ Houellebecq (Tobias Sedlmaier in der NZZ), dass es seiner „Interventionen“ eigentlich nicht bedarf, auch wenn sie so manchen Einblick in sein Denken geben. Ein weit geöffnetes Hintertürchen.

Michel Houellebecq, Ein bisschen schlechter, Neue Interventionen; Essays, aus dem Französischen von Stephan Kleiner. DuMont Buchverlag, Köln, 2020 (Originalausgabe: Interventions 2020, Flammarion, Paris, 2020)

Leseprobe

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Social media & sharing icons powered by UltimatelySocial