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Peripheres Frankreich

Abgehängt

Birgit Holzer

Lavardens, © Shutterstock

25. Januar 2020

Als vor rund einem Jahr die „Gelbwesten“ auf die Straße gingen, war die politische und mediale Klasse Frankreichs höchst überrascht – dabei hatte einer den Volkszorn längst vorhergesehen: Der Geograph Christophe Guilluy analysiert ihn als Folge einer wachsenden Kluft zwischen dynamischen Metropolen und der abgelegenen, vergessenen Provinz.

Er lehnt es ab, als „Prophet“ oder „Visionär“ zu gelten und rühmt sich nicht, Entwicklungen vorausgesehen zu haben, die ein paar Jahre später viele überraschten, ja sogar völlig überrumpelten: Für ihn, sagt Christophe Guilluy, waren sie offensichtlich. Dennoch erscheint es aus heutiger Perspektive frappierend, inwiefern Ankündigungen, die er bereits vor fünf Jahren gemacht hat, ab Herbst 2018 eintraten, als sich die Widerstandsbewegung der „Gelbwesten“ in Frankreich formierte. Das Ausmaß ihrer Mobilisierung ging zwar nach ein paar Monaten wieder zurück; verschwunden sind die samstäglichen Proteste aber nicht. Für ihre Teilnehmer hat sich nichts verbessert, auch wenn die Regierung seither große Bürgerdebatten organisierte und mehr als zehn Milliarden Euro ausgab, unter anderem um einen Teil der Mindestlohn-Empfänger zu unterstützen.

Wird die Arbeiterklasse geopfert?

Denn die Probleme liegen tiefer, wie Guilluy 2014 in seinem Buch „La France périphérique: Wie wir die Arbeiterklasse opfern“ ausführt. Es erscheint heute aktueller denn je. Er beschreibt darin die stetig wachsende Kluft zwischen den Gewinnern und den Verlierern der Globalisierung, zwischen den Bewohnern der erfolgreichen Metropolregionen und jenen auf dem abgelegenen Land. In seinem 2018 erschienenen Buch „No society“ weitet Guilluy seinen Blick dann noch auf andere Länder aus, bleibt aber bei seiner Kritik an der Ignoranz der dominierenden Klassen gegenüber dem drohenden Auseinanderbrechen einer Gesellschaft, die nicht mehr solidarisch sei, sondern ihren einstigen Sockel abdränge – die Mittelschicht. Dabei handele es sich um eine zahlenmäßige Mehrheit, die aber lange schwieg. Bis die „Gelbwesten“ kamen.
Die Politik, so kritisiert der Autor, fokussiere sich völlig auf die Entwicklung der Städte, die sich an das globalisierte und liberale Wirtschaftsmodell angepasst haben; auch die Einwohner der Banlieue profitieren vom Zugang zum dynamischen Arbeitsmarkt. Die Metropolen entgingen der Krise, während auf dem Land die Jobs alternativlos wegbrachen und die Menschen verarmten. Mit der geografischen Ausgrenzung geht demnach die politische, wirtschaftliche und kulturelle einher.

Das klassische Links-Rechts-Schema ist passé

Tatsächlich hatte sich die Bewegung der „Gelbwesten“ vor rund einem Jahr an der damals geplanten – und in der Folge abgesagten – Erhöhung der Benzin- und vor allem Diesel-Preise entzündet, bevor sie sich zu einem umfangreicheren Protest gegen ein als ungerecht und damit illegitim empfundenes System ausweitete. Und sie war vom Land ausgegangen, von entlegenen Regionen, deren Einwohner meist auf ihre Autos angewiesen sind. Neben einem „unterschwelligen Krieg“ zwischen diesen Vertretern eines vergessenen Frankreich und einer „vom Boden abgehobenen Welt“ der Eliten kündigte Guilluy schon 2014 die Neu-Zusammensetzung des politischen Spektrums in vielen Ländern an und griff mit dieser Analyse dem Duell der französischen Präsidentschaftswahl 2017 vor. Erstmals in der Fünften Republik standen sich in der Endrunde nicht Kandidaten der traditionellen Volksparteien gegenüber, sondern mit Emmanuel Macron und Marine Le Pen zwei Politiker, die sich abseits des bisher gültigen Links-Rechts-Schemas jeweils zum Sprachrohr einer Seite gemacht hatten – hier die Globalisierungsgewinner, dort die -verlierer. Tatsächlich bestätigten Studien, dass Macrons Wähler überwiegend gut ausgebildete und optimistische Bewohner der Ballungsräume sind, während sich Le Pens Anhänger in entlegenen Gegenden befinden, die weniger Diplome und Aufstiegschancen haben und die den Institutionen, der Demokratie und der Politik zutiefst misstrauen.

Die neue politische Spaltung

Bei der Wahl zum EU-Parlament im Frühjahr 2019 wurde dieser Gegensatz auf einen ideologischen Kampf zwischen „Progressiven“ und „Populisten“ zugespitzt: Auf der einen Seite stehen demnach die liberalen Anhänger des freien Austauschs und der grenzenlosen Mobilität, auf der anderen jene eines Wirtschaftsmodells, das auf Protektionismus und den Erhalt eines starken Staates setzt. Christophe Guilluy kritisiert dabei die Diskreditierung all jener, die für Le Pens Rassemblement National stimmen und versucht sich vielmehr an der Erklärung der Frustration: Mit der Deindustrialisierung und Massenentlassungen infolge der Schließung von Fabriken brachen gerade in Regionen Jobs weg, wo sich kaum andere Arbeitsmöglichkeiten auftaten. Doch da viele Franzosen dort eine preisgünstige Immobilie gekauft haben, sind sie an diese Orte gebunden. Es sind Orte, in denen Krankenhäuser, Schulen und öffentliche Dienste schließen, deren Innenstädte veröden.

Reizthema Einwanderung

In diesem Kontext sozialer Unsicherheit reagieren die Menschen Guilluy zufolge sensibel auf Einwanderer. Die Oberklasse, die für eine multikulturelle Gesellschaft eintrete, sei nur offen gegenüber der Immigration, weil sie ein wirkliches Zusammenleben vermeiden könne. Diese Analyse Guilluys deckt sich mit einer Rede Macrons im September vor seiner Partei, für die er in der Folge stark kritisiert wurde: „Die Bourgeois haben kein Problem mit Einwanderern: Sie treffen sie gar nicht. Die unteren Schichten sind diejenigen, die damit leben müssen.“ Auch Guilluy erntete für seine Erklärung, teils auch Rechtfertigung der Wahl von Rechtspopulisten, Widerspruch.

Kein rein französisches Phänomen

Tatsächlich positioniert sich der Wissenschaftler, der im einst verrufenen und heute angesagten Pariser Vorort Montreuil geboren ist, damit selbst außerhalb eines vorherrschenden Denk-Systems. Er nimmt die Sichtweise derer ein, die selten eine Stimme in den Medien haben. Die sich aber, wie Guilluy voraussagt, so schnell nicht wieder zurückziehen dürften: „Wir werden das für die nächsten 100 Jahre haben“, sagt er – zumindest wenn man weiterhin einen Teil der Gesellschaft nicht integriere und ihr damit keinen Platz mehr gebe. Und das gelte für das „periphere Frankreich“ ebenso wie für die USA oder Deutschland – auch dort gibt es die ausgegrenzte Peripherie.

Christophe Guilluy, La France périphérique. Comment on a sacrifié les classes populaires. Flammarion, Paris, 2014, 192 Seiten

Christophe Guilluy, No society. La fin de la classe moyenne occidentale. Flammarion, Paris, 2018, 242 Seiten

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