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Rentenreform in Frankreich

Frankreichs tiefe Gräben

Niklas Záboji

Foto: Vincent Isorex/IMAGO"

27. Februar 2023

Mit seiner geplanten Rentenreform hat Emmanuel Macron die Franzosen gegen sich aufgebracht. Nach Großdemonstrationen mit Rekordbeteiligung sehen einige Beobachter schon Parallelen zu den Protesten der „Gelbwesten“.

Wo ist Emmanuel Macron? Mehr als einen Monat nachdem Frankreichs Premierministerin Élisabeth Borne Details ihrer geplanten Rentenreform präsentiert hat, meldet sich der Staatspräsident zu dem aktuell konfliktgeladensten innenpolitischen Thema kaum zu Wort. Dabei sollte die Rente das Reformprojekt seiner zweiten Amtszeit werden. Im Präsidentschaftswahlkampf vergangenes Jahr angekündigt, sollte die Reform in diesem Frühjahr das Parlament passieren und schon Mitte dieses Jahres in Kraft treten.

„Wir müssen mehr arbeiten“, hatte Macron in den vergangenen Monaten wiederholt betont. Schrittweise müsse das gesetzliche Renteneintrittsalter von aktuell 62 Jahren steigen, andernfalls wiesen die umlagefinanzierten Alterungssysteme in den kommenden Jahren Milliardendefizite auf. So habe es das 40-köpfige, von Experten, Politikern und Sozialpartnern aller Couleur besetzte Gremium Conseil d‘orientation des retraites (COR) prognostiziert.

Doch die Argumente verfangen in der Bevölkerung nicht wirklich. Die meisten Franzosen konnte die Regierung laut Umfragen nicht von ihrem Reformprojekt überzeugen, das neben der Anhebung des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre und einem Auslaufen von teuren Sonderregelungen für einzelne Berufsgruppen eine beschleunigte Erhöhung der Beitragsdauer von 41,5 auf 43 Jahre vorsieht, die es für die vollen Bezüge braucht. Die acht großen Gewerkschaften des Landes lehnen die Pläne der Regierung geschlossen ab.  Von allen „Schlägen“ gegen das Rentensystem sei das aktuelle Reformvorhaben das „brutalste und gewalttätigste“, teilte die als radikal geltende CGT mit. Man müsse so länger arbeiten, um am Ende weniger Geld zu verdienen.

Lähmung des Parlaments

Zur Wahrung des Gleichgewichts in den Rentenkassen halten sie ähnlich wie die Opposition von Links- wie Rechtsaußen Maßnahmen wie höhere Beitragssätze für Arbeitgeber, Sonderabgaben für Konzerne und Reiche oder eine höhere innerbetriebliche Akzeptanz älterer Beschäftigter für ausreichend. An bislang fünf Aktionstagen haben die Gewerkschaften Hunderttausende Demonstranten auf die Straße gebracht und den revolutionären französischen Geist wiederbelebt, wonach die wahre politische Debatte auf der Straße ausgetragen wird.

Emmanuel Macron steht zunehmend mit dem Rücken zur Wand. So wie vor drei Jahren, als schon einmal Massen gegen seine geplante und mit Beginn der Corona-Pandemie beerdigte Rentenreform aufbegehrten. Der Unmut in der Bevölkerung ist zuletzt immer größer geworden. 37 Prozent der Franzosen zeigten sich in einer Umfrage der Demoskopen vom Ifop „sehr unzufrieden“ mit der Arbeit des Präsidenten, das sind fünf Punkte mehr als im Januar. Weitere 29 Prozent stimmten für „eher unzufrieden“.

Um die Beliebtheitswerte von Premier Borne ist es nicht besser bestellt. Auf der Gewinnerseite steht hingegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen, die aus Sicht vieler Franzosen am stärksten den Widerstand gegen die geplante Rentenform verkörpert, auch wenn sie sich bislang kaum mit konkreten Gegenvorschlägen zu Wort gemeldet hat. Unter anderem brachte der von ihr geführte Rassemblement National Vorschläge für höhere steuerliche Entlastungen für Familien in die Debatte ein. Die Partei sieht zudem in einer aktiven Geburtenpolitik einen wirksamen Hebel für das Rentensystem.

In der Mitte Februar ohne Abstimmung zu Ende gegangenen zweiwöchigen Debatte in der Assemblée nationale kamen sich die Regierungsfraktionen – die seit den Parlamentswahlen im vergangenen Juni über keine absolute Mehrheit mehr verfügen – und grundsätzlich reformbereiten, oppositionellen Republikaner nur in Trippelschritten näher. Mehr als 20.000 eingebrachte Änderungsanträge lähmten die Arbeit des Parlaments, die meisten davon stammten von den Abgeordneten um den Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon. Viele davon wie die Einführung einer Sonderabgabe auf Vermögen von Milliardären hatten keinen direkten Bezug zum Gesetzesvorhaben, andere Anträge sahen nur winzige Modifikationen vor.

Streikende des CFDT, des größtem Gewerkschaftsbunds Frankreichs, fordern den Rückzug der Rentenreform. Foto: Samuel Boivin/IMAGO   

„Der Kampfgeist ist ungebrochen“

Das Niveau der oftmals hitzigen Debatte ließ zu wünschen übrig. Tiefpunkt war die Beschimpfung von Arbeitsminister Olivier Dussopt als „Mörder“ durch den linken Abgeordneten Aurélien Saintoul, weil dieser über die Zahl der Todesfälle am Arbeitsplatz gelogen haben soll. Ähnlich geschmacklos war ein Lastwagen auf einem Protestmarsch der CGT in Marseille, auf dem eine aufblasbare Puppe mit dem Konterfei der Premierministerin an einem Galgen hing.

Ob die gerade gestartete Senatsdebatte zu einer Annäherung von Regierung und Republikanern führt, ist offen. Zumindest reichte bislang nicht aus, dass Emmanuel Macron von der ursprünglich von ihm propagierten Rente mit 65 Jahren schon Abstand genommen hat – auch das Versprechen einer monatlichen Mindestrente von 1200 Euro sollte die Gemüter beruhigen. Das liegt auch daran, dass die Republikaner noch viel stärker um ihre Popularitätswerte bangen und gegen ihren anhaltenden Bedeutungsverlust ankämpfen.

Nicht ohne Widerhall wird bleiben, dass die Gewerkschaften für den 7. März schon zur landesweiten „Blockade“ aufgerufen haben. Seit Jahren unter Mitgliederschwund leidend, erfahren sie in diesen Wochen wiederum einen Bedeutungszuwachs und sehen sich durch den auffällig großen Mobilisierungserfolg – die Behörden zählten am 31. Januar knapp 1,3 Millionen Demonstranten, womit der bisherige Rekord aus der Sarkozy-Zeit knapp übertroffen wurde – auch in mittelgroßen und kleineren Städten in ihrem Tun bestärkt. „Die Unzufriedenheit, die Entschlossenheit und der Kampfgeist sind ungebrochen“, sagte Laurent Berger, Chef der mitgliederstärksten und als gemäßigt geltenden Gewerkschaft CFDT.

Es habe zuletzt sogar Demonstrationen in Orten wie La Guerche-sur-l‘Aubois (Département Cher) stattgefunden, wo es sie noch nie gegeben habe, hob die für gewöhnlich radikalere zweitgrößte Gewerkschaft CGT stolz hervor. Der Regierung warf sie nach dem fünften Aktionstag „Taubheit“ vor und betonte, dass es in den kommenden Wochen trotz Ferienzeit „keinen Stillstand“ geben werde. Solange es nicht zu größeren Einschränkungen im Alltag kommen sollte, wie bei den Raffineriestreiks im vergangenen Herbst, die das Land in eine veritable Versorgungskrise stürzten, dürfte der Zuspruch durch diese Aktionen eher steigen als abnehmen.

Mehr Auslöser als Ursache

Zehn Monate nach Macrons Sieg über Le Pen in der Präsidentschaftswahl reißen in der französischen Politik wieder einmal tiefe Gräben auf. Längst geht es in der Rentendebatte nicht mehr nur um die Finanzen der Alterssicherungssysteme. Oder darum, dass sie einen Anteil daran haben, dass kaum mehr als ein Drittel der Franzosen im Alter zwischen 60 und 64 Jahren arbeitet – viel weniger als in den anderen Industrieländern und trotz grassierendem Fachkräftemangel. Von der Rentenreform als „Symbol für eine Macht, der es an einer politischen Erzählung fehlt“, sprach die Tageszeitung „Le Monde“ mit Blick auf die aktuelle Schwäche der Exekutive.

Andere Beobachter sehen in den jüngsten Massenmobilisierungen Parallelen zu den „Gelbwesten“, bei denen mit der geplanten Treibstoffsteuer ein einzelnes Vorhaben der Regierung auch mehr Auslöser als Ursache war für die Proteste. Damals wie heute breche sich eine tiefsitzende Unzufriedenheit mit der Arbeitsbelastung, Wohlstandsverteilung, dem politischen System und seinen Repräsentanten Bahn, allen voran im strukturschwachen Hinterland.

„Es ist ein Frankreich, das sehr besorgt ist über die Verödung der öffentlichen Dienste, das unter der Inflation leidet und noch immer die Schäden der Gesundheitskrise bezahlt“, analysierte der Soziologe Michel Wieviorka in der Tageszeitung „Libération“. Ein Teil der Demonstranten, die häufig von staatlicher Unterstützung abhängig seien, im öffentlichen Dienst arbeiteten oder schon Renten bezögen, seien ehemalige „Gelbwesten“ und hätten das Gefühl, dass die Schwierigkeiten des Alltags bei der Rentenreform nicht ausreichend berücksichtigt werden.

„Wenn Sie in einer medizinischen Wüste wohnen, in der es keine ausreichenden öffentlichen Verkehrsmittel gibt und die Post geschlossen wurde, erleben Sie ein Gefühl der Verlassenheit und des Sinnverlusts“, so Wieviorka. Allerdings komme es angesichts eines gemeinsamen Gegners zu einer gewissen Vereinigung der Peripherie, der ländlichen Gebiete und der Großstädte.

„Es gibt kein kostenloses Mittagessen“

Dass ein Umlagesystem bei sinkenden Geburtenraten und steigender Lebenserwartung kaum ohne Reformen finanziell tragfähig bleibt und in den meisten Staaten in Europa deshalb ein Renteneintrittsalter von weit mehr als 62 Jahren existiert, geht in der emotionsgeladenen Debatte oft unter. Doch das kommt nicht von ungefähr, meinen einige Beobachter. Schließlich hat Emmanuel Macron in der Pandemie und Energiekrise die fiskalpolitischen Schleusen geöffnet, was das Einschwören auf die Notwendigkeit einer schmerzhaften Reform nun ausgerechnet inmitten von Ukraine-Krieg und hoher Inflation nicht gerade einfach macht. Lediglich 0,7 Prozent Wachstum sagt der Internationale Währungsfonds (IWF) in diesem Jahr für die französische Wirtschaft voraus – bei einer Inflation, die weiterhin deutlich über dem Niveau der vergangenen Jahre liegen dürfte. Das zehrt an der Kaufkraft, zumal die Regierung den Strom- und Gaspreis für Verbraucher seit dem Jahreswechsel nicht mehr ganz so großzügig subventioniert wie bislang in der Energiekrise. 

„Die Menschen glauben nicht mehr an Defizite oder Milliarden“, sagte der Wirtschaftsjournalist François Lenglet der Tageszeitung „Le Figaro“. Die Franzosen verstünden nicht, dass nach der Flut von Hilfen und Subventionen nun nicht Mittel aufgebracht werden, um das Rentensystem binnen zehn Jahren auszugleichen. Für so vieles sei vor Kurzem noch Geld da gewesen, da sei für die Menschen schwierig zu verstehen, warum nun ausgerechnet um ein paar Milliarden an künftigem Defizit in der Rentenkasse so gerungen wird, äußerte sich der Allianz-Chefökonom Ludovic Subran im Fernsehsender „BFM Business“ ähnlich.

Ja, auch mit der Beibehaltung der Rente mit 62 könne das Rentensystem im Gleichgewicht bleiben, antwortete die französische Regierung auf eine Anfrage der Wirtschaftszeitung „Les Échos“ – dann aber reichte eine Beitragsdauer von 43 Jahren für die vollen Bezüge nicht aus. Stattdessen wären 45 Jahre nötig. „Es gibt kein kostenloses Mittagessen“, kommentierte die Zeitung in Anlehnung an den amerikanischen Ökonomen Milton Friedman.

Zum Autor

1992 in Köln geboren. Studium der Betriebswirtschaftslehre, Geschichte und Volkswirtschaftslehre in Mannheim, Prag und Regensburg. Abschlussarbeit über die Visegrád-Kooperation. Journalistische Anfänge bei der Allgemeinen Zeitung in Mainz und dem SWR-Fernsehen. Stationen im F.A.Z.-Feuilleton und beim Handelsblatt. Seit April 2018 Redakteur im Wirtschaftsressort der F.A.Z. und zuständig für Energie-, Klima- und Konjunkturthemen. Ab Oktober 2021 Wirtschaftskorrespondent der F.A.Z. mit Sitz in Paris.

Weiter zum Thema

https://franko-viel.podigee.io/23-rente-reform (21. Oktober 2022)

Mit Hans Stark und Felix Syrovatka

https://franko-viel.podigee.io/37-rentenreform-vergleich (17. Februar 2023)

Mit Monika Queisser und Wolf Jäcklein 

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