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Russlands Krieg gegen die Ukraine

Außenpolitischer GAU für Frankreich

Johanna Möhring

Letzter Macron-Besuch in Moskau (Foto: Imago/ Itar-Tass)

24. März 2023

Für Emmanuel Macron ist der offene Krieg Russlands gegen die Ukraine ein geopolitischer GAU, der größte anzunehmende Unfall, auf den die französische Außen- und Verteidigungspolitik nicht wirklich vorbereitet ist.

Frankreichs Russlandpolitik ist in den vergangenen Monaten viel kommentiert worden. Dabei wurde nicht nur östlich der Oder-Neiße-Linie eine widersprüchlich erscheinende Zielorientierung sowie eine im Vergleich zu anderen Partnern eher zögerliche militärische Unterstützung der Ukraine festgestellt. Hier ist es hilfreich, sich den zentralen Stellenwert Russlands im geopolitischen Verständnis Frankreichs zu vergegenwärtigen.

Wie der französische Historiker Georges-Henri Soutou betont, stellt ein ständiges Oszillieren zwischen Annäherung und Zurückweichen eine Kontinuität französischer Russlandpolitik dar. Die französisch-russischen Beziehungen zielen seitens Paris traditionell auf eine Stärkung Frankreichs in Europa ab, scheitern aber regelmäßig an unüberbrückbaren Widersprüchen – bis zum nächsten Versuch. Seit dem Ende des Kalten Krieges hegte insbesondere Frankreich die Hoffnung, durch eine Russland einbeziehende Sicherheitsarchitektur künftig auf die USA als Schutzmacht Europas verzichten zu können. 

Dass sich Russland als imperiales, koloniales, in Einflusszonen denkendes und handelndes Konstrukt nicht in eine postimperiale, postkoloniale europäische Rechtsgemeinschaft integrieren lässt, wurde nicht nur in Paris geflissentlich übersehen. Die menschlichen, wirtschaftlichen und politischen Kosten dieser dramatischen Fehleinschätzung, für die Ukraine, für Europa und für die Welt steigen derzeit ins Unermessliche. 

Strategische Autonomie als Opfer des Krieges?

Unter dem Eindruck des russischen Raketenbeschusses der Ukraine zeigt sich einmal mehr: Europa ist auf der Ebene des Kontinents nicht in der Lage, selbst unter hypothetischer Einbeziehung französischer Nuklearwaffen, eigenständig für Abschreckung zu sorgen. Die europäische Friedensordnung, Nachkriegswunder und Gründungsmythos der EU, bedarf, wie der amerikanische Neokonservative Robert Kagan bereits 2003 feststellte, weiterhin eines Amerikas, das ein postmodernes Europa mit den Mitteln klassischer Machtpolitik schützt.

Während die Tragfähigkeit amerikanischer Sicherheitsgarantien nuklearer und konventioneller Art nicht erst seit den Erfahrungen einer Trump-Präsidentschaft Anlass zur Sorge gibt, hat die militärische Aggression Russlands einen paradoxen Effekt: Die USA und der Nordatlantikpakt, die einzigen Adressaten russischer Ultimaten an Europa im Vorfeld des Krieges, gehen gestärkt aus der aktuellen Krise hervor. Bestehende und geplante EU-Mechanismen und Finanzierungsinstrumente zur Förderung der europäischen Verteidigungskooperation und zum Aufbau einer europäischen verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis, wie der „European Defence Fund“ oder der „European Defense Industry Reinforcement Through Common Procurement Act“ (EDIRPA), stärken in erster Linie die NATO-Fähigkeiten und sollen darüber hinaus auch außereuropäische Rüstungskäufe finanzieren können. Europäische Sicherheit, auch im Hinblick auf Garantien für eine künftig in Frieden lebende Ukraine, wird unter dem Eindruck des Krieges unter der NATO-Flagge gedacht, nicht unter dem EU-Sternenbanner oder gar unter einzelnen europäischen Nationalflaggen. 

Macron und Putin am 09.12.2019 in Paris (Foto: Imago/IP3press)

Französischer Einfluss braucht internationale Institutionen

Die strategische Abhängigkeit von den USA ist eine besonders bittere Realität für Frankreich, das als Atommacht und ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat zu Recht auf strategische Autonomie Europas pocht. Beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine geht es aber um weit mehr als die Souveränität einer Demokratie oder die Zukunft der europäischen Sicherheit. Putins Krieg zielt auf die regelbasierte internationale Ordnung selbst, sei sie westlich-liberal oder multipolar. Russlands mutwillige Zerstörung des internationalen Handlungsrahmens schadet Frankreich als Status-quo-Macht, die ihren Einfluss aus ihrer privilegierten Position im kollektiven Sicherheitssystem der Vereinten Nationen bezieht, erheblich. Ebenso stellt die russische Strategie der nuklearen Ambiguität, die auch im Krieg gegen die Ukraine angewandt wird, das französische Verständnis der Atombombe als einer politischen Waffe, die niemals eingesetzt werden darf, in Frage und bringt Frankreich in Erklärungsnot. 

Das deutsch-französische Verhältnis verliert an Relevanz

Der russische Angriffskrieg hat weitere Folgen, die das außenpolitische Koordinatensystem Frankreichs verändern. Unter dem geopolitischen Druck, Europas Ränder im Osten und Südosten vor russischer Destabilisierung zu schützen, wird sich die Europäische Union qualitativ verändern, osteuropäischer und euro-atlantischer werden, als es Frankreich lieb ist. Die von Emmanuel Macron wiederbelebte gaullistische Idee, durch „europäische Souveränität“ auf der Weltbühne bestehen zu können, dürfte angesichts der wachsenden Zahl der EU-Mitglieder und der komplexer werdenden Interessenkoalitionen schwieriger umzusetzen sein. 

In der neuen geopolitischen Gemengelage verliert auch ein weiterer traditioneller Vektor französischer Einflussnahme auf die europäischen Geschicke an Gewicht: das deutsch-französische Tandem. Die „bilateralen Beziehungen im Dienste Europas“, die nie einfach waren, befinden sich derzeit in einer tiefen Krise. Es zeigt sich, daß die internationale Volatilität die Partner eher auseinandertreibt als zusammenführt. Die historisch einmalige deutsch-französische Konstellation als inoffizieller Impulsgeber der EU verliert in den Augen der europäischen Mitgliedsstaaten, denen der aktuelle Dissens und das individuelle Zögern in der Ukraine-Frage nicht verborgen bleiben, an Legitimität und Bedeutung. 

Wie weiter, Frankreich?

Eine Rückkehr zum Status quo ante kann es nach dem völkermörderischen Angriffskrieg gegen die Ukraine kaum geben. Auch die Gefahr, die von Russlands permanenter Konfrontation mit dem Westen, vor allem mit indirekten Mitteln, ausgeht, lässt sich nicht mehr übersehen.

Welche Handlungsoptionen hat ein solchermaßen in seinen europäischen und internationalen Einflussmöglichkeiten eingeschränktes Frankreich?

Die im November 2022 veröffentlichte „Nationale Strategische Überprüfung“ zeigt folgende Wege auf: 

  1. Modernisierung der militärischen Fähigkeiten im weitesten Sinne mit Schwerpunkt auf nuklearer Abschreckung,
  2. Verbesserung der Cyber- und anderer Formen der Resilienz, auch im Hinblick auf die nationale Wirtschaftskraft,
  3. sowie die Stärkung von Allianzen.

Es ist bezeichnend, daß das von Frankreich angestrebte Ziel eines „beispielhaften Verbündeten im euro-atlantischen Raum“ noch vor „Treibende Kraft hinter der strategischen Autonomie Europas “ genannt wird.

Auf internationaler Ebene will sich Frankreich insbesondere in den Bereichen Abrüstung und Nichtverbreitung engagieren. Paris setzt also zunächst auf nationale Machtkonsolidierung. Dann auf eine Schlüsselrolle in NATO und EU sowie auf Bündnisse mit Akteuren, die ebenfalls auf eine funktionierende internationale Ordnung angewiesen sind.

Einsatz der César-Artillerie in der Ukraine am 08.06.2022 (Foto: Imago/Cover-Images)

All diese Ziele stellen Frankreich vor enorme Herausforderungen, denn sie erfordern national und international stabile, funktionierende Partnerschaften und Koalitionen, die aber immer schwieriger zu generieren sind. Vor allem für den amtierenden Präsidenten, der nicht mehr über unbegrenzte Macht verfügt.

Zur Autorin

Dr. Johanna Möhring ist Expertin für europäische Sicherheit und Verteidigung und forscht als Politikwissenschaftlerin zu Machtpolitik im 21. Jahrhundert. Sie ist Chercheure associée am Centre Thucydide in Paris und Associate Fellow am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) der Universität Bonn.

Weiter zum Thema

 – https://franko-viel.podigee.io/19-macron-russland (24. August 2022)

Mit Johanna Möhring und Matthias Waechter.

„Russlands Strategie im Ukraine-Krieg: Wiederherstellung russischer Größe mit allen Mitteln“ von Johanna Möhring, in: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine: Zeitenwende für die deutsche Sicherheitspolitik, Nomos Verlag, 2023, herausgegeben von Stefan Hansen, Olha Husieva und Kira Frankenthal.

„Frankreichs Atomwaffen und Europa. Optionen für eine besser abgestimmte Abschreckungspolitik“, von Lydia Wachs und Liviu Horovitz, SWP-Aktuell, 30. Januar 2023.

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