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Deutsch-französische Beziehungen

Wege aus der deutsch-französischen Vertrauenskrise

Sylvain Schirmann

E. Macron und O. Scholz in Paris, 26.10.2022 © Imago

13. September 2023

Die Medien weisen stets von neuem auf die Verschlechterung der deutsch-französischen Beziehungen hin. Sie scheinen den Zeiten nachzutrauern, in denen Deutschland und Frankreich in Europa noch erfolgreich vorangingen. Diese Führungsrolle beruhte auf einem gemeinsamen politischen Willen, der heute neu ausformuliert werden muss. Das braucht Europa, denn die beiden Länder scheinen in fast allen Themenbereichen entgegengesetzte Positionen zu vertreten.

Zunächst zur Frage der Sicherheit: Berlin hat sich kürzlich über französische Initiativen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt geärgert. Hatte Frankreich nicht als erstes Land die Lieferung von leichten Panzern angekündigt? Beim Gipfeltreffen des Weimarer Dreiecks im Juni 2023 haben Emmanuel Macron und der polnische Präsident Andrzej Duda im Übrigen sehr ähnliche Positionen zur NATO-Mitgliedschaft der Ukraine vertreten. Diese sind weit von den von Deutschland befürworteten Positionen entfernt. Was will Paris erreichen? Druck auf Berlin ausüben? Das Image Frankreichs in Ost- und Mitteleuropa aufpolieren? In Ermangelung einer inhaltlichen Position ist es vor allem die Methode, die nicht gut ankommt. Ganz zu schweigen von der Angst, die Perspektive einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft könne zu einer weiteren Eskalation mit Russland führen!

Umgekehrt fühlt sich Frankreich im Fall des Projekts eines neuen Luftverteidigungssystems (European Sky Shield Initiative) unter deutscher Federführung an die Wand gedrängt. Der Bundeskanzler bevorzugt ein Raketenabwehrsystem, das auf dem Erwerb amerikanischer, israelischer und deutscher Waffen beruht; Paris befürwortet den Kauf europäischer Waffen. Ein weiterer Bruch zwischen Nord- und Südeuropa, da Paris sich schon der Unterstützung von Italien, Spanien und Portugal versichert hat.

Gegenseitiges Unverständnis

© Imago

Beide Länder scheinen aneinander vorbeizureden, und das wirkt sich auch auf andere Bereiche aus. Zum Beispiel im Energiebereich. Berlin versteht das Festhalten Frankreichs an der zivilen Nutzung der Kernenergie nicht; denn Deutschland hatte schon 2011 den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Die deutsche Regierung musste indes das Abkommen über das EU-Nachhaltigkeitssiegel für Atomkraft und Gas akzeptieren, das den Einsatz der Kernenergie bei der Dekarbonisierung eines Teils der französischen Industrie ermöglicht. Frankreich wiederum sieht sich mit einer deutschen Kehrtwende in der Frage der Verbrennungsmotoren konfrontiert; hier blockiert Deutschland einen Teil der Initiativen der Europäischen Kommission. Auch das verschärft das Misstrauen zwischen beiden Nachbarn.

Das Image Frankreichs ist jenseits des Rheins beschädigt. Und Frankreichs Staatsverschuldung besorgt den deutschen Nachbarn. „Es ist fraglich, ob die Franzosen eine Kürzung der Staatsausgaben akzeptieren würden. Aber kein Land ist in absoluten Zahlen so hoch verschuldet wie die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone“, hieß es zum Beispiel im Handelsblatt vom 24. April 2023. Deutschland beurteilt diese Lage nicht als Ergebnis jüngerer Entwicklungen, sondern eher als die Folge eines strukturellen Übels.

Die französischen Proteste gegen die Rentenreform oder die jüngsten Krawallnächte bestürzen in Berlin, und die Absage des Staatsbesuchs von Präsident Macron in Deutschland bestätigt nur die Zweifel gegenüber Paris. Sie betreffen auch andere, eher symbolische Aspekte der Beziehungen. Hat der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, nicht etwa kürzlich noch die Auffassung vertreten, das Erlernen der französischen Sprache sei für junge Deutsche keine Notwendigkeit mehr?

Frankreich zweifelt genauso an Deutschland. Es ist genervt von den Kehrtwendungen seines Nachbarn in Bezug auf Verbrennungsmotoren oder von seinen Forderungen im Zusammenhang mit der Reform des EU-Stabilitäts- und Wachstumspakts.

In Le Monde vom 12. Juli forderten zwei prominente französische Persönlichkeiten, der ehemalige Minister und EU-Kommissar Michel Barnier und das ehemalige Vorstandsmitglied der Bankenaufsicht Jean-Michel Naulot, „Frankreich möge die Vorschläge von Bundeskanzler Scholz zu Europa nicht akzeptieren“; insbesondere nicht diejenigen zur Finanzierung der großen europäischen Anleihe, zur Reform des Strommarktes und zu den Abstimmungsmodalitäten im Europäischen Rat. Barnier und Naulot bringen die französischen Befürchtungen nach dem Gastbeitrag von Annalena Baerbock in Politico.eu vom 12. Juni 2023 zum Ausdruck. In diesem Gastbeitrag schlug sie die Abschaffung der Einstimmigkeitsregel für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik vor. Ein rotes Tuch für Paris! Und Frankreich kramt die alten Aussagen von Scholz über die Vergemeinschaftung des französischen Sitzes im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (2018) und die Aufgabe der Einstimmigkeitsregel in der EU (2022) hervor. In diesen Erklärungen erkennt Paris den Willen zu einem deutschen Europa: einem Europa, bestehend aus 27 Staaten, die mit qualifizierter Mehrheit abstimmen, und die mit einem gemeinsamen europäischen, nicht mehr nur französischen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vertreten wären! Was Frankreich ebenfalls ärgert, ist die Uneinigkeit innerhalb der Dreierkoalition: Kann man dem Wort Berlins noch trauen?

Partner mit Zweifeln

Diese Ressentiments haben vor allem eines zur Folge: Die beiden Staaten spalten Europa in vielen Fragen. Wenn der deutsch-französische Motor nicht mehr rundläuft, liegt es daran, dass die beiden Länder aneinander zweifeln!

Ursula von der Leyen, Olaf Scholz und Emmanuel Macron, 23.06.2022 © Wikimedia Commons

Deutschland hatte ja bekanntlich auf einen Dialog mit Russland gesetzt, nur um feststellen zu müssen, dass es Moskau dadurch nicht vom Angriff auf seinen Nachbarn abhalten konnte. Die Sanktionen, hinter denen Deutschland solidarisch steht, resultieren in der völligen Umorientierung seiner Energiepolitik. Deutschlands wirtschaftliche Schwierigkeiten bremsen seine Exporte aus, immerhin die wichtigste Stütze der deutschen Wirtschaft. Zudem hinterfragt Deutschland seine Beziehungen zu China, dessen Markt sich immer noch nicht wieder hinreichend geöffnet hat. Die Deutschen „schauen voller Nostalgie auf ihre einstige industrielle Macht“, bemerkte Le Monde; die Debatte über die notwendige Umgestaltung der deutschen Wirtschaft sei nun kein Tabu mehr.

In Sicherheitsfragen müssen die Deutschen sich fragen, ob sie noch mit am Tisch sitzen. Und sie müssten sich aktiv beteiligen an den Debatten über die europäische Souveränität und die Konsolidierung der europäischen Ostflanke, und dabei Südeuropa und die Migrationsfrage nicht außer Acht lassen. 

Aber auch Frankreich wird von Zweifeln geplagt. Wie soll das Land reformiert, wie sollen die zugrundeliegenden strukturellen Defizite behoben werden? Die französischen Truppen haben vor kurzem die Sahelzone verlassen (Ende der Operation Barkhane), und der französische Einfluss in seiner ehemaligen afrikanischen Einflusssphäre schwindet dahin. Darüber hinaus gilt es, sich stärker als bisher an der Ost- und Südostflanke Europas zu engagieren. Daran erinnerte Emmanuel Macron in seiner Rede in Bratislava (31. Mai 2023). Muss man für eine europäische Verteidigungspolitik angesichts des starken polnischen Engagements zukünftig nicht auch stärker auf Polen setzen? Kurzum, die Linien bewegen sich unmerklich und fordern beide Staaten heraus. Das doppelte Ungleichgewicht (deutsche wirtschaftliche Überlegenheit/französische strategische Überlegenheit) wird langsam abgebaut. Dies wird jedoch nicht ausreichen, um die Krise zu überwinden, in der sich die deutsch-französischen Beziehungen befinden.

Eine Notwendigkeit: ein starker politischer Wille

Annalena Baerbock und Catherine Colonna im Elsass, 21.07.2023 © MEAE, Jonathan Sarago

Ein gemeinsamer politischer Wille beider Regierungen in wesentlichen Zielsetzungen hätte in Europa echte Folgen. Ein solches Projekt könnte sich auf die Verteidigung und Neuerfindung der Demokratie, die Industriepolitik und die europäische Souveränität in ihren zahlreichen Ausprägungen konzentrieren.

Im Zentrum des europäischen Projekts stehen die Werte; denn das große Abenteuer der Europäischen Union baut ja seit jeher auf einer doppelten Ablehnung auf: der der faschistischen und nationalsozialistischen und der der kommunistischen Diktatur. Die Demokratie ist heute bedroht und wird sowohl weltweit als auch innerhalb der EU in Frage gestellt. Deutschland und Frankreich sind es sich schuldig, dieses höchste Gut als Grundlage Europas zu verteidigen. Das heißt, von allen Partnern außerhalb und innerhalb der EU zu fordern, diese Grundsätze niemals zu vergessen. Beide Staaten müssen darüber nachdenken, in welchem Gewand sie diese Forderung vorbringen wollen. Sodann müssen sie auch über eine Produktion Made in Europe nachdenken, mit der die wirtschaftliche Souveränität der EU sowie ein besserer sozialer und territorialer Zusammenhalt gewährleistet werden könnten. Man muss sich auch trauen, industrielle Kooperationen mit Überkreuzbeteiligungen anzudenken und die Sektoren zu definieren, in denen dies unerlässlich ist. Da müssen Berlin und Paris mit gutem Beispiel vorangehen.

Diese industrielle Souveränität geht natürlich mit Überlegungen zu unserer ökologischen Wende einher. Da gehören auch die „nervigen“ Themen auf den Tisch. Wir können mit der Forschung in den strategischen Sektoren fortfahren, in denen Europa unbestreitbar im Rückstand ist. Paris und Berlin haben ein manifestes Interesse daran! Das Ziel ist nicht die Festung Europa, von der einige nationalistische Geister träumen, sondern einfach die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, die nicht von außen diktiert werden.

Wenn es gelingt, die deutsch-französischen Beziehungen auf dieser Grundlage neu zu gestalten, dann wird Europa wieder einen Motor haben, der es voranbringen kann.

Übersetzung: Norbert Heikamp

Der Autor

© Sylvain Schirmann

Sylvain Schirmann ist emeritierter Professor und ehemaliger Direktor von Sciences Po Strasbourg und des deutsch-französischen Exzellenzzentrums Jean Monnet.

Weiterführende Informationen

Sylvain Schirmann & Martial Libera: La politique extérieure de l‘Allemagne depuis 1945. La puissance retrouvée, Paris, Dunod-Armand Colin, 2023.

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