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Europawahlen

Anders wählen: Wie soll das Europäische Parlament in Zukunft gewählt werden?

Benoît Schuman

Das Europäische Parlament in Straßburg © Landry Charrier

19. September 2023

Am 6. und 9. Juni 2024 sind die Bürger der EU-Mitgliedstaaten aufgerufen, ihre Abgeordneten für das Europäische Parlament neu zu wählen. Niemand weiß, ob der Krieg in der Ukraine dann noch wüten wird, aber die Wahl ist schon jetzt im Blickfeld von Politikerinnen und Politikern sowie der Medien. Neben den 720 zu besetzenden Parlamentssitzen steht auch die Ernennung einer neuen Europäischen Kommission an, was den Ehrgeiz vieler entfacht.

Wer erinnert sich noch daran? Die ersten allgemeinen Direktwahlen zum Europäischen Parlament fanden 1979 statt, als die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) noch aus neun Ländern bestand, darunter Großbritannien. Die Versammlung in Straßburg, die lange Zeit als „Canada Dry“-Parlament verspottet wurde, hat seitdem an Kompetenzen, Macht und Einfluss gewonnen. Dennoch bleibt sie vor allem bei den Souveränisten wegen ihrer vermeintlich mangelnden Legitimität oder sogar ethischer Schwächen umstritten. Vor allem aber sind die Europaabgeordneten nach wie vor nicht sonderlich bekannt, und dieses Bekanntheitsdefizit erzeugt oft Gleichgültigkeit und Misstrauen. Was kann man dagegen tun?

Ein diplomatischer Kongress oder ein demokratisches Parlament?

Die Entscheidung, die EWG mit einer direkt gewählten parlamentarischen Institution auszustatten, wurde vom Rat der Europäischen Gemeinschaften am 20. September 1976 getroffen; denn seinerzeit wollten der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt und der französische Staatspräsident Präsident Valérie Giscard d‘Estaing gemeinsam dem europäischen Projekt einen neuen Impuls verleihen. Für die beiden Freunde stand das Europäische Parlament für das Bestreben, ein stark integriertes (West-)Europa mit gemeinsamen wirtschaftlichen und politischen Zielen zu schaffen. Die Gegner des Föderalismus ahnten die sich aus der Entstehung eines solchen demokratischen Organs ergebende „Gefahr“, es könnte eine „supranationale“ (wie es damals hieß) Macht beanspruchen. In Frankreich übernahm Jacques Chirac, der seit seinem Rücktritt als Premierminister (1976) mit Giscard d‘Estaing „heillos zerstritten“ war, mit seinem Appell von Cochin (6. Dezember 1978) die Führung der Fronde, indem er die „Partei des Auslands“ geißelte.

Der Verfassungsrat hatte bereits in seiner Entscheidung vom 30. Dezember 1976 entschieden, dass diese Wahl „weder eine Souveränität noch Institutionen begründen würde, deren Natur mit der Achtung der nationalen Souveränität unvereinbar wäre, noch die Befugnisse und Zuständigkeiten der Institutionen der Republik und insbesondere des Parlaments beeinträchtigen würde“. Darüber hinaus waren die Weisen der Rue de Montpensier (dem Sitz des Verfassungsrats) der Ansicht, dass „jedwede Änderung bzw. Abweichung nur aus einer erneuten Änderung der Verträge resultieren könnte, die zur Anwendung sowohl der in Titel VI enthaltenen Artikel als auch von Artikel 61 der Verfassung führen könnte“.  

Unter diesen Umständen entsenden die Bürgerinnen und Bürger keine „Abgeordneten“, sondern Vertreter der Nation, die daher als Volksdiplomaten bezeichnet werden könnten. Ihre Titel sind in der Praxis aber anders, trotz einer hartnäckigen Rechtswirklichkeit, die um der eigentlichen Glaubwürdigkeit der Behauptungen von Emmanuel Macron willen so schnell wie möglich korrigiert werden sollte. Denn trotz der Umbenennung und der aufeinanderfolgenden Erweiterungen der EU bleibt das Problem bestehen: Kein europäischer Vertrag hat die Existenz eines einheitlichen Demos bekräftigt und die Verfassung der V. Republik kennt keine „europäische Souveränität“.

Der Plenarsaal © Landry Charrier

Schaffung eines einheitlichen Wahlverfahrens

Seit mehr als vier Jahrzehnten gibt es immer wieder Vorschläge, das Parlament nach einheitlichen Regeln zu wählen. Bis heute war keiner davon erfolgreich, weil sich die beteiligten Parteien bisher nicht einigen konnten. Der jüngste Vorschlag sieht nun vor, ein System „transnationaler“ Listen mit jeweils einem „Spitzenkandidaten“ einzuführen, so dass die Bürgerinnen und Bürger ihren Kandidaten / ihre Kandidatin für das Amt des Präsidenten / der Präsidentin der Europäischen Kommission bestimmen können. Dieses vom „deutschen Modell“ inspirierte Verfahren würde jeden Wähler mit zwei Stimmen ausstatten (ohne die Möglichkeit eines „Splittings“?). Zwar würde es zu einer „Einigung von oben“ führen, aber nur eine begrenzte Anzahl von Sitzen (weniger als 30) betreffen, während die erstplatzierte Liste keine Garantie hätte, den Posten zu erhalten. Es würde sich also um eine technische Ausgestaltung handeln, bei der auf die „direkte“ Wahl des europäischen Regierungschefs verzichtet würde. Darüber hinaus würden die nationalen Vertreterinnen und Vertreter weiterhin nach den jeweiligen von jedem EU-Mitgliedsstaat beschlossenen Regeln entsendet.

Für einen echten qualitativen Sprung müssten nie dagewesene Maßnahmen ergriffen werden. Die deutschen und französischen Traditionen könnten zu einem Kompromiss kombiniert werden, der von Lissabon bis Helsinki und von Dublin bis Nikosia Akzeptanz finden könnte:

  • Jeder Wähler könnte eine Stimme für einen Kandidaten in Einzelwahlen und eine zweite für eine (auf der Grundlage eines Abkommens zwischen den Staaten aufgestellte) nationale oder multinationale Liste mit einer proportionalen Verteilung abgeben. So würde Luxemburg nach demographischen Kriterien einen einzigen Wahlkreis bilden, während seine anderen Vertreter in eine Benelux-Liste „aufgenommen“ werden könnten. Die baltischen Staaten könnten eine ähnliche Regelung treffen.
  • Andererseits würden zwei Wahlgänge stattfinden, was auf lokaler Ebene Rücktritte von der Wahl und auf europäischer Ebene Listenzusammenlegungen bzw. zumindest die Ankündigung einer Mehrheitskoalition ermöglichen würde. Diese Methode hätte den Vorteil der Klarheit, ohne dass die Ergebnisse durch wahltaktische Manöver „verfälscht“ werden könnten.

Für eine deutsch-französische Initiative

Von Berlin und Paris wäre es ein couragierter Schritt, den anderen Hauptstädten einen solchen Wahlmodus vorzuschlagen: Beide Länder könnten sich „bilateral“ verpflichten, denselben Wahlmodus zu übernehmen, wobei eine Ausweitung auf andere jederzeit möglich wäre.

Schluss mit dem föderalistischen Simulakrum der „Spitzenkandidaten“ und den Irreführungen der transnationalen Listen! Für die Auswahl von Persönlichkeiten, die eine europäische Botschaft in die verschiedenen Länder tragen könnten, sollte die Mehrfachkandidatur ohne Wohnsitzpflicht erlaubt sein. Es wäre dann Sache jeder Partei, festzulegen, ob Herr X oder Frau Y in einem oder mehreren Ländern aufgestellt werden, z. B. als Spitzenkandidat, wobei dieser oder diese natürlich das nationale Mandat auswählen muss, das er oder sie im Falle eines Erfolgs ausüben möchte. Diese „Erasmus“-Kandidaten wären eine Generation von Politikern mit interkulturellen Kompetenzen, die in der Lage sind, ihre Überzeugungen auf verschiedenen nationalen Bühnen zu vertreten. Sie hätten eine quasi „natürliche“ Berufung zu einer Nominierung für die Europäische Kommission, wenn ihre Parteien sich auf eine Mehrheit einigen könnten.

Die Europäische Kommission umgestalten

Im Jahr 2019 verlor die Europäische Union sechs Monate für die Bildung ihrer neuen „Regierung“. Wer erinnert sich noch an die Verhandlungen, die überraschend zur Wahl der deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin führten? Wenn das Europäische Parlament wie oben gewählt würde, müssten sich die politischen Parteienfamilien auf eine Kandidatur einigen und diese dem Europäischen Rat vorlegen – und nicht umgekehrt, wie es derzeit der Fall ist.

Der Innenhof des Parlaments © Wikimedia Commons

Für die Ablehnung eines solchen Vorschlag bräuchten die Staats- und Regierungschefs dann eine doppelt qualifizierte Mehrheit (2/3 der Staaten, die 2/3 der Bevölkerung repräsentieren). Diese zwischenstaatliche Alternative wäre für den Posten des / der Kommissionspräsidenten/-in für das Europäische Parlament verbindlich. Indes müssten die Europaabgeordneten der Kommission in diesem Fall immer noch das Vertrauen aussprechen (mit einfacher Mehrheit). Sollte der Europäische Rat die ursprüngliche Wahl des Parlaments billigen, wäre für die Einsetzung der Kommission weiterhin die absolute Mehrheit erforderlich, wobei jedes einzelne Kommissionsmitglied auch noch der Zustimmung der jeweils zuständigen Ressortkommission bedarf. Diese Differenzierung würde das Europäische Parlament dazu veranlassen, eine Mehrheitskoalition zu bilden, anstatt sich auf den Europäischen Rat zu verlassen.

Da die Europäische Kommission weder eine Polizeibehörde noch ein Organ der Sowjetunion ist, müssten auch die Titel der Kommissare und Kommissarinnen geändert werden: Von nun an würden ihre Mitglieder den Titel „Minister/-in“ (und nicht mehr Kommissar) tragen. Hervorgegangen aus einem Parlament, das im bürgerlichen Bewusstsein der Bevölkerung verankert ist, würde die Kommission auf Augenhöhe mit dem Europäischen Rat diskutieren, wobei sie auf die Erhaltung der Unterstützung für ihre legislative Mehrheit achten müsste.

Archimedes oder Kopernikus

Bis zum nächsten Frühjahr ist diese „Revolution“ unwahrscheinlich. Neben den Absprachen im deutsch-französischen Rahmen spricht die Logik für die Aushandlung eines „institutionellen Vertrags“, der alle noch offenen Fragen vor der Ratifizierung durch die Staaten regeln würde: Er sollte die Übertragung der Zuständigkeit für die Wahl des Europäischen Parlaments auf die Europäische Union festschreiben, wobei eine doppelt qualifizierte Mehrheit (2/3 der Europaabgeordneten und 2/3 der Stimmen im Ministerrat) erforderlich wäre, um die für die Wahl der Vertreter der „europäischen Volkssouveränität“ geltenden Bestimmungen festzulegen.

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