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Verteidigung

Zeit für eine gründliche deutsch-französische Reflexion zur Verteidigungspolitik. Ein Kommentar zum Interview mit Élie Tenenbaum

Joachim Krause

E. Macron in Rumänien, 15. Juni 2022 © Imago

28. September 2023

Das Interview mit Élie Tenenbaum ist sehr lesenswert. Es ist frei von schönfärberischer Rhetorik und benennt die Probleme in realistischer Weise. Élie Tenenbaum nimmt die Zeitenwende in Deutschland mit Sympathie auf, meldet aber zu Recht Skepsis an, denn ob die Energie der Zeitenwende in der derzeitigen Parteienkonstellation lange vorhalten wird, steht in Frage. Der deutsche Pazifismus ist noch sehr wirkmächtig.

Élie Tenenbaum gibt eine zutreffende Bewertung der strategischen Richtung ab, die Deutschland derzeit vornimmt. Er stellt fest, dass Deutschland den Weg der Stärkung der konventionellen Verteidigung innerhalb der NATO geht und – wie in den 60er und 70er Jahren – sich als führende Nation begreift, die substantielle Beiträge zur Bündnisverteidigung leisten will. Er weist insbesondere darauf hin, dass die Bundeswehr sich im Rahmen des Framework Nation Concept der NATO als Führungsnation etabliert und durch Kooperation und Arbeitsteilung mit anderen Nationen den Kern einer europäischen Verteidigungsintegration innerhalb des Bündnisses schaffe. Deutschland werde zum europäischen Dreh- und Angelpunkt der NATO. Das ist richtig beobachtet und reflektiert die Ambitionen der deutschen Verteidigungspolitik, die gar keine andere Alternative hat. Aber Deutschland ist nicht die einzige Nation, die das tut. Aufgrund seiner geographischen Lage ist es aber neben den Niederlanden und Belgien das wichtigste Durchgangsland zur Versorgung von Truppen an der Ostgrenze des NATO-Gebietes.

Élie Tenenbaum stellt zudem fest, dass auch die deutsche Verteidigungsindustrie auf diese Weise Märkte bekomme, denn innerhalb dieser unter deutscher Führung laufenden Projekte der arbeitsteiligen Verteidigung sollte die Bewaffnung möglichst einheitlich sein. Die Feststellung ist im Prinzip richtig, aber diese Option steht auch anderen offen.

Die Inkompatibilität der Verteidigungsdoktrinen

Élie Tenenbaum vergleicht die deutsche Verteidigungspolitik mit derjenigen seines engen Verbündeten Frankreich und betont, dass beide inkompatibel sind. Frankreich sehe wenig Sinn in einer konventionellen Verteidigung, sondern setze auf nukleare Abschreckung (durch die force de frappe) und verwende seine Streitkräfte nur für Interventionen im Ausland. Von daher sieht er auch wenig Spielraum für gemeinsame Rüstungsprojekte, denn die verteidigungspolitischen Doktrinen Frankreichs und Deutschlands wären grundverschieden. Zwar gäbe es immer wieder politisch motivierte Großprojekte, die diese Grundunterschiede ignorierten und von daher zum Scheitern verurteilt wären. Ich denke nicht, dass er in dieser Schärfe richtig liegt, im Großen und Ganzen hat er aber recht. Dieses Interview sollte daher Anlass sein, vertieft über die grundsätzlichen Differenzen zwischen der deutschen und der französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu reflektieren.

Gutes und Schlechtes an der Verteidigungspolitik Deutschlands und Frankreichs

© Joachim Krause

Das Positive an der deutschen Politik war und ist die Bereitschaft, innerhalb der Allianz (das heißt unter US-Führung) konstruktiv an Konzepten der konventionellen Verteidigung gegen russische (oder früher sowjetische) Aggressionen mitzuwirken und eine integrierende Funktion einzunehmen. Das Negative an der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik war der bis 1990 latente und ab Ende der 1990er Jahre vorherrschende Pazifismus, der zu einem verhängnisvollen Realitätsverlust und zu strategischer Blindheit insbesondere in den Beziehungen zu Russland geführt hat.

Das Positive an der französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik war und ist die weitgehende Abwesenheit eines weltfremden Pazifismus und die Bereitschaft in Sicherheit und Verteidigung zu investieren. Das Negative an der französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik war und ist die Zielvorgabe der strategischen Autonomie (gerade gegenüber den USA) und der internationalen Sonderrolle Frankreichs (insbesondere im frankophonen Afrika). Diese Zielvorgabe hat auch zu einer Art strategischer Blindheit geführt. Diese betraf die mangelnde Fähigkeit zwischen Freund und Feind zu unterscheiden und die völlig illusorische Vorstellung, Frankreich könne eine Art Sonderrolle zwischen Washington, Moskau und Peking einnehmen. Es bleibt am Ende eine müßige Frage, wer hat sich stärker in Putin geirrt: die Bundesregierungen unter Gerhard Schröder, Angela Merkel und Olaf Scholz oder die französischen Präsidenten Jaques Chirac, Nicolas Sarkozy, Francois Hollande und Emmanuel Macron? Jeder hatte seine Gründe und alle lagen falsch.

Auslaufmodelle

Sowohl der deutsche Pazifismus als auch die französische strategische Autonomie sind heute an ihr Ende angelangt. Sie sind Auslaufmodelle, die abgeschafft gehören. Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat den deutschen Pazifismus und die Träume französischer Autonomie kompromittiert. Die französische Sonderrolle im frankophonen Afrika geht ihrem Ende zu, denn die Unterstützung zumeist korrupter und kleptokratischer Regimes in Afrika hat sich nicht ausgezahlt und Frankreich muss sich aus einem Land nach dem anderen zurückziehen. Und die Sonderrolle als Nuklearmacht scheint auch an ihre Grenzen gekommen zu sein. Auffällig war das Schweigen des französischen Präsidenten nach den unverhohlenen Drohungen Putins mit dem Einsatz von Kernwaffen gegen die Ukraine im Sommer 2022. Im Gegensatz dazu hat der amerikanische Präsident deutlich übermittelt, was für Konsequenzen der Einsatz von Kernwaffen für Russland hätte. Entweder verfügt Frankreich nicht über die notwendigen nuklearen Fähigkeiten, um so eine Drohung auszusprechen, oder Macron war einfach nur feige.

Strategische Autonomie durch effektive Zusammenarbeit innerhalb der NATO

© Wikimedia Commons

Mittlerweile ist es ja nicht nur Deutschland, welches die Framework Nation einer Einsatztruppe der NATO zur konventionellen Verteidigung Osteuropas führt. Weitere Nationen haben diese Rolle auch unternommen und seit dem letzten Sommer ist sogar Frankreich in führender Position dabei, einen Beitrag zur konventionellen Verteidigung Rumäniens zu leisten. Das ist eine positive Entwicklung, die weitergeführt werden muss. Nur so entsteht ein starker europäischer Pfeiler im Bereich der konventionellen Verteidigung. Und nur so kann sich eine bessere (d.h. ausgeglichene) Bilanz der Verteidigungslasten zwischen USA und Europa entwickeln. Dies ist der einzige Weg, um zumindest dem nahe zu kommen, was die französische Politik seit Jahrzehnten predigt, ohne je einen konkreten Schritt zu dessen Umsetzung unternommen zu haben: der strategischen Autonomie Europas.

Diese wird allerdings nur dann Realität, wenn der deutsche Pazifismus eingehegt wird, die Bundesregierung sich nicht im Klein-Klein verliert und letztendlich die Hoffnung überwiegt, dass sich Putin doch noch mal eines Besseren besinnt. Das wird er nicht tun. Und Frankreich täte gut daran, sich an der konventionellen Verteidigung Europas stärker zu beteiligen. Keiner will Frankreich seine Nuklearwaffen ausreden – aber Frankreich kann seine Sicherheitspolitik genauso wenig alleine auf seine Nuklearabschreckung stützen wie Deutschland auf seine Friedensliebe und seinen globalen Multilateralismus.

Der Autor

Prof. Dr. Joachim Krause ist Direktor emeritus des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK) und Chefredakteur von Sirius – Zeitschrift für strategische Analysen. Er war von 2001 bis 2016 Professor für Internationale Politik an der Universität Kiel und davor stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen internationale Politik und Sicherheit, deutsche Außenpolitik, europäische Außenpolitik, Terrorismusstudien, Theorie internationaler Beziehungen sowie transatlantische Beziehungen.

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