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Extreme Rechte in Deutschland und Frankreich

Alternative für Deutschland und Rassemblement National: eine Partnerschaft ohne gemeinsame politische Linie?

Jean-Yves Camus

© Wikimedia Commons

14. November 2023

Die Alternative für Deutschland (AfD) und der Rassemblement National (RN) schießen in der Wählergunst durch die Decke. Sie sitzen gemeinsam im Europäischen Parlament. Bei genauerem Hinsehen stehen sie jedoch für unterschiedliche Tendenzen der extremen Rechten und entwickeln sich in entgegengesetzte Richtungen: Die eine wird radikaler, die andere normaler.

Die AfD wurde 2013 auf der Grundlage einer nationalkonservativen, euroskeptischen und einwanderungsfeindlichen Programmatik gegründet, die der des RN ähneln mag. Wie auch der RN erzielte sie wiederholt Wahlerfolge, die einer rechtsextremen Welle in Europa Vorschub leisteten. Die Aussichten für die Europawahlen 2024 sehen für beide Gruppierungen anscheinend gut aus: 28 % für den RN laut einer IFOP-Umfrage vom 17. Oktober 2023; 23 % für die AfD laut einer INSA/Bild-Umfrage vom 31. Juli 2023. Beide Parteien werden auf regionaler und kommunaler Ebene stärker und profitieren in Deutschland von der Ablehnung der Ampelkoalition und in Frankreich von der Wut vieler Bürgerinnen und Bürger. Hinzu kommt auf französischer Seite das von 82 % der Befragten (+7 % im Vergleich zum Vorjahr) geteilte Gefühl, in einem Land zu leben, das sich im Niedergang befindet.

Seit 2019 sitzen die beiden Formationen zudem in der Fraktion „Identität und Demokratie“ des Europäischen Parlaments. Dies weist auf eine Agenda des kleinsten gemeinsamen Nenners hin, der wie folgt zusammengefasst wird: „Beschäftigungs- und Wachstumsförderung, Stärkung der Sicherheit, Bekämpfung der illegalen Einwanderung sowie Bürokratieabbau in der EU“. AfD und RN scheinen jedoch getrennt zu marschieren. Keine der beiden Parteien dient der jeweils anderen als Vorbild (das für Marine Le Pen eher bei Viktor Orban zu suchen wäre), und ihre Zusammenarbeit ist längst nicht so eng wie beispielsweise der Schulterschluss der französischen Partei mit der italienischen Lega.

Unterschiedliche Geschichte und verschiedene Bezugssysteme

Europawahl, Wahlplakat „Die Republikaner“ mit Foto von Franz Schönhuber © Wikimedia Commons

Die französischen nationalistischen Parteien orientierten sich in den 1960er und 1970er Jahren weitgehend an der neofaschistischen italienischen Bewegung MSI (Movimento Sociale Italiano), und zwar seit der Gründung der Partei Ordre Nouveau (Neue Ordnung) im Jahr 1969. Sie ist die eigentliche ideologische und militante Vorlage für den Front National. Selbst wenn Aktivisten, die an der Ostfront noch deutsche Uniformen getragen hatten, zu den Gründungsmitgliedern des FN gehörten, war die Geschichte der Kollaboration noch zu frisch, als dass die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Schwesterpartei hätte werden können. Von 1989 bis 1990/91 saß der FN zusammen mit den deutschen Republikanern in der Technischen Fraktion der Europäischen Rechten im Europäischen Parlament. An der Seite ihres damaligen Vorsitzenden Franz Schönhuber wiederholte Jean-Marie Le Pen am 5. Dezember 1997 in München seine Äußerungen über die Gaskammern als „Detail der Geschichte des Zweiten Weltkriegs“, bevor er im Zuge seines Ausschlusses aus dem FN seine Nähe zur NPD bekundete. Ihm schloss sich Bruno Gollnisch an, der bis heute dem RN angehört. Da die NPD jedoch juristisch als gesichert rechtsextrem galt, konnte sie nicht Schwesterpartei des RN werden. Insofern ist die AfD der erste und einzige glaubwürdige deutsche Partner der französischen nationalen Rechten seit 1945.

Taktische Partnerschaft

Laut Marine le Pen und der überwiegenden Mehrheit der Parteikader des RN handelt es sich in erster Linie um eine taktische Partnerschaft (zur Schaffung von mehr Glaubwürdigkeit für eine rechtsnationale Bewegung auf europäischer Ebene), die eher den vom Europäischen Parlament und der EU-Kommission den Fraktionen und Parteien bereitgestellten Finanzmitteln zu verdanken ist als einer gemeinsamen Ideologie. Nur die französische Nouvelle Droite verfügt über Detailkenntnisse des Nachbarlands und arbeitet auf der anderen Rheinseite mit ihrem Pendant (der Jungen Freiheit und dem Verlag Antaios) zusammen, um eine Strömung der ethnischen Differenzierung zu fördern, die der des ehemaligen AfD-Flügels entspricht. Einer der Unterschiede zwischen den beiden Parteien besteht im Übrigen darin, dass ideologische Empfindlichkeiten in der AfD stärker zum Ausdruck kommen als im RN, der sich zu einer Partei entwickelt hat, in der Marine Le Pen das politisch Sagbare stark normiert hat. Die zu Zeiten ihres Vater Jean-Marie Le Pen noch vorhandenen „Tendenzen“ sind entweder verschwunden (nationalistisch-revolutionär; katholisch-fundamentalistisch) oder zur Partei von Eric Zemmour Reconquête abgewandert, einer Partei, in die Maximilian Krah hervorragend passen würde. Reconquête zieht auch Teile der Nouvelle Droite und der ehemaligen Identitären an, die sich vom Diskurs des „Kampfes der Kulturen“ mit dem Islam verführen lassen, während der RN darauf bedacht ist, nur den politischen Islamismus ins Visier zu nehmen.

Eric Zemmour, Präsidentschaftswahlkampf 2022 © Wikimedia Commons

Unterschiedliche juristische Einordnung

In Frankreich wird der RN in der wissenschaftlichen Literatur und in den Medien immer noch größtenteils in die Kategorie „rechtsextrem“ eingeordnet. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in Frankreich jedoch keine juristische Definition dieses Begriffs. Der deutsche Verfassungsschutz definiert ihn dagegen sehr genau: Ein Kriterium für die rechtsextreme Einstellung einer Partei ist ihre ethnisch-rassische Vorstellung von der nationalen Gemeinschaft; ein weiteres, die Verbreitung von Rassismus und Antisemitismus; auch die Bekämpfung demokratischer Werte und Geschichtsrevisionismus sind für die Beurteilung als gesichert rechtsextrem relevant. Somit ist die NPD rechtsextrem, die AfD aber nur ein „Verdachtsfall“ für ihre Positionierung im rechtsextremen Spektrum. Ersetzt man den Begriff „Verdachtsfall“ durch „Grenzfall“, so trifft letzterer recht genau auf den RN zu. Denn wenn das Konzept der nationalen Priorität Ausländer diskriminiert, so geschieht dies auf der Grundlage der Nationalität, nicht der ethnischen Zugehörigkeit. Der RN vertritt nicht länger die Vorstellung von der Rassenungleichheit, die Jean-Marie Le Pen noch propagiert hatte. Und während dieser sogar so weit ging, die Existenz der Nazi-Gaskammern in Frage zu stellen, teilen seine Tochter und die von ihr geführte Partei die antijüdischen Obsessionen vieler Parteifunktionäre in den 1980er und 1990er Jahren nicht länger. Anlässlich des Terroranschlags der Hamas am 7. Oktober 2023 riefen der RN und seine Anführerin übrigens dazu auf, Israel gegen die islamistische Bewegung zu unterstützen.

Und wenn das von dem RN betriebene populistische Projekt der direkten Demokratie zwar auch die repräsentative Demokratie ausschalten soll, ist es nicht gleichbedeutend mit der Abschaffung der Macht des Volkes. Der RN kann daher heute als radikale Rechte im angelsächsischen Sinne eingeordnet werden: Wie die AfD erklärt er sich als „demokratisch“, aber in einem deutlich populistischen Sinne, indem er das als organische Einheit verstandene „Volk“ den „Eliten“ gegenüberstellt, die ihre Berufung und ihr Mandat verraten oder verfälscht hätten.

Keine völlige programmatische Übereinstimmung

Eine vergleichende Analyse der beiden Programme zeigt jedoch, dass die AfD konservativer ist als der RN. Außerdem ist sie stärker identitätsorientiert. Wenn die AfD noch ausdrücklich die Förderung der „traditionellen“ Familie“ betreibt, hätte die zu Eric Zemmour übergelaufene Marion Maréchal dem vielleicht noch zugestimmt; der RN gab diese Position aber in dem Augenblick auf, als er die Ehe für alle und das von der Verfassung garantierte Recht auf Schwangerschaftsabbruch akzeptierte.

Björn Höcke in Mödlareuth 2019 © Wikimedia Commons

Der Absatz im Grundsatzprogramm der AfD, in dem erklärt wird: „Die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst“, findet keine Entsprechung mehr in einem RN, dessen Strategie der „Normalisierung“ dazu führt, alle Kanten im Diskurs abzuschleifen. Auch hat der RN eine Kehrtwende in der Frage des Bündnisses mit Russland vollzogen, das im Programm der AfD weiterhin als Alternative zur Abhängigkeit von den USA und der NATO dargestellt wird, wobei sich die Tonlage nicht sehr von der Position des RN vor der Invasion in der Ukraine unterscheidet. In Deutschland fällt sie aber besonders auf wegen der historisch neutralen Haltung eines Teils der extremen Rechten (NPD; neurechte Strömung unter Führung von Henning Eichberg; nationalistisch-europäische Strömung von Otto Strasser nach dessen Rückkehr). Schließlich sind die Programme in Bezug auf die innere Sicherheit und die Migrationspolitik zwar recht ähnlich, doch erscheint das Programm der AfD wirtschaftsliberaler als das des von der französischen Tradition eines intervenierenden Zentralstaates geprägten RN.

Wahlsoziologie

Wir kennen die Wahlsoziologie der AfD unter anderem dank der Studie von Frank Decker (2022), die den Einfluss der Partei in den Altersgruppen zwischen 35 und 59 Jahren zeigt (15 % im Jahr 2017 und 13 % im Jahr 2021). In der Altersgruppe der 18-24-Jährigen (8 %) und der über 70-Jährigen (6 %) ist sie eindeutig unterrepräsentiert. Im Vergleich dazu schneidet der RN auf der Grundlage der IPSOS-Studie zur Stimmabgabe für Marine Le Pen in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen (2022) bei den 18- bis 24-Jährigen (39 %) und den Senioren (29 %) deutlich besser ab, liegt aber weit hinter Emmanuel Macron (57 % bzw. 71 %), wobei die RN-Kandidatin nur bei den 50- bis 59-Jährigen an der Spitze liegt (51 % gegenüber 49 %).

Beide Parteien scheinen in der Wählerschaft mit unterdurchschnittlichem Haushaltseinkommen und in der Arbeiterschaft besonders populär zu sein; Decker betont aber, dass die AfD nur ein Viertel der Stimmen von Arbeitern und Arbeitslosen auf sich vereint, wohingegen die Kandidatin des RN in dieser Wählergruppe 67% der Stimmen aller Wahlberechtigten erhält. Während die AfD mehrheitlich von der Mittelschicht gewählt wird, ist der RN trotz des Durchbruchs von Le Pen auf der mittleren Unternehmensebene (41 % gegenüber 33 % im Jahr 2017), den Angestellten (57 % gegenüber 46 % im Jahr 2017) und sogar den Führungskräften (21 % gegenüber 18 % im Jahr 2017) deutlich populärer. Schließlich ist bemerkenswert, dass, während die AfD immer noch mit dem Gender Gap kämpft, der RN dieses Problem längst überwunden hat; denn die Stimmen für Marine Le Pen lagen im ersten Wahlgang bei Männern wie Frauen bei 23 %, wobei im zweiten Wahlgang ein leichter Männerüberhang zu verzeichnen war (43 % gegenüber 41 %).

Verschiedene Entwicklungen

Als erwiesen gilt die Protestdimension beider Parteien in ihrer doppelten Ausprägung als Protest gegen die Eliten und als Wut aufgrund der Unzufriedenheit mit der „gestohlenen“ Demokratie. Den selbstzentrierten Nationalismus gegenüber dem außereuropäischen Ausland sowie die autoritär-sicherheitspolitische Konzeption der Gesellschaft haben beide Parteien gemeinsam. Allerdings führten das Auseinanderdriften der historischen Bezugspunkte (die Bezugnahme der AfD auf die Revolution von 1848 ist für den RN nicht nachvollziehbar) und die Ursprünge der beiden Parteien (eine Initiative nationalliberaler Elemente aus der CDU auf der einen Seite; ein Kartell aller extremen Rechten auf der anderen) zu unterschiedlichen Entwicklungen, nämlich zur Radikalisierung bei der AfD und beim RN zum Bemühen, Mainstream zu werden.

Übersetzung: Norbert Heikamp

Der Autor

© Jean-Yves Camus

Jean-Yves Camus ist Direktor des Observatoriums für politische Radikalität (ORAP) bei der Jean-Jaurès-Stiftung und assoziierter Forscher am Institut für internationale und strategische Beziehungen (IRIS), beide in Paris. Seine Forschungsschwerpunkte sind die zeitgenössischen rechtsextremen Bewegungen in Europa sowie die Geschichte der Beziehungen zwischen Russland und den radikalen nationalistischen Bewegungen in Westeuropa.

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