Vereinte Nationen
Reform des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen: Ein deutsch-französischer Vorschlag?
5. März 2024
Der Vertrag von Aachen befürwortet ausdrücklich die Unterstützung Frankreichs für einen ständigen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (SRVN), aber wäre es nicht an der Zeit, dass beide Länder eine strukturelle Reform dieses Gremiums vorschlagen? Ziel müsste es sein, die blockierenden Rivalitäten zwischen Russland, China und den Vereinigten Staaten zu überwinden. Die Chancen für Berlin, einen Sitz zu erhalten, sind verschwindend gering, aber es lohnt sich, darüber nachzudenken.
Das diplomatische Leben ist von Gedenkfeiern bestimmt, die oft von verschiedenen Akteuren je nach geopolitischer Lage instrumentalisiert werden. So wurde das fünfjährige Bestehen des Aachener Vertrags im Rahmen der Ehrung von Wolfgang Schäuble am 22. Januar 2024 eher nüchtern gefeiert. Vor dem Bundestag thematisierte Emmanuel Macron erneut die wichtigsten internationalen Herausforderungen, die Prioritäten der Europäischen Union und auch die zentrale Rolle der deutsch-französischen Partnerschaft. Dieses neuerliche „Glaubensbekenntnis“ nach seiner Rede an der Sorbonne vom 22. Januar 2023 wurde einhellig begrüßt, zumal der französische Staatspräsident seine Rede über weite Strecken auf Deutsch hielt. Aber über reine Symbolpolitik hinaus müssen Deutschland und Frankreich nun gemeinsam eine kohärente Botschaft vorbereiten, um das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Unterzeichnung der Charta von San Francisco (26. Juni 1945) zu markieren.
Historische Herausforderungen
Die Abfolge der militärischen Ereignisse von der Landung in der Normandie am 6. Juni 1944 bis zum Sieg über Nazi-Deutschland am 8. Mai 1945 wirft unweigerlich die Frage der Anwesenheit Russlands – als Nachfolgestaat der UdSSR – an den verschiedenen Zeremonien auf. Alles wird von der Entwicklung des Krieges in der Ukraine abhängen: Das Ende des Konflikts würde es vielleicht ermöglichen, Russland an einigen Veranstaltungen teilnehmen zu lassen – denn niemand kann die Rolle der Sowjetunion beim Sieg über den Nationalsozialismus leugnen – , aber die Fortsetzung der Gefechte würde jede Einladung in den Westen vereiteln (was Wladimir Putin für seine „antifaschistische“ Propaganda sicherlich ausnutzen würde).
Dasselbe gilt für den 80. Jahrestag der Gründung der Vereinten Nationen, der sich als ein weiterer „heikler“ Termin ankündigt: Die Abwesenheit Russlands wäre für den Globalen Süden vollends unverständlich. Eine weitere Tatsache gilt es zu berücksichtigen: 1945 nahm das „nationalistische“ China unter Chiang Kaishek an der Konferenz von San Francisco teil und unterzeichnete – gemeinsam mit den Alliierten – die Kapitulation Japans. 1971 erkannten die Vereinten Nationen die Volksrepublik China als Nachfolgestaat der Republik China an – auf Kosten von Taiwan. Peking kann die Geschichte zwar nicht umschreiben, wird aber wahrscheinlich versuchen, bei dieser Gelegenheit seine Entschlossenheit zu bekräftigen, die „separatistische“ Insel (notfalls mit Gewalt) in ein vereintes China zu integrieren. Im Falle eines Gipfeltreffens in Kalifornien muss also ein Gleichgewicht gefunden werden, um die Empfindlichkeiten aller zu schonen, ohne Putin und seinem „besten Freund“ Xi Jinping in die Hände zu spielen. Der US-Präsident wird als Gastgeber fungieren und die Verantwortung für diese Entscheidungen übernehmen müssen.
Vom Rheinland zu den Ufern des Hudson River
Der am 22. Januar 2019 abgeschlossene Vertrag von Aachen enthält ein Kapitel, das sich mit Fragen des „Friedens, der Sicherheit und der Entwicklung“ befasst. Zwei Artikel befassen sich mit Bestimmungen zu den Vereinten Nationen:
- Artikel 5 besagt, dass Deutschland und Frankreich „Austauschprogramme zwischen ihren Ständigen Vertretungen bei den Vereinten Nationen in New York, insbesondere zwischen den Sicherheitsratsstäben […] einrichten“ werden;
- Artikel 8 bekräftigt: „Die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ist eine Priorität der deutsch-französischen Diplomatie.“
Diese Formulierungen werden durch weitere Zusagen ergänzt, insbesondere über die Artikulierung der Außenpolitik beider Staaten, „um innerhalb der Vereinten Nationen die Positionen und Zusagen der Europäischen Union in Bezug auf globale Herausforderungen und Bedrohungen voranzubringen“.
Immerhin bleiben die nationalen Interessen oft sehr unterschiedlich (von der Sahelzone bis zum Nahen Osten). Selbst wenn sich beide Staaten bemühen, im UN-Sicherheitsrat „mit einer Stimme zu sprechen“, distanzierte sich Berlin in Mali wie auch in Niger in gewisser Weise von Paris (Ende des Mandats der „Blauhelme“, als Emmanuel Macron sich in lautstarke Querelen mit den Putschisten in Bamako und Niamey verstrickte). Die Reisen von Regierungsvertretern vermitteln im Übrigen oft das Gefühl eines Wettlaufs mit unzureichend koordinierten Botschaften und unterschiedlichen Prioritäten (Ökologie, Menschenrechte, Handel).
Archaismus oder Anachronismus
Die Zusammensetzung des SRVN ist ein ziemlich verblasstes „Foto“: Zu den fünf ständigen Mitgliedern (China, USA, Russland, Frankreich und Großbritannien) kommen zehn Staaten hinzu, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen gemäß der Resolution 1991 vom 17. Dezember 1963 für jeweils zwei Jahre (Biennium) gewählt werden. Die Verteilung der Mandate trägt einem geopolitischen Gleichgewicht Rechnung, das in zweifacher Hinsicht bemängelt wird: zum einen aufgrund des Endes des Kalten Krieges und zum anderen wegen der international aufstrebenden „Schwellenländer“. In gewisser Weise ist die Staatengruppe der G20 „repräsentativer“ für die neuen Machtverhältnisse, selbst wenn dieser – von Wirtschafts- und Finanzinteressen dominierte – „Club“ ohne Wahlen keine demokratische Legitimität besitzt.
Das Auswahlverfahren in New York bringt Deutschland regelmäßig in das „Direktorium“: „Die zehn nichtständigen Mitglieder werden nachfolgenden Kriterien gewählt: fünf gewählte Mitglieder aus den Staaten Afrikas und Asiens; ein gewähltes Mitglied aus den Staaten Osteuropas; zwei gewählte Mitglieder aus den Staaten Lateinamerikas und der Karibik und zwei gewählte Mitglieder aus den Staaten Westeuropas und anderen Staaten.“ Die risikoreiche Verantwortung als Mitglied des SRVN kann manchmal zu Konflikten führen. 2011 war das Beispiel Libyen frappierend: Während die USA, Großbritannien und Frankreich die Resolution 1970 (26. Februar) durchsetzten, mit der ihre bewaffnete Intervention gegen das Regime von Oberst Gaddafi „legitimiert“ wurde, enthielt sich Deutschland der Stimme, und zog damit den Zorn von Washington, London und Paris auf sich.
Auf dem Weg zu einer multipolaren Welt
Die immer wieder und auch beim Treffen der G20-Außenminister am 21. Februar 2024 thematisierte Reform des UN-Sicherheitsrates muss zahlreiche und manchmal rivalisierende Ambitionen erfüllen. Deutschland fand Verbündete für seine Forderung: Wie die Bundesrepublik sind auch Japan, Indien und Brasilien an einer ständigen Mitgliedschaft interessiert. Aber auch Afrika und die arabische Welt haben wiederholt ihren Wunsch geäußert, von einer Überarbeitung der Charta zu „profitieren“, ohne sich auf die „glücklichen Kandidaten“ einigen zu können (Ägypten und Nigeria, aber auch Südafrika und Äthiopien haben allesamt Argumente, die für sie sprechen).
Die Erweiterung des UN-Sicherheitsrats ist unerlässlich; denn die geopolitische Landschaft hat sich im Vergleich zu 1973, als Westdeutschland (zeitgleich mit der DDR) den Vereinten Nationen beitrat, stark verändert. Verschiedene Ideen werden immer wieder erörtert, darunter eine Erweiterung auf 21 Staaten (davon 9 ständige Mitglieder): Diese Option würde es den größten Akteuren ermöglichen, in den Rat aufgenommen zu werden, und gleichzeitig sicherstellen, dass kleine und mittlere Staaten die Möglichkeit haben, von ihren „Standesgleichen“ als Vertreter ihres Kontinents nominiert zu werden. Die Frage der supranationalen Staatengruppen ist jedoch nicht geklärt: Warum sollten die Europäische Union, der ASEAN oder die Liga der Arabischen Staaten nicht eine solche Funktion wahrnehmen können? Solange die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen nur Staaten vorbehalten ist, wirft dieser Ansatz das Problem der nationalen Souveränität auf – hier bleibt das Dilemma bestehen.
Adieu „Grande Nation“
In der EU wird oft von der „europäischen Souveränität“ gesprochen, wobei deren Verhältnis zu den nationalen Souveränitäten nicht weiter präzisiert wird: Zusammenarbeit, Gegenseitigkeit oder Substitution? Beim Abschluss des Vertrags von Aachen hatten französische „souveränistische“ Kreise das Abkommen angeprangert, weil es aus ihrer Sicht zu einer Infragestellung des ständigen Sitzes Frankreichs im SRVN führen könnte. Sie waren der Meinung, die Präsenz von zwei EU-Mitgliedstaaten im Rat würde von der internationalen Gemeinschaft nicht akzeptiert werden, und Frankreich müsste nolens volens auf seinen Platz verzichten. Offensichtlich wurden die Reaktionen von Drittstaaten auf den Aachener Vertrag nicht antizipiert: der Vertrag sieht lediglich eine „Erweiterung“ des VN-Sicherheitsrats vor und keine allgemeine „Neuverteilung der Karten“.
Eine völlig neue Zusammensetzung würde nämlich den breiten Konsens auch der fünf ständigen Mitglieder und entsprechende „Opfer“ aller Partner (einschließlich des Vereinigten Königreichs) erfordern. Für Berlin wäre es einfacher, auf einen Anspruch zu verzichten, für einen Status, den Deutschland nicht innehat; für Paris wäre die Preisgabe real, erschiene aber angesichts des Verlusts seines (relativen) Einflusses auf die großen geopolitischen Krisen unausweichlich. Vor diesem Hintergrund ist die Neuorganisation des SRVN mit einem Rundumschlag eher unwahrscheinlich, und die Reform müsste Schritt für Schritt erfolgen, so dass sich die nationalen und „supranationalen“ Diplomatien nach und nach anpassen ließen.
Von der SRVN zum FRVN
Eine neue Ära würde mit einer Umbenennung des SRVN in „Friedensrat der Vereinten Nationen (FRVN)“ eingeläutet. Dieser hätte dann 21 Mitglieder, neun ständige und zwölf gewählte, und sowohl internationale (supranationale oder föderale) Organisationen als auch „einzelne“ Staaten. Die Liste des FRVN könnte alle 15 Jahre nach einer Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit absoluter Mehrheit ihrer Mitglieder überarbeitet werden. Die Auswahl der ständigen Mitglieder könnte lauten: EU, USA, Russland, China, Indien, Brasilien, Nigeria (Afrikanische Union), Ägypten (Arabische Liga), Japan.
Diese Option entspräche auch geopolitischen Kriterien, die insbesondere die Bevölkerung, Wirtschaft, Technologie, Fläche und kulturelle Vielfalt (Religionen) umfassen. Änderungen wären ebenfalls möglich, wenn zum Beispiel ein Land aufgrund seiner strategischen Schwächung gestrichen würde. Die regionalen Gruppen wären: Europa (+ Kanada), Zentral- und Westasien, Südasien/ASEAN, Ozeanien/Pazifik, Lateinamerika/Karibik, Afrika südlich der Sahara (jeweils zwei Sitze). Frankreich seinerseits könnte sich für den europäischen Kontinent wählen lassen, würde aber mit Deutschland, Italien und allen anderen EU-Mitgliedern konkurrieren. Die Abstimmungsregeln der multinationalen Gruppen würden durch ihre interne „Verfassung“ festgelegt (für die EU nach den Verfahren der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik).
Vetorecht: Ja oder nein?
Frei nach Shakespeare: das Dilemma des Festhaltens am Vetorecht für die ständigen Mitglieder sollte an strenge Bedingungen geknüpft werden:
- Legt eins von neun Mitgliedern sein Veto ein, bräuchte es für die Gültigkeit die Unterstützung von sieben (von zwölf) gewählten Mitgliedern.
- Machen zwei Mächte von ihrem Vetorecht Gebrauch, sollten mindestens vier gewählte Mitglieder dies unterstützen.
- Legen drei Mächte ihr Veto ein, könnte die Generalversammlung dieses Veto nur mit einfacher Mehrheit überstimmen.
- Gegenüber einem Veto von vier Mächten wäre eine absolute Mehrheit der VN-Mitgliedstaaten erforderlich, um eine Resolution des Rates zu verabschieden;
- im Falle eines Vetos von fünf (oder mehr) Mitgliedern bedürfte es einer Zweidrittelmehrheit der Generalversammlung der VN, um dieses Veto zu überstimmen.
Resolutionen, die durch eine Abstimmung der Generalversammlung bestätigt werden, könnten Zwangsmaßnahmen vorsehen, mit deren Durchführung der VN-Generalsekretär betraut würde. Eine solche „Revolution“ mag zwar idealistisch erscheinen, doch Paris und Berlin müssten die „Spielregeln“ ändern und – vor allem – zeigen, dass Europa bereit ist, den Forderungen der Staaten des Globalen Südens nachzukommen: dieser europäische Vorschlag würde vermutlich zu Rissen in der von Peking und Moskau geduldig aufgebauten „Front“ führen. Die Übertragung der Entscheidungsbefugnis vom SRVN auf die Generalversammlung würde die demokratischen Grundsätze, von denen sich die EU leiten lässt, und ihre Akzeptanz eines neuen internationalen Gleichgewichts verdeutlichen.
Die Verhandlungen für eine UN 21.0 könnten im Juni 2025 in San Francisco beginnen und von einer „Gruppe der Weisen“ geleitet werden, deren Sekretariat Frankreich und Deutschland in Anwendung des Aachener Vertrags gemeinsam übertragen würde. Wenn Paris und Berlin ihre Kräfte dann mit London bündelten (insbesondere in Richtung des Globalen Südens), stünden die anderen ständigen Mitglieder unter starkem Druck, der Aufnahme dieser Arbeiten mit dem Ziel zu befürworten, bis 2030 eine neue Charta zu verabschieden (Jahrestag der Resolution 84 des UN-Sicherheitsrats vom 7. Juli 1950, mit welcher der Koreakrieg „legitimiert“ wurde – in Abwesenheit der UdSSR).
Der Übergang vom Europäischen Währungssystem (EWS) zur Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) hat ein Jahrzehnt gedauert, und der Euro wird heute von der großen Mehrheit der Bürger akzeptiert. Um den Sicherheitsrat zu einem Friedensrat zu machen, bräuchte man die Stärke Samsons und die Weisheit Salomos: Angesichts der „Unordnung“ der heutigen Welt ist es den Diplomaten erlaubt, zu hoffen.
Übersetzung: Norbert Heikamp