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Welche Rolle für Deutschland und Frankreich in Europa?

Bedingt führungsfähig? Eine Stimme aus Estland

Kristi Raik

Kaja Kallas beim informellen EU-Gipfel in Granada, 6. Oktober 2023 (Copyright: Imago)

12. März 2024

In der dritten Folge unserer Reihe „Bedingt führungsfähig?“ gibt Kristi Raik die estnische Perspektive wieder. Sie schreibt: „Wenn es Frankreich und Deutschland nicht gelingt, gemeinsam (…) zu führen, (…) werden wir in den kommenden Jahren wahrscheinlich ein zersplittertes, instabiles und weltweit unbedeutendes Europa erleben.“

Bis zum 24. Februar 2022 waren die Staats- und Regierungschefs Deutschlands und Frankreichs davon überzeugt, Europa könne und solle seine Beziehungen zu Russland mit mehr Diplomatie und nicht mit mehr Waffen regeln. Ihre Pendeldiplomatie gegenüber dem Kreml hat den Krieg jedoch nicht verhindert. In der neuen, durch Russlands Invasion in der Ukraine geschaffenen geopolitischen Realität änderten beide Länder und die EU insgesamt ihre Herangehensweise an die europäische Sicherheit und Verteidigung grundlegend. Die Zeit für Diplomatie wird irgendwann wiederkommen, aber es ist nun klar, dass Europa viel mehr Waffen braucht, um sich gegen die langfristige russische Bedrohung verteidigen zu können.

Der Schock über die Rückkehr eines großen Krieges nach Europa führte zu einem akuten Bedarf an neuer Führung. Obwohl Bundeskanzler Olaf Scholz schnell die Zeitenwende ausrief, reagierten Berlin und Paris zu langsam, um mit den Ereignissen auf den ukrainischen Schlachtfeldern Schritt halten zu können – Ereignisse, die nicht weniger als die Zukunft der europäischen Ordnung prägen sollten. Wie so oft in der jüngeren Geschichte übernahmen die USA die Führungsrolle zur Gewährleistung der europäischen Sicherheit.

Die östlichen und skandinavischen Mitgliedstaaten in Führung

Gleichzeitig erwies sich die EU als überraschend starker geopolitischer Akteur. Ihre beispiellosen Sanktionen gegen Russland und die Unterstützung der Ukraine, einschließlich militärischer Hilfe, wurden nicht von Deutschland und Frankreich angeführt, sondern von den östlichen und skandinavischen Mitgliedstaaten, einschließlich meines Heimatlandes Estland. Augenblicke internationaler Turbulenzen können Chancen für die Führungsrolle kleiner Staaten bieten, die Estland gerne ergriff, nicht zuletzt, weil Russland nicht nur für die Ukraine, sondern auch für seine Nachbarn eine existenzielle Bedrohung darstellt.

Die russische Aggression, vor der Estland gewarnt hatte, erhöhte dessen Glaubwürdigkeit und stärkte seine Positionen in der europäischen Debatte und Entscheidungsfindung. Estland beteiligte sich aktiv an der Ausformulierung der Lagebeschreibung, der Festlegung der Agenda und der Orchestrierung der EU-Politik als Reaktion auf den Krieg. Es bildete Koalitionen nicht nur mit den gleichgesinnten baltischen und skandinavischen Ländern und Polen, sondern übte auch Druck auf Deutschland und andere westeuropäische Staaten aus, mehr zu tun. Estland ging in mehreren Bereichen wie der Militärhilfe für die Ukraine, der Verhängung von Sanktionen gegen Russland und der Aufdeckung von Kriegsverbrechen mit gutem Beispiel voran. Es ergriff konkrete Initiativen wie die Festsetzung einer Preisobergrenze für russische Ölexporte, die Bereitstellung von einer Million Granaten für die Ukraine dank der gemeinsamen Beschaffung durch die EU und die Suche nach Möglichkeiten, die eingefrorenen russischen Vermögenswerte zur Unterstützung der Ukraine zu nutzen. Und es setzte sich aktiv dafür ein, der Ukraine den Weg in die EU zu ebnen. 2022 war das Jahr, in dem Estland mehr internationale Aufmerksamkeit erlangte als wahrscheinlich jemals zuvor in seiner Geschichte. Vor allem Premierministerin Kaja Kallas stand ständig im Rampenlicht und forderte Partner und Verbündete auf, die Ukraine stärker zu unterstützen und Russland für seine Aggression zur Rechenschaft zu ziehen.

Die großen Staaten müssen folgen

Kristi Raik (Copyright: Kristi Raik)

Der Führungsrolle kleiner Staaten in der EU sind jedoch Grenzen gesetzt. Auf Größe und Ressourcen kommt es am Ende an. Und deshalb müssen andere folgen, vor allem die großen Staaten. Deutschland tat genau das während des gesamten Krieges – es folgte anderen, oft widerwillig, ohne indes die eigentlich von Berlin erwartete Führung zu übernehmen. Frankreich schlug einen anderen Weg ein. In den ersten Kriegsmonaten passte es sich nur langsam an und schien einen schnellen Ausweg zu suchen, wobei Präsident Macron seine mittel- und osteuropäischen Verbündeten mit der Aufforderung verärgerte, Putin nicht zu demütigen. In jüngster Zeit scheint Frankreich allerdings die Tiefe und Dauerhaftigkeit des geopolitischen Wandels in Europa erkannt zu haben. Wenn Frankreich eine führende Rolle für die europäische Sicherheit spielen will – und das will es zweifellos –, muss es sich langfristig dafür einsetzen, Russland in der Ukraine zu besiegen und einen nachhaltigen Frieden aufzubauen.

Strategische Autonomie gewinnt an Substanz

In der neuen geopolitischen Realität gewinnt die langfristige französische Priorität einer europäischen strategischen Autonomie an Substanz und Gewicht. Vor dem russischen Angriffskrieg ließ die von Frankreich geführte Debatte über strategische Autonomie die Frage der russischen Bedrohung der europäischen Sicherheit außer Acht, was sie in den Augen der mittel- und osteuropäischen Länder, die in Russland stets eine unmittelbare Bedrohung sahen, unglaubwürdig und sogar gefährlich machte. Heute sind die Bedrohungswahrnehmungen der europäischen Länder sehr viel einheitlicher, während das künftige Engagement der USA für die europäische Sicherheit unberechenbarer denn je erscheint. Dennoch fehlt es an der deutsch-französischen Führungsrolle. Was wir stattdessen sehen, ist ihre öffentlich zur Schau getragene Uneinigkeit. Wenn es Frankreich und Deutschland nicht gelingt, gemeinsam so zu führen, dass die Europäer geeint bleiben und sich für die Stärkung der Sicherheit des Kontinents einsetzen, werden wir in den kommenden Jahren wahrscheinlich ein zersplittertes, instabiles und weltweit unbedeutendes Europa erleben.

Übersetzung: Norbert Heikamp

Die englische Version des Textes kann unter folgendem Link abgerufen werden: Estonia’s Leadership in the EU – and Its Limits – ICDS.

Die Autorin

Kristi Raik ist stellvertretende Direktorin und Leiterin des außenpolitischen Programms des International Centre for Defence and Security (ICDS). Sie ist zudem außerordentliche Professorin für Internationale Beziehungen an der Universität Turku. Davor arbeitete sie als Senior Research Fellow und amtierende Programmdirektorin am Finnischen Institut für Internationale Angelegenheiten in Helsinki und als Beamtin im Generalsekretariat des Rates der EU in Brüssel. Kristi Raik hat viel über europäische Sicherheit und die EU-Außenpolitik veröffentlicht. Sie ist zudem Expertin für die Außen- und Sicherheitspolitik der baltischen Staaten und Finnlands.

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