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Welche Rolle für Deutschland und Frankreich in Europa?

Bedingt führungsfähig? Eine Stimme aus Polen

Piotr Buras

Treffen des Weimarer Dreiecks in Berlin, 15.03.2024 (Copyright: Imago)

19. März 2024

Folge 4 unserer Reihe „Bedingt führungsfähig?“, heute mit dem polnischen Experten Piotr Buras vom Warschauer Büro des European Council on Foreign Relations. Seine These: Tusk wird nicht der Retter Europas sein, aber die Union hat mit ihm eine Chance, die in Paris und Berlin ernst genommen werden sollte.

Wird Polen das europäische Führungsvakuum füllen? Die Debatte über eine neue politische Dynamik in der EU wurde durch den Machtwechsel in Warschau (Herbst 2023) befeuert. Sie nimmt an Bedeutung zu, je mehr sich Paris und Berlin voneinander entfernen. Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine ist den ost- und mitteleuropäischen Staaten viel Aufmerksamkeit geschenkt worden, zur Genugtuung all derjenigen, die sich über eine Marginalisierung und Herablassung des immer noch „neuen“ Europas – zwanzig Jahre nach der EU-Erweiterung – beschwerten. Nun liegt der Osten nicht mehr an der Peripherie: Dort spielt sich die Geschichte gerade ab.

Gewicht und Aufmerksamkeit sind zwei verschiedene Sachen

Aber ist damit das politische Gewicht und der machtpolitische Einfluss der Region gewachsen? Wohl kaum. Zwar verhallt die Stimme der Balten lauter als zuvor und Polen wird als militärpolitischer Musterknabe bewundert und gepriesen. Aufmerksamkeit ist aber nicht gleich Macht: Diese erfordert Potential, Respekt, Ambition und Koalitionsfähigkeit. Polen ließ diese Qualitäten in den vergangenen acht Jahren vermissen. Die Ambition der zwischen 2015 und 2023 regierenden Rechtspopulisten speiste sich nicht aus Gestaltungskraft, sondern sie erschöpfte sich in Verhinderungstaktik. So wurde die Verlagerung des Gravitationszentrums Europas ein griffiger Spruch, aber keine Realität.

Es war die Rückkehr von Donald Tusk, dem liberalen Premierminister (2007-2014) und Präsidenten des Europäischen Rates (2014-2019), die die Perspektive einer Machtverschiebung in Europa in Reichweite rückte. Als erster zeigte Tusk, dass eine Umkehr vom illiberalen Halb-Autoritarismus möglich ist. Das gibt ihm einen Vertrauensvorschuss und Legitimität in einer Zeit, in der die Demokratie in Europa wie kaum zuvor unter Druck steht. Und seine enorme politische Erfahrung gibt ihm die Gravitas, die sowohl seinen Vorgängern als auch vielen Mitstreitern in anderen EU-Ländern fehlte. Man konnte es auf dem jüngsten Kongress der Europäischen Volkspartei in Bukarest (6.-7. März) sehen, als beinahe keine Rede ohne Verweis auf Tusk als europäischen Hoffnungsträger zu Ende kommen konnte.

Tusk wird nicht der Retter Europas sein

Piotr Buras (Copyright: ECFR)

Es wäre aber vermessen, von Tusk zu erwarten, er würde in die Rolle des Heilbringers für das führungsschwache Europa schlüpfen. Man sehnt sich zwar nach einem neuen Helmut Kohl oder Francois Mitterand. Ihre potentiellen Nachfolger, unter ihnen auch Tusk, müssen sich aber Herausforderungen stellen, die nur eingeschränkt für die damaligen Staatsmänner galten. Dass Scholz oder Macron nicht auf der Höhe der Zeit zu sein scheinen, hängt ja nicht nur mit ihren Persönlichkeitsschwächen oder Mangel an humanistischer Bildung (wie Henry Kissinger in seinem Buch On Leadership behauptete) zusammen. Die politischen Führer von heute müssen in einem wesentlich labileren parteipolitischen Umfeld agieren, was ihren Handlungsspielraum beschränkt. Im Zeitalter der sozialen Medien sind sie zudem viel vulnerabler für Schwankungen der öffentlichen Meinung sowie medialer Zuneigung. Tusk ist nicht frei von diesen Risiken. Vom Profil her erinnert er darüber hinaus eher an die Pragmatikerin Angela Merkel. Auch in der Europapolitik meidet er Risiko, indem er institutionellen EU-Reformen eine Absage erteilt, den Migrationspakt ablehnt und die Öffnung des EU-Marktes für ukrainische Importe möglichst begrenzen will. Von Europaeuphorie und Zweckoptimismus ist in seiner Politik wenig zu spüren. Darin spiegelt sich auch die Gemütslage im Land wider.

Eine Chance, die ernst genommen werden sollte

Nichtsdestotrotz steht die EU mit Tusk vor einer Chance, die in Berlin und Paris ernst genommen werden sollte. Paradoxerweise ist die Schwäche des deutsch-französischen Tandems (ein Fluch für die EU) eine Variable, die es am Ende erlauben könnte, die politische Führung in Europa neu zu gestalten. Verbittert über Scholz, versucht nun Macron die lange brach liegenden Beziehungen zu Mittel- und Osteuropa aufzubauen. Polen und Frankreich sind sich in letzter Zeit in der EU-Verteidigungspolitik nähergekommen und unterstützen etwa die Idee eines gemeinsam (schulden)finanzierten Rüstungsfonds. Mit Deutschland wird Warschau eh ein vertrauensbasiertes Verhältnis aufbauen. In der für Missmut sorgenden Frage der Kriegsreparationen wird nun nach „kreativen Lösungen“ (Radek Sikorski) gesucht. Früher diente das Weimarer Dreieck dazu, Polen symbolisch in das Machtzentrum der EU zu bringen. Heute könnte Polen als eine Brücke zwischen den beiden westeuropäischen Partnern fungieren.

Gleichzeitig setzt Tusk auf eine stärkere Kooperation mit skandinavischen und baltischen Ländern, mit denen Polen gemeinsame Interessen teilt: im Hinblick auf Russland, im Sicherheit- oder Energiebereich. Anders als in der Vergangenheit geht es aber nicht darum, ein Gegengewicht zu Paris und Berlin aufzubauen, sondern dem Nord-Osten der EU eine stärkere Stimme zu verschaffen. Dem Ziel, einen gesamteuropäischen Konsens in den Schlüsselfragen der EU-Integration herbeizuführen, könnten diese Bemühungen nur dienlich sein.

Von einem erstarkten Polen kann die EU nur profitieren. Das scheint auch in Berlin und Paris erkannt worden zu sein. Aber wenn Deutschland und Frankreich ihre bilaterale Krise nicht überwinden, wird die anbrechende Veröstlichung der EU ihre positive Wirkung kaum entfalten können.

Der Autor

Piotr Buras leitet das Warschauer Büro des ECFR und ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations. Zu seinen Themenschwerpunkten gehören die deutsche EU- und Außenpolitik, Polen in der EU und die EU-Politik. Buras ist Journalist, Autor und Experte für deutsche und europäische Politik. Zwischen 2008 und 2012 arbeitete er als Kolumnist und Berlin-Korrespondent für Gazeta Wyborcza, die größte polnische Tageszeitung. Er begann seine berufliche Laufbahn in den späten 1990er Jahren am Zentrum für Internationale Beziehungen in Warschau, einem der ersten polnischen Think-Tanks, und setzt sie am Institut für Germanistik der Universität Birmingham sowie an der Universität Wroclaw fort. 

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