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Bilaterale Beziehungen

Ostdeutschland – Frankreich: Sie kennen einander kaum!

Ein Gespräch mit Anne Pirwitz und Dirk Schneemann

Übernahme der Schirmherrschaft der Frankreich-Initiative Ostdeutschland durch Botschafter Delattre (r.) und Staatsminister Schneider (Copyright: Dirk Schneemann)

24. April 2024

Die deutsch-französischen Beziehungen sind knapp 35 Jahre nach dem Mauerfall immer noch fast ausschließlich westdeutsch-französische Beziehungen. Seit 2022 hat sich zwar einiges zum Besseren gewendet, es muss aber mehr passieren. Bei seinem Staatsbesuch im Mai könnte Emmanuel Macron ein Zeichen setzen.

dokdoc: Herr Schneemann, die Frankreich-Initiative Ostdeutschland ist im November 2022 an den Start gegangen. Mit welchen Ambitionen? Warum sollte Ostdeutschland gerade jetzt mehr Frankreich wagen?

Dirk Schneemann: Das Ganze hat eine Vorgeschichte und diese Vorgeschichte fing im Oktober 2018 bei einem Treffen der deutsch-französischen Wirtschaftsclubs in Berlin an. Als es darum ging, zu entscheiden, wo das folgende Treffen stattfinden sollte, schlug ein französischer Kollege Ostdeutschland vor. Da fiel den Kollegen auf, dass es in Ostdeutschland keinen deutsch-französischen Club gab, der die Organisation übernehmen konnte. Im Sommer 2022, bei einem Gespräch mit der damaligen französischen Botschafterin, Anne-Marie Descôtes, entstand dann die Idee, das (noch nicht realisierte) Projekt zu erweitern und eine „Frankreich-Strategie Ostdeutschland“ zu erarbeiten. Das Dossier zeigte sowohl enorme Defizite als auch ungenutzte Chancen auf. Die Initiative ging dann am 9. November 2022 an den Start. Wir verstehen sie nicht als Einbahnstraße, sondern als Autobahn, die in beide Richtungen gehen soll, Richtung Frankreich und Richtung Ostdeutschland.

dokdoc: Frau Pirwitz, die Koordinierungsstelle Ostdeutschland-Frankreich wurde 2023 gegründet. Was hat Sie und Dorothee Röseberg, heute stellvertretende Vorsitzende des Vereins, dazu animiert?

(Copyright: Anne Pirwitz)

Anne Pirwitz: Unser Verein ist etwas Anderes als die Frankreich-Initiative, gleichzeitig aber eng mit ihr verwoben. Ihre Gründung ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. Einerseits auf die persönlichen Erfahrungen vieler Gründungsmitglieder, die bereits zu DDR-Zeiten engen Kontakt nach Frankreich bzw. zur DDR pflegten oder sich nach der Wende in Ostdeutschland oder Frankreich für die bilateralen Beziehungen einsetzten. Ich selbst bin nach der Wende geboren, in Sachsen-Anhalt aufgewachsen und durch Städtepartnerschaften in die deutsch-französischen Beziehungen hineingewachsen. Später wurde ich auch Juniorbotschafterin des Deutsch-Französischen Jugendwerkes: Ich war die erste in diesem Amt für Sachsen-Anhalt. Wenn ich bei deutsch-französischen Veranstaltungen in Westdeutschland oder Frankreich war, stellte ich immer wieder fest, dass ich immer eine der wenigen Ostdeutschen war. Im Studium bin ich dann der Sache nachgegangen und habe viel darüber nachgedacht, warum die Beziehungen zwischen Ostdeutschland und Frankreich anders sind. Gleichzeitig wusste ich, es gibt viele Akteure hier, die etwas machen wollen oder die schon aktiv sind, die aber nicht gut miteinander vernetzt sind. Und so kam die Idee, einen Verein zu gründen, der im gesellschaftlichen Bereich und der Forschung aktiv ist und sich als Ergänzung zu dem aus der Wirtschaft kommenden Impuls versteht. 

dokdoc: Zu DDR-Zeiten war Frankreich für viele ein Sehnsuchtsort; die französische Sprache sehr beliebt. Was bleibt heute davon? Wie blicken heute die ostdeutschen Bundesländer auf Frankreich?

(Copyright: Dirk Schneemann)

Dirk Schneemann: Ich glaube, die eher wichtigere Frage ist nicht, wie blickt Ostdeutschland auf Frankreich, sondern wie blickt Frankreich auf Ostdeutschland, weil es da die größeren Defizite gibt. Sie haben gesagt, Frankreich war zu DDR-Zeiten ein gewisser Sehnsuchtsort. Nach Öffnung der Grenze war Frankreich eines der Länder, die von den Ostdeutschen am stärksten besucht wurden. Das war aber eine sehr einseitige Geschichte. Überhaupt: Die Bewegungen damals gingen mehr von Ost nach West und weniger von West nach Ost. Und was den wirtschaftlichen und politischen Teil betrifft, haben ja alle bundesdeutschen Strukturen mehr oder weniger die ostdeutschen Strukturen entweder abgelöst oder übernommen. Die wenigen Unternehmen, die am Ende blieben, orientierten sich nicht am schwierigen westeuropäischen Markt, sondern suchten ihr Glück in Osteuropa oder Asien. Und das ist mehr oder weniger 30 Jahre nicht aufgefallen.

dokdoc: Warum ist der Raum zwischen Usedom und Erzgebirge 30 Jahre nach der Wiedervereinigung für viele Franzosen ein unbekannter Fleck geblieben?

Dirk Schneemann: Die Zahlen sprechen hier eine klare Sprache. 95 % aller Franzosen, die Deutschland besuchen, gehen nach wie vor nur nach Westdeutschland. Ebenso ist es mit den Niederlassungen französischer Unternehmen. Nahezu alle Zentralen sind „im Westen“ – also auch alle Führungskräfte. Ich habe sehr viele Freunde in Frankreich und habe viele Jahre dort gelebt. Für sie sind Regionen wie Brandenburg, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern tatsächlich ein unbekannter Fleck. Sie spielen keine Rolle in ihrer Wahrnehmung Deutschlands. Aber gerade dort findet die wirtschaftliche Zukunft statt – Energie, Digitalisierung, Halbleitertechnik, Mobilität.

dokdoc: Frau Pirwitz, würden Sie Herrn Schneemann zustimmen?

Anne Pirwitz: Ich weiß von Zeitzeugen aus unserem Verein, dass anfangs niemand ihre Geschichten hören wollte und sich auch die westdeutsch-geprägte Forschungslandschaft kaum für die andere Seite der deutsch-französischen Geschichte, mit einigen Ausnahmen, interessierte. Dabei ist die Aufarbeitung dieser Geschichten wichtig, um die gegenwärtig noch immer bestehenden Unterschiede zu verstehen. Einiges läuft aber ziemlich gut, z.B. die Städtepartnerschaften. Von den heute rund 180 bestehenden Städtepartnerschaften zwischen ostdeutschen und französischen Städten fand fast die Hälfte ihren Anfang vor der Wende. Heute ist für Ostdeutschland Frankreich der wichtigste Städtepartner: Erst danach kommen Polen und Tschechien. Das ist nur in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg ein bisschen anders, da orientieren sich die Städte und Kommunen mehr Richtung Polen. Aber gerade in Mitteldeutschland ist Frankreich ein wahnsinnig wichtiger Partner im Bereich Städtepartnerschaften. Und gerade hier sollte man ansetzen, denn Städtepartnerschaften betreffen die gesamte Bürgerschaft. Insofern bieten sie ein enormes Potential, was noch besser genutzt werden muss.

dokdoc: Die Frankreich-Initiative Ostdeutschland verfolgt einen breitangelegten Ansatz. Was heißt das konkret?

Dirk Schneemann: Nach über 30 Jahren, in denen die deutsch-französischen Beziehungen eigentlich nur westdeutsch-französische Beziehungen waren, befinden wir uns noch in einer „Sensibilisierungsphase“. Es gibt zwar einzelne konkrete Projekte, die sind aber nicht umsetzbar, solange das nicht durch die Köpfe und die Herzen der Leute gegangen ist. Eine großartige Arbeit leistet dabei die französische Botschaft in Berlin – allen voran Botschafter Francois Delattre. Er und sein Team nutzen jede Gelegenheit, das Thema nach vorne zu bringen. Der zweite Punkt ist, dass zu wenig Ostdeutsche nach wie vor in Entscheidungspositionen stehen, um Dinge zu ändern. Ich erinnere an eine Reihe von Formaten, die im sogenannten „deutsch-französischen Dialog“ stattfinden – egal ob in Paris, Berlin oder selbst Genshagen. Es wird zwar zunehmend „über Ostdeutschland und seine Potenziale“ gesprochen – aber es sitzen dabei kaum oder keine ostdeutschen Vertreter auf dem Podium. Es muss vielfach daran gearbeitet werden, nicht was man sagt, sondern wer es sagt

dokdoc: Im Vorfeld des für Juli 2023 geplanten Staatsbesuchs des französischen Präsidenten formulierten die Regierungschefs der ostdeutschen Länder den Wunsch, Macrons Rede in Dresden „sollte Anstoß für neue Akzente in der Zusammenarbeit zwischen den ostdeutschen Ländern und Frankreich sein.“ Nun soll der Staatsbesuch Ende Mai nachgeholt werden, mit – so die Hoffnung – einer Etappe in Ostdeutschland. Was genau erwarten Sie davon?

Anne Pirwitz: In erster Linie ist es wichtig, dass dadurch Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt wird, also sowohl in den ostdeutschen, als auch in den französischen Medien. Das ist für den Anfang auch gut, aber danach müssen konkrete Aktionen zur Förderung der ostdeutsch-französischen Beziehungen folgen und diese erfordern nicht zuletzt auch finanzielle Unterstützung von Seiten beider Staaten – denn ohne finanzielle Unterstützung und nur auf Basis von Ehrenamt lässt sich eben langfristig nicht allzu viel bewirken.

Basteibrücke in der Sächsischen Schweiz (Copyright: Depositphotos)

Dirk Schneemann: Der Besuch ist längst überfällig. Aber was viel wichtiger ist, sind alle Aktivitäten davor und danach: Frau Pirwitz hat es zu Recht betont. Es ist ja nicht so, als gäbe es keine Kontakte auf hoher politischer Ebene. Jede Woche kommt mindestens ein Minister nach Deutschland, manchmal zwei oder drei. Das Problem ist einfach: Sie gehen nicht nach Ostdeutschland. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ein französischer Minister jemals offiziell bei einem Ministerpräsidenten in Dresden, in Erfurt oder auch „nur“ in Potsdam war. Da ist der eigentliche Nachholbedarf und Emmanuel Macron kann und muss hier ein Zeichen setzen.

Sie erwähnten in Ihrer Frage den Beschluss der MPK Ost aus dem Juni 2023. Es gab seitdem verschiedenen Aktivitäten auf Länderebene – besonders in Sachsen und Thüringen. Wichtigstes Ergebnis ist sicherlich die Gründung des Deutsch-Französischen Wirtschaftsklubs Mitteldeutschland mit Sitz in Leipzig. Ende April findet nun das erste Koordinierungs-Treffen der Staatskanzleien zur Umsetzung dieses Beschlusses in der Berliner Landesvertretung von Sachsen-Anhalt statt. Daran sieht man: Beschlüsse sind schön und gut, aber es bedarf immer wieder des Anstoßes und des berühmten Fingers, der in die Wunde gelegt wird. So versteht sich auch gegenwärtig die Initiative. Wir haben fast wöchentlich Gespräche mit Vertretern der Landesregierungen der ostdeutschen Länder und weisen immer wieder darauf hin: Es ist zwar schön, dass Ihr Delegationen nach China, Brasilien und Kanada schickt, aber wann waren Sie das letzte Mal mit einer Delegation in Frankreich? Und wenn ja, wo sind die nachhaltigen Ergebnisse und wer kümmert sich langfristig darum? Das, was in den Ländern läuft, auf kommunaler und zivilgesellschaftlicher Ebene, ist hier unwahrscheinlich wichtig, um ein Grundrauschen zu erzeugen, das dann die Wirtschaft und die Politik dazu anspornt, mehr zu unternehmen.

dokdoc: Nicolas Sarkozy soll einmal gesagt haben: Wer will schon Urlaub in Deutschland machen? Was würden Sie ihm heute antworten?

Anne Pirwitz: Jeder, der neugierig ist und wunderschöne Städte entdecken will, der solle zu uns. Ebenso hat Ostdeutschland traumhafte Landschaften, wie die Seen in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, Gebirge wie den Harz oder die sächsische Schweiz und natürlich die Ostseeküste zu bieten. Eine Französin hat mir mal gesagt, sie habe den Eindruck, in den letzten Jahren seien mehr Franzosen an die Ostsee gekommen: Im Sommer sei es in Frankreich, vor allem in südlichen Regionen einfach zu heiß, an der Ostsee aber hingegen deutlich erträglicher.

dokdoc: Herr Schneemann, wollen Sie ergänzen?

Dirk Schneemann: Alle Franzosen, die einmal hier waren, sind begeistert und kommen wieder. An der Kommunikation dieser Begeisterung muss man arbeiten – vor allem in Frankreich!

Unsere Gäste

Anne Pirwitz ist ehrenamtliche Vorsitzende der 2023 gegründeten Koordinierungsstelle Ostdeutschland-Frankreich e.V. Hauptberuflich ist sie seit 2024 Projektkoordinatorin beim Verein „Neues Potsdamer Toleranzedikt e.V.“ Zuvor war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Romanistik/ Kulturwissenschaft an der Universität Potsdam tätig.

Dirk Schneemann ist Präsident des Deutsch-Französischen Wirtschaftskreises Berlin und Initiator der „Frankreich-Initiative Ostdeutschland“. In Jena geboren und Berlin studiert, verfügt über eine mehr als 35-jährige Erfahrung in den deutsch-französischen Beziehungen – angefangen von der Handelsvertretung der DDR in Paris, Managementstationen in Frankreich und Deutschland bis hin zu verschiedenen Beratertätigkeiten des von ihm 2013 gegründeten Unternehmens euraccess GmbH.

Weiter zum Thema

Claire Demesmay: „In weiter Ferne, so nah: Potenzial und Herausforderungen der ostdeutsch-französischen Kooperation“, Panoramastudie des DFJW, 2022.

Ulrich Pfeil: Die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen. DDR und Frankreich 1949 – 1990, Böhlau, Köln. 2004.

Anne Pirwitz/Dorothee Röseberg: „Frankreich-DDR: zwischen Ideologie, Bücherwissen und persönlichen Begegnungen“, Leibniz Online, 47/2022, 
https://leibnizsozietaet.de/wp-content/uploads/2022/12/LO47.pdf.

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