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Nuklearer Schutzschirm

„Kann Frankreich sicher sein, wenn es Deutschland nicht ist?“

Ein Gespräch mit Eckhard Lübkemeier

Die U-Boot-Waffe als Herz der französischen Abschreckung: Präsident Macron beim Stapellaufs des neuen Atom-U-Boots "Suffren" in Cherbourg (2019) (Copyright: Imago)

29. April 2024

In seiner zweiten Sorbonne-Rede Ende April hat Frankreichs Staatspräsident erneut über die nukleare Abschreckung in Europa gesprochen. Er sei bereit, die Debatte über eine europäische Verteidigung einschließlich Atomwaffen zu eröffnen, so Macron. Sollte Deutschland zugreifen?

Andreas Noll: Herr Lübkemeier, wie wichtig sind die nuklearen Fähigkeiten Europas?

Eckhard Lübkemeier: Sie sind nicht nur wichtig, sondern existenziell. Als Teil der Selbstverteidigung brauchen wir eine nukleare Abschreckungsfähigkeit, weil wir es in Europa mit einem nuklear bewaffneten Aggressor zu tun haben. Russland nutzt dieses Instrument nicht unbedingt zur eigentlichen Kriegsführung, sondern zur politischen Erpressung.

Es ist wichtig zu sehen, dass sich die Ukraine bisher auch deshalb behaupten konnte, weil ihr wichtigster Unterstützer, die USA, nuklear bewaffnet ist. Wäre dies nicht der Fall und Putin stünde nur einer konventionell bewaffneten Koalition (Ukrainer plus Unterstützer) gegenüber, wäre es für die Ukraine sehr viel schwieriger. Moskau muss berücksichtigen, dass Russland einen Krieg führt, an dem ein nuklear bewaffneter Staat nicht direkt, aber indirekt beteiligt ist.  

Noll: Gegenwärtig sorgen die USA mit ihrem Schutzschirm für Abschreckung in Europa. Angesichts einer möglichen Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus wird in Medien und Politik diskutiert, ob Trump diesen Schutzschirm auflösen könnte – oder an Bedingungen knüpfen würde, die die Europäer nicht erfüllen können oder wollen. Welche Rolle spielen dann die Nuklearwaffen der Briten und Franzosen?

Lübkemeier: Franzosen und Briten wären ungleich besser dran als wir, wenn die USA ihr nukleares Schutzversprechen gegenüber Europa zurückziehen würden. Für Frankreich, aber auch für Großbritannien sind eigene Nuklearwaffen die ultimative Lebensversicherung. Sie wollen sich nicht allein darauf verlassen müssen, dass die USA ihr Versprechen nach Artikel 5 des NATO-Vertrages einlösen. Also die Beistandszusage bis hin zum Einsatz von Nuklearwaffen gegen ein Russland, das zu einem nuklearen Gegenschlag in der Lage ist, der das Überleben der USA gefährden könnte.

Das ist der Hauptgrund, warum Frankreich und Großbritannien eigene Atomwaffen haben.  Die Atombombe ist natürlich ein Prestigeobjekt. Das hängt auch mit ihrem Status als ständige Mitglieder im Sicherheitsrat zusammen. Aber wenn es um Sicherheit geht, sind Atomwaffen die ultimative Lebensversicherung.

(Copyright: Eckhard Lübkemeier)

Noll: Welche Einsatzszenarien gibt es für die französischen Nuklearwaffen?

Lübkemeier: Die Franzosen haben mehr als nur die Möglichkeit, mit so genannten strategischen Nuklearwaffen massiv zurückzuschlagen, sollte es zum Beispiel zu einer nuklearen Eskalation mit Russland kommen. Die französische Doktrin sieht ausdrücklich einen so genannten Warnschuss vor. Er soll dem Gegner signalisieren: „Ich bin bereit, die Schwelle zu überschreiten: Ich mache das begrenzt. Das ist immer noch ein Signal an dich, lass uns diesen Konflikt beenden – bevor er zur gegenseitigen Vernichtung führt.“

Mit welchen Mitteln ein nuklearer Warnschuss abgegeben würde, hat Frankreich nicht spezifiziert. Naheliegend ist, dass es sich nicht um U-Boot-gestützte Raketen handeln würde, sondern um die Fähigkeiten des französischen Kampfflugzeuges Rafale – also um nuklear bestückte Marschflugkörper.  

Noll: Könnte Deutschland im Falle einer „Trump-Krise“ von der französischen Nuklearkapazität, der „Force de frappe“, profitieren?

Lübkemeier: Präsident Emmanuel Macron hat in der Vergangenheit mehrfach angeboten, mit Deutschland und anderen europäischen Staaten einen Dialog über die Frage der europäischen Dimension der französischen Nuklearwaffen zu führen. Deutschland hat dieses Angebot bislang nicht aufgegriffen. Dafür gibt es nachvollziehbare Gründe. Aber in einem Szenario, in dem die Schutzzusage der Vereinigten Staaten von Amerika wegfällt, hätten wir eine ganz andere Situation. Und wir dürfen nicht vergessen: Der Bundeskanzler hat einen Amtseid auf das Wohl des deutschen Volkes geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden.

In diesem Zusammenhang habe ich in der FAZ einen „Plan B“ skizziert, den man relativ schnell umsetzen könnte. In einem ersten Schritt würde die Bundesregierung das Angebot von Herrn Macron vertraulich annehmen. So vertraulich, dass in einem Vier-Augen-Gespräch zwischen dem Bundeskanzler und dem französischen Präsidenten geklärt wird, wie ernst es Macron mit seinem Angebot meint. Ein Vier-Augen-Gespräch, von dem die Öffentlichkeit nichts erfährt.

Präsdient Macron erneuerte in der Sorbonne-Rede das Angebot, über eine europäische Abschreckung zu sprechen (Copyright: Imago)

Das ist der erste Schritt. Ein relativ einfacher Test, wie ernst es Paris ist, wäre der Aachener Vertrag, den Deutschland und Frankreich vor fünf Jahren geschlossen haben. Er enthält in Artikel 4 eine Beistandsklausel, die weitaus verbindlicher ist als der NATO-Artikel 5: Man verpflichtet sich, im Falle eines bewaffneten Angriffs auf den Partner diesem mit allen, auch militärischen Mitteln beizustehen. Beide Seiten könnten diesen Artikel 4 nun expliziter fassen, indem sie erklärten, dass zu diesen militärischen Mitteln ausdrücklich auch die französischen Atomwaffen zählen. 

Wenn man das noch unterstreichen wollte, könnte Paris zum Beispiel den deutschen Verteidigungsminister auf einen französischen Atomwaffenstützpunkt einladen. Alles, um ein Zeichen zu setzen: „Wir meinen es ernst“. Damit wären wir natürlich schon im öffentlichen Bereich. Aber zunächst müssten die Grundlagen vertraulich geklärt werden.

Noll: Welches Interesse hätte Frankreich an einem erweiterten Schutzschirm und wie glaubwürdig wäre das?

Lübkemeier: Die Glaubwürdigkeit einer solchen erweiterten Schutzzusage Frankreichs für Deutschland hängt an harten Interessen. Nicht nur an dem, was zwei Staats- und Regierungschefs öffentlich erklären. Und sind die harten französischen Interessen an der Sicherheit der Deutschlands nicht sogar größer als die amerikanischen Interessen an der Sicherheit Deutschlands?

Deutschland grenzt nicht nur an Frankreich, wir sind mit unserem Nachbarn in einer Währungsunion verbunden. Auch wirtschaftlich sind wir mit Frankreich viel enger verflochten als mit den USA, die uns derzeit die nukleare Abschreckung abnehmen. Kann es Frankreich gut gehen, wenn es Deutschland schlecht geht? Ich bezweifle das. Und schließlich: Zwischen Washington und Berlin besteht eine große Machtdisparität, zwischen Frankreich und Deutschland nicht.  Ja, Frankreich ist eine Nuklearmacht und wir nicht, aber Deutschland ist wirtschaftlich und technologisch stärker.  

Hinzu kommt: Würden die USA nicht mehr zu ihrer nuklearen Beistandszusage für ihre NATO-Partner oder für einzelne wie Deutschland stehen, wäre das natürlich auch für Frankreich eine radikale Veränderung seiner strategischen Lage. Denn das würde bedeuten, dass sein Nachbar und engster Partner nicht mehr sicher wäre. Würde sich Paris dann verweigern, Deutschland unter den Schutzschirm der „Force de frappe“ zu nehmen, könnten bei uns Stimmen lauter werden, eine deutsche Bombe zu beschaffen. Könnte Paris das recht sein? Würde selbst eine Präsidentin Le Pen das hinnehmen?

Noll: Müsste sich Deutschland dann nicht auch an der „Force de frappe“ beteiligen?

Lübkemeier: Natürlich, aber nur indirekt. Die Verfügungsgewalt bliebe ausschließlich beim französischen Präsidenten. So wie derzeit beim amerikanischen Präsidenten. Mit diesem Status quo hat Deutschland bisher gut gelebt. Warum sollten wir nicht weiter damit leben können, wenn Frankreich unsere nukleare Schutzmacht wäre?

In einer indirekten finanziellen Beteiligung an der „Force de Frappe“ sehe ich kein Problem. Natürlich hat Frankreich ein solches finanzielles Interesse. Aber ist das ein Hindernis, um am Ende zu sagen: Wir machen das nicht? Wenn wir von den französischen Nuklearwaffen profitieren würden, weil die „Force de frappe“ uns schützen würde, ist es dann illegitim oder unverständlich, wenn Paris sagt: Ja, dann beteiligt euch bitte daran?

Dieses Gespräch ist eine gekürzte Fassung des Franko-viel-Podcastes „Folge 59 XXL – Ungeliebte Bombe – Muss Deutschland unter Frankreichs Atomschirm schlüpfen?“ vom 12. März 2024.

Über den Autor

Eckhard Lübkemeier ist ehemaliger deutscher Botschafter. Der Politikwissenschaftler ist Gastwissenschaftler der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Seine letzte Publikation ist „Die Vermessung europäischer Souveränität. Analyse und Agenda“, SWP-Studie 24/05: https://www.swp-berlin.org/10.18449/2024S05/ .

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