Europawahlen
Eine besondere „Tour de France“
26. Mai 2024
Jean-Marie Magro ist aktuell mit dem Rennrad unterwegs auf einer besonderen „Tour de France“, um das Land und die Seele der Menschen zu erkunden. Er macht Halt bei Politikern, Wissenschaftlern, aber auch an Marktständen. Mit ihm haben wir über die Stimmung in Frankreich gesprochen – wenige Wochen vor den Europawahlen.
Andreas Noll: Jean-Marie, Du bist jetzt im Norden unterwegs. Welche Erfahrung machst Du, wenn Du rechts und links der Strecke schaust?
Jean-Marie Magro: Der Norden ist eine Region, die bekannt dafür ist, dass sie enorm unter der Desindustrialisierung gelitten hat. Was mir Leute vor Ort gesagt haben, ist, dass sehr viele kleine Städte eigentlich überhaupt keine Innenstädte mehr besitzen. Wir sind in den vergangenen Tagen durch Hunderte gefahren und der Leerstand ist wirklich bedrückend.
Noll: Ein Ziel Deiner besonderen „Tour De France“ ist es, Einblicke in die aktuelle Stimmung in Frankreich zu bekommen. Was kannst Du da sagen?
Magro: Wir werden noch viel weiterfahren. Im Norden ging es schon hauptsächlich darum, wie diese Region in den vergangenen Jahrzehnten gelitten hat unter verschiedenen Entwicklungen, die mit der Deindustrialisierung und der EU-Erweiterung aus dem Jahr 2004 verbunden werden.
Einige wissen es schon, aber nochmal für alle: Ich arbeite gerade an meinem ersten Buch. Ich fahre eine Tour de 🇫🇷 und versuche anhand der Route, 🇫🇷 zu erkunden und den 🇩🇪en zu erklären. Wer uns folgen möchte —> Insta @jm_magro
Schöne Grüße aus der „Enfer du Nord“! pic.twitter.com/ANltnvDx27— Jean-Marie Magro (@jm_magro) May 16, 2024
Einige wissen es schon, aber nochmal für alle: Ich arbeite gerade an meinem ersten Buch. Ich fahre eine Tour de 🇫🇷 und versuche anhand der Route, 🇫🇷 zu erkunden und den 🇩🇪en zu erklären. Wer uns folgen möchte —> Insta @jm_magro
— Jean-Marie Magro (@jm_magro) May 16, 2024
Schöne Grüße aus der „Enfer du Nord“! pic.twitter.com/ANltnvDx27
Noll: Die Angst vor dem polnischen Klempner. Das war die Symbolfigur damals, die gibt es immer noch, oder?
Magro: Ja, die gibt es noch. Ich war heute in einer Textilfabrik, die im Jahr 2020 mitten in der Pandemie eröffnet hat. 150 Menschen wurden innerhalb kürzester Zeit zusammengetrommelt, um Masken zu produzieren. Das Bemerkenswerte daran ist, dass das Projekt stark auf Inklusion setzen sollte: Arbeiter, die 20, 30 Jahre vorher in der Textilindustrie beschäftigt waren und ihren Job verloren hatten, wollte man auf diesem Weg wieder in den Arbeitsmarkt integrieren. Auch Jüngere sollten davon profitieren. Heute hat diese Firma nur noch 30 Mitarbeiter. Wie kann das sein? Die Antwort darauf ist: Du kannst versuchen, diese Regionen zu reindustrialisieren, Du wirst aber nie im Leben ankommen gegen Taschen, die in Usbekistan, China oder Bangladesch gefertigt werden. Die Lohnkosten, erzählte man mir, machen alleine 30% der gesamten Produktionskosten aus. In Usbekistan wird dieser Anteil viel kleiner sein. Ich habe vor meiner Reise mit Bertrand Badie, dem emeritierten Professor für internationale Beziehungen an der Sciences Po in Paris, gesprochen. Der sagte: Deutschland sei eine globalisierte Kraft und Frankreich habe nie gelernt, mit der Globalisierung umzugehen. Das finde ich sehr zutreffend.
Noll: Entsprechend sind ja auch die Proteste gegen Globalisierungsprojekte in Frankreich immer deutlich größer. Drei Wochen sind es jetzt noch bis zur Europawahl. Wie viel Wahlkampf erlebst Du gerade in Frankreich?
Magro: Ich finde das wirklich bemerkenswert. Die Frage freut mich insofern, weil ich gerade aus Deutschland losgefahren bin und da einen ganz anderen Wahlkampf erlebt habe. Ich möchte da vor allem die Betonung auf das Wort „sehen“ legen, weil wir in Deutschland noch immer sehr viele Plakate kleben, während ich in den Orten, in denen ich bisher unterwegs war, nur zwei Plakate gesehen habe.
Noll: Zwei Jahre sind es jetzt her seit der Wiederwahl von Emmanuel Macron und der Wahl des neuen Parlaments. Macht man jetzt als Franzose nochmal Bilanz?
Magro: Ich würde wagen, eine Parallele aufzumachen, wenn auch der Vergleich an einigen Stellen hinkt. Aber das, was die Europawahlen für Frankreich sind, sind die Midterms in den USA. Es sind eigentlich die letzten landesübergreifenden Wahlen, bei denen man dem Präsidenten eine Watsche verpassen kann.
Noll: Der Rassemblement National war bei der letzten Europawahl schon auf Platz eins. Nun liegt er bei 32%, 15 Punkte vor der Partei von Staatspräsident Macron. Wie blicken die Menschen, mit denen du gesprochen hast, auf diese Partei?
Magro: Vielleicht muss ich ein bisschen weit ausholen. Meine Familie kommt aus dem Var, einem Departement, das sehr stark mit dem Front National bzw. dem Rassemblement National verbunden wird. Mit meinen Großeltern – unglaublich liebenswerte Menschen, die ich mit niemandem tauschen möchte, die aber schon starke rassistische Vorurteile mit sich trugen – habe ich oft gestritten. Aber wenn ich etwa meine Großmutter auf den FN ansprach, sagte sie mir jedes Mal: „jamais je ne voterais pour les extrêmes, jamais“. Ich habe den Eindruck, dass diese Generation langsam wegstirbt und dass der RN sich jetzt ganz breit gemacht hat, in Wählermilieus, die lange für ihn unerreichbar schienen, nicht zuletzt den Gewerkschaften.
Noll: Und wie erklärst Du es Dir?
Magro: Ich habe in Paris mit Arié Alimi gesprochen, einem in Frankreich bekannten Anwalt jüdischen Glaubens. Er meinte, für ihn war der Knackpunkt, als Serge und Beate Klarsfeld im Oktober 2022 nach Perpignan reisten und Louis Aliot, dem rechtsextremistischen Bürgermeister der Stadt, die Hand geschüttelt haben. Da war für ihn an diesem Punkt klar, sogar bei der jüdischen Gemeinde ist der RN inzwischen angekommen.
Noll: Kommen wir von Platz eins zum umkämpften zweiten Platz. Im Moment sieht es so aus, als würde die Präsidentenpartei Renaissance diesen zweiten Platz erringen mit einer eher unbekannten Spitzenkandidatin, Valerie Hayer. Was kann man über sie sagen?
Magro: Dass sie nicht wahrgenommen wird, das merkt man vor allem daran, dass sich Gabriel Attal immer mehr in den Wahlkampf einschaltet. Selbst Emmanuel Macron hat vor kurzem vorgeschlagen, mit Marine Le Pen zu debattieren. Macron hätte jemanden vom Rang auswählen sollen, so wie es 2019 mit Nathalie Loiseau der Fall gewesen war. Ob das am Ende einen Unterschied gemacht hätte? Denn eigentlich geht es nur um eins: die Bilanz des Präsidenten und seine Ukraine-Politik – ein Thema, das den Menschen Angst macht. Jordan Bardella braucht nur aufs Land zu fahren, Hände zu schütteln und den Leuten zu sagen: Ihr habt Recht mit eurer Wut. Damit saugt er einfach die Emotionen vor Ort auf. Gegenvorschläge braucht er nicht zu machen.
Noll: Bardella hat keine Bilanz zu verteidigen. Das trifft auch auf die andere Partei zu, die um Platz zwei kämpft, die Parti Socialiste. Die Partei galt eigentlich als klinisch tot und nun sehen die Umfragen deren Spitzenkandidaten Raphaël Glucksmann bei mehr als 14%. Hast Du dafür eine Erklärung?
Magro: Jetzt kommen wir auf die Hyperpersonalisierung der französischen politischen Kultur zu sprechen. Sowohl Gluckmann als auch Bardella kommen mit ihrer Persönlichkeit gut an. Bardella wird nicht selten als „gendre idéal“ bezeichnet, als der ideale Schwiegersohn. Glucksmann wird, glaube ich, für seine Authentizität und sein ruhiges Auftreten geschätzt.
Noll: Wobei ein französischer Politikwissenschaftler mir neulich gesagt hat, Glucksmann sei eigentlich kein professioneller Politiker, sondern ein Intellektueller, er sei ein Utopist.
Magro: Absolut. Ich würde zum Beispiel bezweifeln, dass Gluckmann in den ländlichen Regionen Frankreichs so großen Anklang findet, wie das in Paris, Bordeaux, Straßburg und auch in anderen Großstädten der Fall ist.
Noll: Schauen wir jetzt auf die Institution EU, auf das Europaparlament. Welches Bild haben die Franzosen von der EU?
Magro: Die Franzosen wissen viel weniger über die EU als die Deutschen. Ich war einmal bei einer Reise für junge Journalisten in Paris, kurz vor der Stichwahl 2022. Und da hat mir jemand, der für TF1, den ersten Fernsehsender in Frankreich, arbeitet, erklärt: Wir haben niemanden in Brüssel, der über europäische Belange berichtet. Das interessiert kein Schwein. Diese Verantwortung, die müssen sich auch Medien auf die Brust schreiben.
Bei diesem Interview handelt es sich um eine gekürzte Fassung des Franko-viel-Podcastes Folge 62 – Tour de France – Der Europawahlkampf in Frankreich – Franko-viel – Der Frankreich-Podcast (podigee.io) vom 18. Mai 2024.
Der Autor
Jean-Marie Magro ist in München geboren und Sohn einer deutschen Mutter und eines französischen Vaters. Er wuchs in der bayerischen Landeshauptstadt auf, studierte Volkswirtschaft und besuchte die Deutsche Journalistenschule. Er arbeitet als Hörfunkreporter in der Politikredaktion des Bayerischen Rundfunks. In Reportagen, Features und Interviews berichtet er vor allem über Themen der Außenpolitik mit besonderem Augenmerk auf Frankreich.
Dieses Interview ist Teil eines Projektes des Frankreich-Podcasts Franko-viel, des Institut français Aachen und des Aachener EUROPE DIRECT Informationszentrums: April bis Juni: Europawahl – Themen, Fragen, Entscheidungen-Diskussion (europedirect-aachen.de)
Mit Unterstützung der Landesinitiative Europa-Schecks des Ministers für Bundes- und Europaangelegenheiten, Internationales sowie Medien und Chef der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen