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D-Day

Ein gewaltiges Gefühl von Ewigkeit

Pierre-Yves Le Borgn’

Omaha Beach (Copyright: Pierre-Yves Le Borgn’)

10. Juni 2024

Auf Einladung von Staatspräsident Emmanuel Macron nahm Pierre-Yves Le Borgn‘ an den Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des D-Day in der Normandie teil. Er berichtet für dokdoc.

Sie kamen einer nach dem anderen herein, mit Barett oder Mütze auf dem Kopf, geschoben in ihren Rollstühlen. Sie lächelten, waren sichtlich gerührt, einige richteten kleine, schüchterne Gesten in Richtung der Menge, die sie mit immer lauteren Ovationen feierte. Einige wollten langsam und behutsam zu den neben den Präsidenten, Königen, Königinnen und Premierministern auf sie wartenden Sesseln gehen, an den Platz, den sie verdienten. Über dem Ärmelkanal, über dem Meer, über das sie 80 Jahre zuvor in einer Feuersbrunst gekommen waren, schwebte ein gewaltiges Gefühl von Ewigkeit. Danke, danke, was kann man diesen heute Hundertjährigen aus den USA, Kanada und Großbritannien, den bescheidenen und mutigen Akteuren eines der größten Momente der Weltgeschichte, noch Stärkeres zurufen? Unser Applaus wog mehr als alle Worte. Sie waren damals gerade einmal 20 Jahre alt. Sie kannten die normannische Erde nicht, die sie befreien sollten, und danach Frankreich und Europa. Kannten sie sich überhaupt untereinander, als sie Schulter an Schulter auf den Schiffen standen, die sie im Sturm, Wind und Regen des 6. Juni 1944 in den Kampf und in ihr Schicksal führten? Sie waren Waffenbrüder, zu Zehntausenden, Soldaten der Freiheit, getrieben von der Pflicht und von einem gemeinsamen Ideal. Sie waren dabei, Geschichte zu schreiben.

Die letzte dieser Art

Auf der Tribüne wurde ich, wie viele andere auch, von Emotionen ergriffen. Diese Gedenkfeier zum 6. Juni war nicht wie all die vorherigen: Es war zweifellos die letzte, bei der die Überlebenden der Landung die von ihnen befreite Normandie betreten würden. Sie wussten es, wir wussten es. Es war ein Abschied, ihr Abschied, unser Abschied. Es war nicht traurig, sondern schön, eine Schönheit, die von Feierlichkeit und Hoffnung erfüllt war. Die Lieder, die Choreographie, die Reden sprachen von der Dankbarkeit Frankreichs und der Welt. Da war die Jugend der Kinder, die ganz in Weiß gekleidet waren, tanzten und sangen, nur zwei Schritte von ihnen entfernt.

Omaha Beach (Copyright: Pierre-Yves Le Borgn’)

Da waren die Blicke, die auch ohne Worte so viel sagten. Es gab auch und vor allem diese letzten mobilisierte Kräfte, die für drei von ihnen nötig waren, um aufzustehen und aufrecht zu stehen: Sie hatten am Omaha Beach gekämpft und nahmen nun den Orden der Ehrenlegion aus den Händen von Staatspräsident Emmanuel Macron entgegen. Ed Berthold verlas den Brief, den er am Tag nach dem 6. Juni 1944 an seine Mutter geschrieben hatte. „We have done extraordinary things“, hieß es da. Nichts war treffender als diese Worte, nichts war wahrer. All das geschah vor langer Zeit und war doch präsent wie gestern, weil die Freiheit kostbar ist, der Frieden ein gerechter und gemeinsamer sein muss, wenn er Bestand haben soll, und weil totalitäre Ideologien, selbst wenn sie besiegt sind, immer bestehen bleiben.

Übergabe des Staffelstabs

In Freiheit zu leben – es gibt kein edleres, universelleres Anliegen. Aber teilen es auch alle? Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt, 80 Jahre nach dem 6. Juni 1944. In der langen, bewegenden und spontanen Umarmung zwischen Melvin Hurwitz, Veteran der 8. Luftlandedivision, und Präsident Volodymyr Zelensky gab es so etwas wie die Übergabe des Staffelstabs von Zeitzeuge zu Zeitzeuge. Der Hundertjährige ermutigte den Vierzigjährigen, sprach ihm seine Bewunderung, seine Hoffnung aus und betete, die Ukraine möge siegen und ihre Souveränität zurückgewinnen. Das muss auch geschehen. Denn die Unterwerfung eines Volkes ist nicht Freiheit, die Abwesenheit von Recht ist nicht Freiheit und Diktatur ist nicht Freiheit. Der Kampf für die Freiheit ist in Wahrheit nie endgültig gewonnen. Er ist notwendigerweise ein Kampf der Waffen mit der Unterstützung unserer europäischen Nationen. Aber es muss auch der Kampf der Ideen, der Bildung, der Überzeugungen und des Bürgersinns sein. Man kann die Geschichte nicht relativieren, vergessen oder sich weigern, sie zu lernen. Das Gedenken an den 6. Juni 1944 bedeutet, Generationen später zu wissen, woher man kommt. Es bedeutet zu lernen, dass die Erinnerung eine Bürgerpflicht ist und dass man sie in Ehren halten muss. Es bedeutet, zu wissen, was der Nationalsozialismus ist, sich an den Holocaust zu erinnern und den offenen und latenten Antisemitismus für immer zu ächten. Wir sind alle Kinder der Landung der Alliierten“, sagte Emmanuel Macron am 6. Juni. Ja, das sind wir.

Man gibt Putin nicht ungestraft die Hand

Wir sind auch Kinder Europas. Die Ode an die Freude ertönte am Omaha Beach und wurde in mehreren Sprachen intoniert. Die europäische Flagge wehte über dem Meer. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz war zugegen. Es waren auch der Frieden und die Versöhnung, die wir feierten. Ein Gedicht von Friedrich von Schiller, eine von Ludwig van Beethoven komponierte Symphonie, eine Ode aus Deutschland, die zur europäischen Hymne wurde – es gibt kein besseres Symbol. Europa schuf Frieden durch das Recht. Und dieses Europa gilt es zu verteidigen. Nicht weit von mir auf der Tribüne saßen die allseits bekannten Vertreter der Parteien, die Europa bekämpfen. Ich würde mir gern vorstellen, dass sie aus Überzeugung applaudierten. Ich bin mir da nicht so sicher. Man gibt Putin nicht ungestraft die Hand. Man beschreibt den Antisemitismus nicht ohne Hintergedanken als „marginales Phänomen“. Insbesondere die Jugend erlernt, ertastet und erlebt Europa auch dank solcher Gedenkfeiern. Europa ist unser gemeinsames Schicksal, dieses Ideal, das der mit Millionen von Toten errungene Frieden ermöglicht hat, dieses von den Kämpfern des 6. Juni 1944 erhaltene Vermächtnis, das wir weitergeben müssen. Das ist das Versprechen, das wir ihnen vor wenigen Tagen gegeben haben.

Stehende Ovationen ertönten, die Marseillaise wurde abgesungen, und der Beifall wollte nicht abklingen. Die Zeremonie endete, der blaue Himmel hatte die Wolken aufgerissen und die Sonne kam heraus. Die Veteranen des 6. Juni 1944 gingen langsam ab und winkten der Menge zu. Ich ging an einigen von ihnen vorbei. „Thank you, Sir“, sagte ich. Mir fehlten die Worte, meine Kehle war vor Aufregung wie zugeschnürt. Ich wollte kein Foto machen. Ich wollte einfach nur, bescheiden und intensiv, ihre Gesichter, ihre Blicke in mich aufnehmen und sie für immer in Erinnerung behalten. Ich wusste, was für ein großes Privileg es war, dabei zu sein. Ich weiß, was der Kampf für die Freiheit bedeutet. Meine Familie hat, wie viele andere, den Preis dafür bezahlt. Meine Dankbarkeit gegenüber der Welt der Kämpfer ist ewig. Ich werde weder den 6. Juni 1944 noch den 6. Juni 2024 vergessen. Als ich zu meinem Bus ging, schaute ich auf den Ärmelkanal. Am Strand lagen zwei gestrandete Lastkähne. Und in der Ferne waren Kriegsschiffe zu sehen. Wie vor 80 Jahren. Am Himmel waren noch die Spuren der Trikolore der Patrouille de France zu sehen. Ein Veteran suchte den Horizont ab, ohne sich zu bewegen, um sich zu erinnern, für die Zeit, die noch bleibt. Es war ein bewegendes Bild. Ich blieb einen Moment lang bei ihm. Einen Augenblick, eine Ewigkeit, eine Geschichte, ihre und unsere. In der Ferne läuteten die Kirchenglocken. Es war gestern. Es wird morgen sein. Das sind wir ihnen schuldig.

Die französische Version dieses Beitrags erschien am 7. Juni auf dem Blog von Pierre-Yves Le Borgn‘.

Übersetzung: Norbert Heikamp

Der Autor

Pierre-Yves Le Borgn’ (Copyright: Pierre-Yves Le Borgn’)

Pierre-Yves Le Borgn‘ war von 2012 bis 2017 Abgeordneter für die im Ausland lebenden Franzosen und Vorsitzender der deutsch-französischen Parlamentariergruppe in der Nationalversammlung. Er war Berichterstatter für das Gesetz zur Ratifizierung des Pariser Klimaabkommens und gehörte dem Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten und der Parlamentarischen Versammlung des Europarats an, wo er Berichterstatter für die Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte war. Heute arbeitet er in einem kleinen französischen Unternehmen im Bereich der Energiewende und ist weiterhin als Redakteur und Lehrer tätig. Pierre-Yves Le Borgn‘ hat einen Abschluss in Rechtswissenschaften, ein Diplom des Institut d‘études politiques in Paris und einen LLM des Europakollegs in Brügge.

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