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Europäische Union

Sorgenkind Europa

Bernd Saur

© Unsplash, Sara Kurfeß

26. Mai 2020

Ein Jahr nach der Europawahl ist die Aufbruchstimmung in Ernüchterung umgeschlagen. Das Projekt Europa bleibt ein Sorgenkind. Wird Europa trotz der jüngsten „Mercron“-Initiative scheitern?

Die Wahl zum Europäischen Parlament am 26. Mai 2019 blieb nicht zuletzt deshalb in guter Erinnerung, weil ein befürchtetes Erstarken nationalistischer Kräfte ausblieb. Im Kontext des Brexit-Geschehens war dies ein wohltuendes Signal dafür, dass die überwiegende Mehrheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger für ihr eigenes Land keinen Rückzug in nationale Abschottung wünschten.

Politische Offensive

Nach ihrer etwas holprigen „Inthronisation“ ging die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen denn auch mit Entschlossenheit ans Werk. Für vier Politikfelder wurde seither eine Offensive angekündigt:

Kampf gegen den Krebs, Kampf gegen den Klimawandel, Digitalstrategie inklusive Künstlicher Intelligenz sowie eine Migrationsstrategie.

Angesichts der Corona-Epidemie, die die ganze Welt im Würgegriff hält, ist derzeit wenig bis nichts zu hören von konkreten Schritten zur Umsetzung dieser Offensiven. Und das, was geschieht, wirft ein Licht auf den inneren Zustand des europäischen Staatenbündnisses.

Von den etwa 1600 unbegleiteten Flüchtlingskindern in den überfüllten griechischen Lagern haben inzwischen Luxemburg 12 und Deutschland rund 50 aufgenommen. Nur 10 der 27 EU-Staaten sind überhaupt bereit, solche Kinder und Jugendlichen aufzunehmen. Weit mehr als die Hälfte der Mitgliedsstaaten ist nicht einmal bereit, sich einer Koalition der Willigen für Kinder und Jugendliche anzuschließen, von einer fairen und vorgabenkonformen Lastenverteilung beim Gesamtkomplex Migration ganz zu schweigen.  

Reizthema Eurobonds

Während die Brexit-Folgen noch lange nicht abzusehen sind, weil ein tragfähiger Deal ungewiss ist, hat ein neues Reizthema coronabedingt Konjunktur. Es ist die Frage sogenannter Eurobonds, also im Grunde die Idee einer Gesamthaftung für die jeweiligen Schulden aller Mitgliedsländer. Es ist insbesondere Italien, vertreten durch seinen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte, das angesichts der in seinem Land besonders stark grassierenden Corona-Epidemie von den „lieben deutschen Freunden“ („cari amici tedeschi“) fordert, nun doch endlich ihren Widerstand gegen Eurobonds aufzugeben.

In tage- und nächtelangen Sitzungen hat die EU Mitte April 2020 ein Hilfspaket zur Bewältigung der Corona-Folgen mit einem Volumen von 500 Milliarden Euro geschnürt. Da jedoch die gewünschten Eurobonds nicht dabei sind, weigert sich Italien, diesen Topf zu nutzen. Diese Trotzreaktion veranlasst manche zu der Feststellung, so dringend könne der Finanzbedarf Italiens dann wohl nicht sein. CDU-Politiker Friedrich Merz unterstellt Italien, die Corona-Krise zum Zwecke der Durchsetzung von Eurobonds zu instrumentalisieren, was ihm heftige Kritik einbrachte.

Während die einen die Nichtgewährung von Eurobonds als mangelnde europäische Solidarität geißeln, sehen die Niederlande, Österreich und Deutschland keine Veranlassung für eine Vergesellschaftung von Schulden einzelner Mitgliedsstaaten in einem Staatenbund, in dem es möglich ist, dass einzelne Länder nach Belieben das Recht mit Füßen treten (Polen) bzw. ihr Land in eine Diktatur verwandeln (Ungarn).

Springt der deutsch-französische Motor wieder an?

Mit einer Bazooka-Maßnahme überraschten Angela Merkel und Emmanuel Macron am 18. Mai 2020, als sie in einer virtuellen deutsch-französischen Pressekonferenz ein 500 Milliarden-Aufbauprogramm für die europäischen Volkswirtschaften vorschlugen (27. Mai: die EU-Kommission schlägt 750 Milliarden vor). Diese gewaltige Summe soll als Schulden am Kapitalmarkt aufgenommen und über den EU-Haushalt ausgegeben werden. Besonders stark von der Pandemie betroffene Staaten sollen Geld als Direktzuwendungen bekommen und nicht als Kredit. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten: Österreich, Dänemark, Schweden und die Niederlande erklärten schnell, dass man kein Geld verschenken wolle, ein derartiges Programm könne nur über Kredite abgewickelt werden. Der EU dürfte in den kommenden Wochen ein zähes Ringen um einen Kompromiss bevorstehen – unter enormem Zeitdruck, denn auf Europa kommt die schwerste Rezession ihrer Geschichte zu.

Bemerkenswert ist im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie im Übrigen, dass wenn es hart auf hart kommt, EU-Staaten kurzerhand panisch ihre Grenzen schließen, so wie Mitte März 2020. Wenn z. B. in Deutschland und in Frankreich dieselben Maßnahmen gegen eine weitere Verbreitung des Virus verfügt und deren Einhaltung kontrolliert würden, so brächte eine für viele schikanöse Grenzschließung nicht den geringsten Nutzen und erwiese sich als obsolet. Stattdessen regierte Misstrauen. Eine ernüchternde Erkenntnis.

Mitte Mai stellte zudem das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Rechtmäßigkeit der milliardenschweren EZB-Anleihekäufe in Frage und wies den Deutschen Bundestag an, binnen einer Dreimonatsfrist die Verhältnismäßigkeit dieser Transaktionen nachzuweisen. Ob man – wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble – deshalb gleich den Euro in Gefahr sehen muss, sei dahingestellt. Um ein zusätzliches Problem für die EU handelt es sich allemal.   

Europäische Grundwerte in Gefahr

Ursula von der Leyen hat eine schwierige Aufgabe übernommen. Die Euphorie, mit der sie ihr Amt antrat, dürfte längst Ernüchterung, vielleicht sogar Enttäuschung gewichen sein. Die Baustellen der EU werden weder weniger noch werden sie kleiner. Angesichts der enormen Probleme, mit denen sich die EU konfrontiert sieht, werden auch die europakritischen Stimmen wieder lauter. Eine Verpflichtung aller Mitgliedsstaaten der EU auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, faire und solidarische Lastenverteilung, solide und verantwortbare Haushaltsführung sowie ehrgeizige Klimaziele sind für die Legitimation der Gemeinschaft unabdingbar.

Jedes Land muss etwas beitragen, damit am Ende alle davon profitieren. Diese Grundidee Europas gilt es zu wahren, um die Gemeinschaft nicht als Ganzes zu gefährden – und Europa vollends ins Wanken gerät. Notfalls mit rigorosen und entschiedenen Schritten.

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