Talking Europe
Wir müssen reden!
27. Oktober 2020
Die App Talking Europe verbindet über einen Algorithmus Menschen in ganz Europa. Seit 2019 bringt die Plattform für digitalen Austausch Meinungsblasen zum Platzen. Organisationen wie das Deutsch-Französische Jugendwerk nutzen das Tool mit Erfolg für eigene Kanäle.
Es ist eine Zeit der Herausforderungen: Die Corona-Krise hält Europa und die Welt nach wie vor in Atem. Nicht nur der jüngste EU-Gipfel vom 17. bis zum 21. Juli 2020 in Brüssel hat gezeigt: Mehr als je zuvor besteht in Europa das Bedürfnis nach Austausch, sei es über die Auswirkungen von Corona, europäische Strukturen und Prozesse, bürgerliche Freiheiten, die Klimakrise oder Zukunftsperspektiven.
Neue Wege für den Austausch
Um auf dieses Bedürfnis einzugehen und mit dem Ziel, Diskussionen und Engagement zu fördern, testete das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW) einen eigens für den deutsch-französischen Austausch angelegten Kanal auf der europäischen Plattform Talking Europe. „Wir wollten wissen, wie sich die Jugend heute mit europäischen Themen auseinandersetzt,“ so Florence Batonnier vom DFJW. „Gerade nach dem coronabedingten Lockdown war es uns wichtig, neue Wege für den deutsch-französischen Austausch zu finden.“
Die Plattform selbst gibt es seit April 2019. Im Zuge der Europawahl vom 26. Mai 2019 initiierte der gemeinnützige Verein Diskutier Mit Mir gemeinsam mit dem französischen Partnerverein Vote&Vous das europäische Netzwerk Talking Europe. Ähnlich wie die deutschlandweite App, mit der der Diskutier Mit Mir schon zu den Bundestagswahlen 2017 bekannt wurde, funktioniert Talking Europe mithilfe von Algorithmen.
Aufbauend auf fünf Antworten zu europapolitischen Statements, sorgt ein Match-Algorithmus dafür, Gesprächspartner aus einem anderen europäischen Land zu finden, deren politische Ansichten den eigenen widersprechen. Eine dieser Ausgangsthesen kann zum Beispiel sein: „Eine Quote sollte festlegen, dass mindestens 20 Prozent der Abgeordneten im Europaparlament jünger als 30 Jahre alt sein soll.“ Darüber hinaus kann man entweder seine politische Einstellung angeben oder aber die Partei anklicken, durch die man sich am besten repräsentiert fühlt. Das Übersetzungstool deepl.com ermöglicht dabei eine Echtzeit-Übersetzung der anonymen 1:1 Chats, sodass die Teilnehmenden in ihrer jeweiligen Muttersprache diskutieren können.
Raus aus der Blase, rein in die Diskussion
Sabine Mehnert, seit Januar 2020 Projektleiterin von Talking Europe, erklärt: „Die Grundidee war, die sogenannten Filterblasen, von denen man vor allem in sozialen Netzwerken häufig spricht, zum Platzen zu bringen. Im Grunde geht es aber vor allem um politische Meinungsbildung.“ Talking Europe schafft dafür sichere und anonyme digitale Räume, in denen man aus seiner Meinungsblase heraustreten kann. Man darf über alle im Raum stehenden Themen diskutieren oder vorbereitete Statements zur Diskussion stellen. „Datenschutz ist uns dabei sehr wichtig“, so Sabine Mehnert. „Die Chats werden von uns nicht eingesehen und finden komplett anonymisiert statt. Man muss sich noch nicht einmal registrieren, um mitdiskutieren zu können. Es gibt auch keine Pflicht, den eigenen Namen oder andere persönliche Angaben preiszugeben.“
Kein Publikum, keine Trolle
Wer beleidigt oder verbal angegriffen wird, kann dies melden; nach dreimaliger Meldung erfolgt eine Sperrung. Dies sei aber, so Sabine Mehnert, bisher nur sehr selten vorgekommen. Louis Klamroth, einer der vier Gründer von Diskutier Mit Mir bestätigte das in einem Interview mit „Das Netz“ Ende 2018: „Die Auswertung unserer bisherigen Arbeit zeigt: Die 1:1-Chats von Diskutier Mit Mir sind kaum attraktiv für Trolle und es kommt seltener zu Hate Speech, da der Dialog in geschützten Räumen ohne Publikum stattfindet.“
Um den Austausch mit möglichst vielen verschiedenen Ansichten zu ermöglichen, sind die Chats zeitlich begrenzt. Bislang endet eine Diskussion nach sieben Tagen – die ggf. auf 30 Tage erweitert werden sollen. Nach technischen Erweiterungen soll die Plattform in Zukunft auch für pädagogische Zwecke einsetzbar sein und über den 1:1-Chat hinausgehen. Dann könnte Talking Europe auch im Rahmen europäischer Jugendbegegnungen eine Rolle spielen. Für das Deutsch-Französische Jugendwerk war der erste Test eines deutsch-französischen Kanals jedenfalls ein voller Erfolg. 1150 Teilnehmende aus 40 Ländern haben in den ersten sieben Wochen ihre Filterblase verlassen, 85 Prozent davon kamen aus Deutschland und Frankreich.